James Carlos Blake – Red Grass River

In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts tobt in den Sümpfen Floridas eine erbitterte Familienfehde zwischen Schwarzbrennern und Gesetzeshütern, die sich zu regelrechten Kriegen mit rivalisierenden Gangsterbanden ausweitet und für außerordentliche Opferzahlen sorgt … – Großartige Mischung aus Historien-Roman und Thriller. Handlung, Figuren, Landschaftsdarstellung (und Übersetzung): alles vom Feinsten. Hinzu kommt eine erstaunliche atmosphärische Dichte, was „Red Grass River“ insgesamt zu einer der sicherlich besten Neuerscheinungen des Jahres aufwertet.

Das geschieht:

„Old Joe“ Ashley haust mit seiner kopfstarken Familie in den Sümpfen Südfloridas. Anfang des 20. Jahrhunderts zählen sie zu den „Crackern“, sind arm, ungebildet und notorisch kriminell. Lange beschränken sich ihre diesbezüglichen Aktivitäten auf das Brennen und Schmuggeln von Schnaps. Als John, einer der Ashley-Söhne, von einem angetrunkenen Indianer-Kunden attackiert wird, bringt er diesen in Notwehr um.

Damit beginnt ein Leben im Untergrund. Aufgrund seiner Ortskenntnis weiß sich John in den Sumpfwäldern zu verstecken. Das Gesetz ist machtlos bzw. wenig interessiert, weil gut geschmiert. Joe Ashley bringt das Schnapsgeschäft auf ein nie gekanntes Niveau, als in den USA 1919 die Prohibition verkündet wird und Alkohol nicht mehr verkauft werden darf. John macht sich darüber hinaus einen Namen als Bankräuber. Er formiert eine kleine, schlagkräftige Bande und terrorisiert Südflorida.

Parallel dazu entwickelt sich eine lebenslange Fehde zwischen den Ashleys und den Sheriffs George und Bobby Baker. Vor allem Bobby und John werden Todfeinde, die einander zu vernichten versuchen. Zwar gerät John immer wieder in Gefangenschaft, doch er flüchtet und taucht dort unter, wohin ihm niemand zu folgen wagt.

Bald lockt die durstige Bevölkerung das organisierte Verbrechen aus New York und Chicago nach Florida. Joe Ashley fordert Tribute und beschwört damit einen Gangsterkrieg herauf, der mit unbarmherziger Gewalt geführt wird. Die Ashleys behaupten sich, doch allmählich wendet sich die Stimmung gegen sie: Galten sie bisher als moderne Robin Hoods, die nur die Reichen bestehlen, sorgen die vielen Morde für allgemeine Angst. Bobby Baker gibt nicht auf, und an einem Spätherbsttag des Jahres 1924 kommt es zum finalen Duell …

Die Realität schlägt wieder einmal die Fiktion

Das ist eine Aussage, die man in diesem Fall relativieren muss: Obwohl sich James Carlos Blake auf einen realen Kriminalfall stützt, setzt er nicht nur Tatsachen um, sondern benutzt und verfremdet sie mit schriftstellerischem Talent, um einen Roman zu schreiben, der sich der Realität nicht verpflichtet fühlt, sondern sich ihrer bedient, um eine zwar alte, aber jederzeit relevante Geschichte von Liebe & Hass zu erzählen.

Auch heute gehen die USA in Sachen Strafverfolgung ihren eigenen Weg. Er wird weniger durch Sühne, sondern durch Vergeltung geprägt. Früher kam durchaus nackte Gewalt hinzu. Während nicht gänzlich geklärt ist, ob John Ashley und seine Bande am 1. November 1924 von den Beamten, die sie gestellt und verhaftet hatten, einfach ‚hingerichtet‘ wurden, steht eindeutig fest, dass Clyde Barrow und Bonnie Parker am 23. Mai 1934 vorsätzlich in einen Hinterhalt gelockt und buchstäblich in Stücke geschossen wurden, nachdem es der Polizei nicht gelingen wollte, sie zu stellen, weshalb sie kritisiert und verspottet wurde: Zwischen Vergeltung und Rache ist die Grenze schmal und durchlässig.

