James Graham Ballard – The Best Short Stories of J. G. Ballard

Abgestürzte Wolkenbildner und andere Kuriositäten

Dieser Auswahlband umfasst 19 Erzählungen aus der Zeit zwischen 1957 und 1978. Bemerkenswert ist neben dem Vorwort durch „Uhrwerk-Orange-Autor Anthony Burgess die Tatsache, dass hier vier Texte aus „The Atrocity Exhibition“ zu finden sind, darunter so umstrittene wie „Why I Want to Fuck Ronald Reagan“. Das sehr schöne Umschlagbild zeigt als einziges, das ich kenne, das Thema der Story „Die Wolkenbildner von Coral D“.

Der Autor

James Graham Ballard wurde 1930 als Sohn eines englischen Geschäftsmannes in Schanghai geboren. Während des Zweiten Weltkrieges, nach der japanischen Invasion, war seine Familie drei Jahre in japanischen Lagern interniert, ehe sie 1946 nach England zurückkehren konnte. Diese Erlebnisse hat Ballard in seinem von Spielberg verfilmten Roman „Das Reich der Sonne“ verarbeitet, einem höchst lesenswerten Buch.

In England ging Ballard zur Schule und begann in Cambridge Medizin zu studieren, was er aber nach zwei Jahren aufgab, um sich dem Schreiben zu widmen. Bevor er dies hauptberuflich tat, war er Pilot bei der Royal Air Force, Skriptschreiber für eine wissenschaftliche Filmgesellschaft und Copywriter (was auch immer das sein mag) an der Londoner Oper Covent Garden.

Erst als er Science Fiction schrieb, konne er seine Stories verkaufen. Ab 1956 wurde er zu einem der wichtigsten beiträger für das Science-Fiction-Magazin „New Worlds“. Unter der Herausgeberschaft von Autor Michael Moorcock wurde es zum Sprachrohr für die Avantgarde der „New Wave“, die nicht nur in GB, sondern auch in USA Anhänger fand.

Ballard und die New Wave propagierten im Gegensatz zu den traditionellen amerikanischen Science-Fiction-Autoren wie heinlein oder Asimov, dass sich die Science-Fiction der modernen Stilmittel bedienen sollte, die die Hochliteratur des 20. Jahrhunderts inzwischen entwickelt hatte – zu Recht, sollte man meinen. Warum sollte ausgerechnet diejenige Literatur, die sich mit der Zukunft beschäftigt, den neuesten literarischen Entwicklungen verweigern?

Doch was Ballard ablieferte und was Moorcock dann drucken ließ, rief die Politiker auf den Plan. Seine Story „The assassination of John Fitzgerald Kennedy considered as a downhill motor race“ (1966) rief den amerikanischen Botschafter in England auf den Plan. Ein weiterer Skandal bahnte sich an, als er Herausgeber von „Ambit“ wurde und seine Autoren aufrief, Texte einzureichen, die unter dem Einfluss halluzinogener Drogen verfasst worden waren. Seine härtesten Texte, sogenannte „condensed novels“, sind in dem Band „The atrocity exhibition“ (1970) zusammengefasst, dessen diverse Ausgaben in den seltensten Fällen sämtliche Stories enthalten …

Seither hat Ballard über 150 Kurzgeschichten und etwa zwei Dutzend Romane geschrieben. Die ersten Romane waren Katastrophen gewidmet, aber derartig bizarr und andersartig, dass sie mit TV-Klischees nicht zu erfassen sind. Bestes Beispiel dafür ist „Kristallwelt“ von 1966, das ich hier aber nicht darlegen möchte, sondern ich verweise auf meine entsprechende Rezension. Äußere Katastrophen (wie die Kristallisierung des Dschungels) wirken sich auf die Psyche von Ballards jeweiligem Helden aus und verändern sie.

Dabei stehen die vier Romane „The Wind from Nowhere (1962), „The Drowned World“ (1962), „The Drought“ (Die Dürre, 1964) und schließlich „The Crystal World“ (1966) sinnbildlich für Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, ausgedrückt durch die Metaphern Luft, Wasser, Feuer und Erde/Diamant (Kristall).

J. G. Ballard war der Ansicht, dass das wichtigste Gebiet, das es zu erforschen gelte, nicht die Weiten des Weltalls seien, sondern Inner Space: die Erde und die Seelen der Menschen, die sich auf ihrem sich wandelnden Antlitz bewegen. So hat er unter anderem das Kriegsgebiet Beirut, die überwachte Vorstadt, Cape Canaveral nach dem Ende des Raumfahrtzeitalters beschrieben. Amerikaner würden ihm darob Pessimismus, wenn nicht sogar Ketzerei vorwerfen, aber das stimmt nicht: Sein Anliegen gilt nicht äußerlichem Erfolg, um Zufriedenheit zu erlangen; sein Streben gilt der Untersuchung der künftigen Bedingungen für die Existenz des Menschen – und diese Bedingungen liegen allzu oft in dessen Seele, im Inner Space. Ballard starb 2009.