Die ‚offizielle‘ Gewalt trat in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg noch wesentlich unverhohlener auf. Noch gab es viele weiße Flecken, in denen das Gesetz (oder der Fortschritt oder gar die Menschenrechte) kaum präsent waren. Der US-Staat Florida stand weit oben auf dieser Liste. Heute würde man das kaum vermuten; die Sümpfe stehen – soweit es sie noch gibt – unter Naturschutz und werden touristisch erschlossen, und in den Großstädten ist das 21. Jahrhundert so präsent wie in jeder anderen Metropole dieser Erde. Doch als die Ashleys und die Bakers in Fehde lagen, waren die Sümpfe Florida eine Wildnis, die einerseits als Hölle für ganz besonders kriminelle Sträflinge genutzt wurde, während sie andererseits denen einen perfekten Schlupfwinkel boten, die sich dort auskannten und untertauchen mussten.

Fortschritt schließt das Verbrechen ein

Meisterhaft verknüpft Autor Blake die Geschichte zweier verfeindeter Familien mit der Geschichte Floridas. Der Ursprung des Booms, der diesen Staat zu globaler Geltung brachte, liegt in jenen Jahren, die Blake als Hintergrund für seinen Roman dienen. „Red Grass River“ ist in jeder Hinsicht mehr als ein Historien-Thriller: Es geht um historische Entwicklungen ebenso wie um zwischenmenschliche Konflikte.

Nüchtern betrachtet erzählt Blake von Schuld und Sühne, von Liebe und Hass, von Familie, Freundschaft und falsch interpretiertem Pflichtbewusstsein. Entsprechende Konflikte begleiten und prägen die Geschichte, seit es Menschen gibt. Blakes Meisterschaft besteht darin, sie so zu schildern, als ob sie sich nur im Florida des frühen 20. Jahrhunderts ereignen konnten. (Ähnlich intensiv gelang dies der TV-Serie „Boardwalk Empire“ [2010-2014], die zwar in Atlantic City, New Jersey, spielt, aber nicht grundlos an „Red Grass River“ erinnert: Produzent und Autor Terence Winter kaufte die Rechte an zwei Blake-Romanen.)

Schon die beiden ersten Sätze geben den Tenor vor: „Falls sich der Teufel je einen Garten angelegt hat, dann die Everglades. Der größte und gemeinste Sumpf, den Sie je zu sehen bekommen …“ Auf den vielen, vielen Buchseiten, die folgen werden, legt sich der Verfasser ebenso kräftig wie erfolgreich ins Zeug, um diese Einleitung mit Leben zu füllen. Unter seiner Feder entsteht eine urzeitlich anmutende Landschaft, die einer Petrischale gleicht: Unter glühender Sonne und in rekordverdächtiger Luftfeuchtigkeit wuchern Pflanzen und lauern Tiere, die seitens der Evolution offenbar ausdrücklich geschaffen wurden, um Menschen zu beißen, zu stechen, in Stücke zu reißen, zu fressen oder wenigstens mit ekelhaften Krankheiten zu schlagen. Es gibt kaum festen Boden, dafür überall Wasserlöcher oder Treibsand. Stets ist es brütend heiß und schwül – und gefährlich.

Jenseits von Gut, im Bund mit dem Bösen

Hier hausen die „Cracker“, Außenseiter der US-Gesellschaft. Ihren Namen gaben ihnen die schweren Peitschen, mit denen sie ihre Ochsengespanne antrieben. Cracker wie die Ashleys kennen kein soziales Netz, nur die Familie. Die Regierung und ihre Behörden sind ihnen gleichgültig. Nie haben sie Unterstützung erhalten. Also fühlen sie sich nicht als Staatsbürger, sondern bilden Clans, die sämtliche Aspekte des Alltagslebens untereinander regeln. In gewisser Weise hat der Wilde Westen hier eine Nische gefunden und dauert an.