Die Erzählungen

1) The Concentration City

Franz Matheson muss verrückt sein. Davon sind zumindest die Polizei und deren Arzt überzeugt. Wie sonst wäre es zu erklären, dass nach zwei Dingen suchen, die es in der STADT nicht geben kann: freier Raum und Fortbewegung durch Fliegen. Da die Stadt die ganze Welt bedeckt und somit weder Anfang noch Ende hat, sollte man meinen, dass auch ein Typ wie Franz M. sich überzeugen ließe, dass seine zwei Ideen sinnlos sind.

Doch nein. Er hat, ganz legal, den Schlafzug genommen und ist zehn Tage nach Westen gefahren – um dann festzustellen, dass sich der Zug auf einmal nach Osten bewegt. Sehr merkwürdig. Seine Aufregung führte denn auch zu seiner Festnahme. Nur dass er nichts weiter verbrochen hat, als von unmöglichen Dingen zu träumen.

Doch Franz M. weiß, dass es möglich ist, an nur einem Tag die halbe Stadt zu durchqueren und am selben Tag und am selben Ort wieder anzulangen. Mit anderen Worten: Es gibt kein Entkommen aus der Hölle, und so etwas wie freien Raum wie es allenfalls in den toten Zonen unten am Fuß der Stadt …

Mein Eindruck

Der Autor hat scheinbar eine Idee von Isaac Asimov aufgegriffen, die dieser in seinen drei FOUNDATION-Romanen (1950ff) verarbeitete: die planetenweite Stadt Trantor. Die Weiterentwicklung ist typischer Ballard, denn er hat Kafka darauf angewendet: Franz M., der auch K. heißen könnte, tut etwas Absurdes, indem er „freien Raum“ sucht, um dort zu „fliegen“.

Ballards Beschreibung der STADT erinnert an Terry Gilliams Film „Brazil“ oder an „Blade Runner“: Die Wohnebenen – so etwas wie Straßen gibt es schon längst nicht mehr – rangen ewig hinauf, und die Qualität einer Umgebung wird nach dem Preis des Kubikfußes bemessen, nicht etwa nach Quadratmetern. Wie in „Brazil“ gibt es Polizeiaktionen gegen Verbrecher. Hier werden sie „Pyros“, also Pyromanen, genannt. Die Aktionen demolieren Häuser so gründlich, dass sie abgerissen und ersetzt werden müssen. Das ist kostengünstige Stadtentwicklung unter dem Deckmantel der Verbrechensbekämpfung. Klar, dass dabei auch die Preise steigen. Die Stadt ist ein einziges großes KZ.

2) Manhole 69

Die Patienten der Klinik Avery, Gorrell und Lang sind am Gehirn operiert und drei Wochen lang einer Hypnose unterzogen worden. Sie sind die ersten Menschen, die keinen Schlaf mehr benötigen – der nächste Schritt in der Evolution, wie die Mediziner hoffen. Dr. Neill ist mächtig stolz und zuversichtlich, doch sein junger Assistent Morley ist sich des Erfolgs nicht so sicher.

In der zweiten Nacht begeht Morley einen verhängnisvollen Fehler: Er lässt die drei Patienten über zehn Minuten lang unbeaufsichtigt. Als er in die Turnhalle, wo sich die Patienten aufhalten, zurückkehrt, sind alle drei katatonisch und unansprechbar. Was kann nur passiert sein?

Mein Eindruck

Wer dachte, diese Erzählung könnte die Vorlage oder Inspiration für Nancy Kress‘ BETTLER-Romantrilogie über die Schlaflosen gewesen sein, irrt gewaltig. Denn die niederschmetternde Aussage des Autors lautet, dass das Gehirn sehr negative Gegenmaßnahmen ergreift, wenn es von seiner Quelle der Todessimulation, der Medulla, abgeschnitten wird, wenn es eigentlich schlafen möchte.

Tatsächlich glaubten die drei Patienten, dass sich die Wände und die Decke der Turnhalle um sie herum zusammenzogen, so dass sie sich schließlich in einem Einstiegsloch (manhole, s. Titel) befanden – aber nur in ihrem Verstand. Nix war’s mit der nächsten Stufe der Evolution. Vielmehr fand ein Rückfall statt, mit drastischen Auswirkungen. Wir werden wohl weiterhin schlafen müssen.