Polizei und Justiz haben sich vor Ort mit diesen Verhältnissen arrangiert. Es ist lebensgefährlich und meist erfolglos, gesetzesflüchtigen Cracker in die Sümpfe zu folgen. Also drückt man ein Auge zu, kassiert Schmiergeld und wird selbst Teil des Parallelsystems. Verstöße gegen archaische Regeln werden intern und hart geahndet; „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ist hier kein bloßes Bibelzitat, wie John Ashley erfährt, als ihm Bobby Baker rachsüchtig ein Auge ausdrückt. Das Ergebnis ist ein ewiger Teufelskreis von Unrecht und Vergeltung, neuem Unrecht und neuerlicher Vergeltung. Fehden toben über Generationen und dauern an, selbst wenn der Auslöser längst in Vergessenheit geraten ist.

Unter dieser Käseglocke stecken die Protagonisten fest. Um sie herum ändert sich die Welt, doch sie begreifen die Konsequenzen zu spät. Stattdessen verbeißen sich nicht nur die Ashleys und die Bakers ineinander. Jede Auseinandersetzung wird umgehend gewalttätig. Pardon wird weder gegeben noch erwartet. Als das organisierte Verbrechen siegesgewiss seine Tentakeln nach Florida ausstreckt, stoßen seine Vertreter dort auf Gegner, für die Attacken nicht nur Teil des Geschäfts sind, sondern persönlich genommen und geahndet werden.

Das Leben ist kurz, aber ereignisreich

Ebenso erschreckend wie faszinierend weiß Blake die unmittelbare Nähe zwischen ‚Normalität‘ und Gewalt darzustellen. Sie beschränkt sich keineswegs auf Außenstehende. Auch Freunde können umgehend zu Feinden (und Todeskandidaten) werden, wenn sie den Clan ‚verraten‘. Ansonsten ist der Zusammenhalt unverbrüchlich. Die Ashleys haben ihre Differenzen, aber sie stehen füreinander ein – ohne Kompromisse. Als Blake ausblendet, sind die meisten Ashleys tot und die Überlebenden verbittert: Die Schuld an ihrem Unglück geben sie stets anderen, und es frisst sie auf, wenn Blutrache nicht möglich ist.

Was dies heißt, stellt Blake mit geradezu apokalyptischer Durchschlagskraft dar, wobei seine (vorzüglich übersetzte) Sprache trügerisch simpel bleibt: Was er zu sagen hat, dringt verständlich zu uns vor. Den Zeigefinger erhebt Blake dabei erfreulicherweise nicht. Er schildert; die Wertung überlässt er den Lesern. Dass seine Zuneigung eher den Ashleys gilt, wird sicherlich deutlich. (Tragische) Helden bringt diese Sippe freilich nicht hervor. Ehre und Moral gelten für Blake als Schicksal, dem niemand entkommt, denn Blut ist hier wirklich dicker als Wasser!

John Ashley wird keine 30 Jahre alt, doch sein Leben ist von einer Intensität, auf die man trotz fürchterlicher Erfahrungen neidisch werden kann. John kennt nur die Gegenwart und die Vergangenheit mit ihrer für ihn und die Familie wichtigen Ereignisse. Die Zukunft interessiert weder ihn noch seine Freunde und Bandengefährten. Sie rechnen mit einem abrupten und hoffentlich schnellen Tod. Deshalb gibt es keine opulente, dramatisch ausgespielte Todesszene; John Ashley stirbt, wie er gelebt hat, und reiht sich in die lange Linie derer ein, die ihm vorausgegangen sind – oft genug mit seiner ‚Hilfe‘.

Früher war manchmal gar nichts besser

Hitze, Gewalt, Rache, Verbrechen: Sie stehen so stark im Vordergrund, dass weitere, ebenso brisante Verbrechen scheinbar in den Hintergrund geraten, obwohl Blake sie weder unterschlägt noch relativiert. So werden die USA des frühen 20. Jahrhunderts von einer täuschenden Ruhe geprägt, wenn es um Bürger- und Menschenrechte geht, wobei die Südstaaten in dieser Hinsicht ein besonders elendes Pflaster darstellen. Obwohl die Cracker arm und ungebildet sind, stehen sie haushoch über „Indianern“, „Negern“ und „Mischlingen“. Diese werden höchstens als Hilfskräfte geduldet, die in den Schwarzbrenner-Kriegen stellvertretend niedergeschossen werden, weil sich Sheriff Baker zunächst nicht an den Ashleys selbst vergreifen will.

Die Korruption ist allgegenwärtig. Nicht nur „law & order“, sondern auch die Politik ist geschmiert. Auf der Jagd nach Gewinn werden die Sümpfe trockengelegt und ausgelaugt, wird die Landschaft ausgebeutet und zerstört. Scheinheiligkeit ersetzt die gerechtfertigte Empörung über Missstände.

Natürlich haben Frauen nicht viel zu sagen in dieser Welt. Eine Ausnahme stellt höchstens Mutter Ashley dar, die aber wie ihre Töchter und Schwiegertöchter den Raum verlässt, wenn die Männer über Geschäfte sprechen. Frauen werden verheiratet und bleiben an ihre Ehegatten gebunden, auch wenn diese sie misshandeln; das ist rechtens. ‚Liebe‘ findet für John Ashley und seine Gefährten primär in Bordellen statt. Dort landen junge Frauen praktisch automatisch, wenn sie ohne Geld dastehen.

Rabenschwarz, böse, perspektivenlos: Blake stellt unmissverständlich klar, dass die Sümpfe für ihre Bewohner keineswegs eine Hölle darstellen. Das Dasein ist schwer, doch das nimmt man hin. Mehrfach schildert Blake Szenen reiner Lebensfreude: Die Cracker lieben ihren Sumpf, der ihnen nicht nur Schutz bietet, sondern als Heimat gilt. Sie sind frei, verfügen über eine eigene Kultur, eigene Musik, eine mündliche Tradition, die weit zurückgreift. Cracker sind gefährlich, aber sie haben ihre sympathischen Seiten – eine verwirrende Ambivalenz, die der Verfasser immer wieder thematisiert. Es ist nur ein Aspekt einer inhaltlich wie formal grandios präsentierten Geschichte, die keinen Tag gealtert ist, obwohl sie in den USA bereits 1998 veröffentlicht wurde, bevor sie endlich hierzulande erschien.

Autor

James Carlos Blake wurde am 26. Mai 1947 in Tampico, Mexiko, geboren. Seine Vorfahren waren aus den USA in dieses Land eingewandert; Blake ist ein eingebürgerter US-Amerikaner. Er studierte an der University of South Florida Tampa Bay und an der Bowling Green State University (Ohio). Es folgte die für Schriftsteller offenbar obligatorische Reihe seltsamer, nutzloser, unterbezahlter, aber biografisch später farbigen Jobs (Schlangenfänger, Gefängnisbeamter, VW-Mechaniker etc.), bevor Blake Dozent wurde und an zahlreichen – auch ausländischen – Hochschulen lehrte. Seit 1997 ist Blake hauptberuflicher Schriftsteller.

Als Autor begann Blake erst in den 1980er Jahren regelmäßig zu veröffentlichen. Nach einer Reihe von Kurzgeschichten wurde The Pistoleer (dt. „Pistolero“) 1995 sein erster Roman. Die auf Tatsachen basierende und in das historische Umfeld eingebettete, aber vom Verfasser ausgestaltete Lebensgeschichte des Outlaws John Wesley Hardin wurde nicht nur als Western, sondern auch als literarisches Meisterwerk gewürdigt und preisgekrönt. Blake ließ „The Pistoleer“ mehrere Romane folgen, die ebenfalls im 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie im Kriminellen-Milieu spielten.

2005 legte Blake eine längere Pause ein, bevor er sich 2012 mit dem ersten Teil einer Saga um die US-Grenzland-Familie Wolfe zurückmeldete, der er in rascher Folge weitere Bände folgen ließ, die auch in der Gegenwart spielten.

Nach drei gescheiterten Ehen lebt Blake derzeit als Single in Arizona.

Gebunden: 528 Seiten
Originaltitel: Red Grass River (New York : Avon Books 1998)
Übersetzung: Stefan Lux
http://www.liebeskind.de

E-Book: 1633 KB
ISBN-13: 978-3-9543-8090-9
http://www.liebeskind.de

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