3) Chronopolis

Conrad Newman sitzt seit einem Jahr in U-Haft, heute soll das Urteil über ihn fallen: wegen Mordes an einem Zeitpolizisten. Da es im Knast keine Uhr außer seiner Sonnenuhr gibt, dauert es noch eine Weile, bis man ihn endlich holt. Er erinnert sich…

Es fing damit an, dass sich der Junge darüber wunderte, dass hier und da merkwürdige Geräte mit zwölf Ziffern darauf zu finden und zu sehen waren. Weder seine Mutter noch sein Vater geben ihm Auskunft darüber, ganz im Gegenteil: Sie geben Conrad den Eindruck, als handle es sich dabei um etwas Verbotenes: Uhren. Doch durch seinen Einfallsreichtum und die positive Rückkopplung durch Zeiteinteilung gelingt es ihm, eigene Zeitmesser zu konstruieren: Je genauer er sich die Zeit einteilen, desto schneller hat er seine Hausaufgaben erledigt.

Das ist natürlich noch nicht das Wahre, weiß er. Eine echte Armbanduhr, wie man sie früher trug, entdeckt er erst bei einem Kinozuschauer, der einen Herzanfall erlitten hat. Dieses kostbare Stück trägt er nun ständig mit sich und verblüfft Schüler wie Lehrer durch seine hellseherische Fähigkeit, den Alarm der Schule vorauszusehen, die das Ende der Schulstunde anzeigt.

Bis ihm der Lehrer Stacey auf die Schliche kommt und ihn mit in die Stadt nimmt. Diese ist seit der Revolte von 37 Jahren verlassen: 500 Quadratkilometer Steinwüste, oder? Mitnichten, findet Conrad heraus: Alles ist noch so wie damals, inklusive der Uhren – es müssen Millionen davon vorhanden sein. In Chronopolis, so der Lehrer, lebten alle Menschen nach einem genau ausgetüftelten Stundenplan, der jede Aktivität regelte, egal ob es Telefonieren, Einkaufen oder Arbeiten war.

Gesteuert wurden alle Uhren von der großen Zentraluhr auf dem 60 Meter hohen Glockenturm des Parlaments. Sie ist bei 12:01 stehengeblieben. Da entdeckt Conrad eine Uhr, die noch geht: Sie zeigt die Zeit seiner Armbanduhr an. Er büchst aus und sucht denjenigen, der die Uhr audfgezogen hat. Es ist ein alter Uhrenmacher und er hat es geschafft, 278 Uhren wieder zum Laufen zu bringen. Wenig später ereignet sich der Mord an Stacey …

Mein Eindruck

Eine feine Satire: Uhren sind überall verboten, weil jeder sich seine Zeit selbst einteilen will. Das kann man heute, da sich das Leben ungeheuer beschleunigt hat, sehr gut verstehen kann. Natürlich erfolgt auf diese Revolution eine Konterrevolution, ausgeführt von Conrad und seinem alten Helfer. Aber auch Conrad wird am Schluss erfahren, was unter dem Terror der Uhr zu verstehen ist.

Es ist auffällig, dass in dieser Geschichte keine Zeitreise vorkommt. Vielmehr liegt das Augenmerk darauf, die Erfahrung der Zeit zu relativieren. Der Verdienst der Story liegt in dem warnenden Ausmalen einer Epoche, in der jede Handlung eines Menschen gemäß dem Diktat der Verfügbarkeit von Zeit diktiert wird – ein schauerlicher Gedanke. Aber vielleicht gar nicht so weit entfernt …

4) The Voices of Time

Nach den oberirdischen Atomversuchen auf dem Eniwetok-Atoll breitet sich in der Welt eine seltsame Krankheit aus, der immer mehr Menschen zum Opfer fallen. Es handelt sich um eine schlafähnliche Betäubung. Die Dauerschläfer müssen in Regierungseinrichtungen untergebracht und von Neurochirurgen untersucht werden. Einer von diesen Ärzten ist Dr. Powers in Oak Ridge, dessen Tagebuch wir lesen und dessen Werdegang wir verfolgen.

Er trauert ein wenig seinem Kollegen Whitby nach, der Selbstmord beging. Whitby schrieb über Eniwetok und ritzte in den Boden eines Schwimmbecken ein vierstrahlige Sonne wie eine Mandala. In genau diesem Schwimmbecken findet Powers einen mutierten Frosch: Er hat zum Schutz vor den radioaktiven Strahlen einen bleihaltigen Panzer entwickelt.

Powers wird von drei Menschen mit Sorge beobachtet. Dr. Anderson rät ihm kürzerzutreten, was Powers schwerfällt, obwohl er zunehmend mehr Schlaf benötigt – seine Tage werden kürzer. Die anderen beiden sind ein ehemaliger Powers-Patient namens Kaldren und dessen Freundin, die er Coma nennt. Der von Powers am Gehirn operierte, völlig schlaflose Kaldren sammelt Endzeitphänomene, darunter auch die Countdown-ähnlichen Botschaften, die Observatorien von bestimmten Sternen aufgefangen haben: die „Stimmen der Zeit“. Nähert sich das Universum seinem Ende?

Whitby hat einen ausgefeilten Apparat, das Maxitron, gebaut, um das im Erbgut gesperrte Genpaar verschiedener Lebewesen zu „befreien“. Powers setzt das Maxitron u.a. an einem Schimpansen ein, der so klug wird wie ein fünfjähriges Kind – und an sich selbst. Mit einem bemerkenswerten Ergebnis: In einer Art Apotheose nimmt er parapsychologischen Kontakt mit den Sternen auf und hört ihre Stimmen ganz direkt. Klar, dass das nicht gut geht.-

Mein Eindruck

Diese Story erweist sich als ziemlich lang, sehr komplex und recht sperrig. Wer zum ersten Mal Ballard liest, wird an ihr verzweifeln. In sie hat der Autor alles Mögliche hineingepackt, und alles aufzuführen, würde zu weit führen. (Gut möglich, dass auch die uralte Übersetzung von anno 1973 das Ihre dazu beiträgt.) Aber das optimistische Ende verleiht der ansonsten reichlich resignativen Endzeitstimmung eine positive Wendung, die auch all die Rätsel beantwortet, die der Autor dem Leser stellt.

5) Deep End (1961)

In dem Bemühen, Sauerstoff per Elektrolyse aus dem Meer zu gewinnen, um ihn an die neu entdeckten Siedlerwelten zu liefern, haben die Menschen die Ozeane ausgetrocknet. Dadurch ist wiederum der Planet unbewohnbar gewohnt, weil es unerträglich heiß ist. Nur bei den Bermuda-Inseln ist noch ein kleiner Rest übrig, der Lake Atlantic.

Hier findet der 22-jährige Holliday, der sich bis zuletzt weigert, die Erde zu verlassen, den allerletzten Fisch. Es ist ein Hundshai, wie es ihn einst zu Millionen gab. Sofort legt er einen Teich an und will ihm optimalen Lebensraum geben, direkt unter einer der abgestürzten Startplattformen für die Raumschiffe.

Doch ein paar Jungs, deren Abflug kurz bevorsteht, machen Hollidays idealistischem Überlebensprojekt einen dicken Strich durch die Rechnung …

Mein Eindruck

Dies ist das Szenario, in dem der Film „Oblivion“ spielt: Riesige Kraftwerke entziehen der Erdoberfläche alles Wasser, und Agenten rasen auf Motorrädern über den einstigen Meeresgrund. Allerdings leben hier keine Rebellen à la DUNE, sondern nur dahinvegetierende Senioren in vor Hitze ächzenden Bungalows. Es herrscht genau jene Endzeitstimmung, die Ballard in „Die Dürre/Welt in Flammen“ 1964 viel besser eingefangen hat (siehe dazu meinen Bericht).

6) The Overloaded Man

Harry Faulkner lebt in einer neuartigen Modellsiedlung, deren Bauteile alle L-förmig sind. Die Architekten waren innovativ, aber die Bewohner werden langsam wahnsinnig. Genau wie Harry. Um all diesen Plastikscheiß in seiner Umgebung, seinem Haus, seinen Zimmern ertragen zu können, hat er ein neues Talent entdeckt und bis zum Perfektion entwickelt: Er degradiert alle Konturen und Objekte zu reinen Flächen und Farben, so dass sie alle Funktionalität verlieren. Zurückgelehnt in seinem Liegestuhl auf der Veranda, die Welt um ihn herum nach und nach auszublenden.

Aber die Welt hat ihn nicht vergessen. Seine Frau Julia, ein wahrer Ausbund an Effizienz und Produktivität, entdeckt, dass er nicht etwa einen kurzen Krankenurlaub macht, sondern an der Berufsschule schon vor zwei Monaten gekündigt hat. Als sie ihm jetzt die Leviten liest, blendet er sie Stück für Stück aus; zuerst natürlich ihre grässliche Stime, dann die Gliedmaßen, schließlich den Kopf; schließlich muss sie nur noch die richtige Form erhalten – da, sie ist verstummt. Wunderbar.

Um das Endziel seiner Entwicklung erreichen zu können, nämlich reine Existenz als psychische Idee, begibt er sich in den Gartenteich und legt sich hinein. Nur noch wenige Momente und er ist endlich frei …

Mein Eindruck

Das klingt wie ein Film à la Stanley Kubricks „Uhrwerk Orange“ auf Überdosis. Tatsächlich aber thematisiert der Autor eine Krankheit der sechziger Jahre, die bis heute überall zu finden ist, wo ehrgeizige Architekten zuschlagen dürfen: Killer-Design trifft Ennui, also existentielle Langeweile und Überdruss, verursacht durch totale Entmenschlichung und Automatisierung der Umgebung.

In Harrys Umgebung werden die Menschen selbst zu Ratten im Labyrinth, und das wichtigste Beobachtungs- und Versuchsobjekt sind sie selbst. Eine versteckte Fotokamera knipst Harry auf der Veranda, die hübsche Nachbarin nimmt allzu gerne eine Peepshow-Dusche, und der Nachbarsjunge, dem die Kamera gehört, scheint auf dem gleichen Weg unterwegs zu sein wie Harry. Um der Verdinglichung zu entgehen, begibt sich Harry auf den trip in die Entkörperlichung; er wird zur reinen Idee – und lässt folglich seinen lästigen Körper zurück.

7) Billennium

John Ward und Peter Rossiter machen in der Welt, auf der sich 20 Milliarden Menschen maximal vier Quadratmeter pro Nase teilen, eine umwerfende Entdeckung: ein völlig leeres Zimmer mit den ungeheuren Dimensionen von 4,5 x 4,5 qm! Es liegt hinter einer Art Tapetentür, vor der sie sich ihre Wohnnische geteilt haben. Das ist natürlich jetzt nicht mehr nötig: das Paradies liegt sozusagen direkt vor ihrer Nase.

Doch ihre zwei Bekannten, Judith und Helen, sitzen – mal wieder auf der Straße. Der Maximalwohnraum ist von der Regierung auf 3 qm herabgesetzt worden, und die Vermieter schlagen Kapital daraus. John und Peter laden die beiden ein, bei ihnen einzuziehen. Aber Judiths will, dass auch ihre Tante… null problemo! Und dann kommt auch noch Helens Vater hinzu, und im Handumdrehen fühlt sich alles wieder richtig „normal“ an …

Mein Eindruck

Auf ihre dezent satirische Weise verarbeitet die bekannte, vielfach abgedruckte Erzählung die Vorhersage des Club of Rome, wonach bei einer jährlichen Wachstumsrate von 3% das Bevölkerungswachstum beängstigende Ausmaße annehmen werde. Genau diese Ausmaße schildert die Geschichte auf ganz konkrete, unaufgeregte Weise. Merke: So schockierend es auch erscheinen mag, so kann sich der Mensch doch daran gewöhnen, auch in einem Besenschrank zu wohnen.

8) The Garden of Time

Graf Axel lebt mit seiner Klavier spielenden Frau in einer prächtigen Villa, zu der ein See und ein bemerkenswerter Garten gehören: In diesem Garten wachsen die Zeitblumen. Eine Zeitblume speichert in ihrer kristallinen Struktur Zeit und wenn Graf Axel eine Blüte bricht, so dreht er die Zeit ein wenig zurück, mal eine Stunde, mal nur wenige Minuten, je nach der Größe und Reife der Blume.

Diesmal bricht er wieder eine, denn über die Anhöhe des Horizonts drängt eine Lumpenarmee auf die Villa zu, die alles in ihrem Weg zu zertrampeln und zu zerstören droht. Schwupps, ist die Armee wieder auf den Horizont zurückgeschlagen. Aber das nicht ewig so weitergehen. Leider sind nur noch ein halbes Dutzend Zeitblumen im Garten der Zeit verblieben. Seine Frau bittet ihn, die letzte Blüte für sie übrigzulassen …

Als die Lumpenarmee den Garten erobert und die Villa plündert, findet sie nur noch eine Ruine vor, der Garten ist verlassen und verwildert. Nur mit größter Vorsicht umgehen die namenlosen Plünderer ein Dornendickicht, das zwei Steinstatuen umschließt: einen Mann und eine edel gekleidete Frau, die eine Rose in der Hand hält …

Mein Eindruck

Das Szenario des Grafen und seiner Gräfin in ihrem Garten aus konservierter Zeit sind eine elegische Metapher auf die gesellschaftliche Überholtheit der adeligen Klasse. Sie huldigt Idealen von Schönheit, die dem „Lumpenproletariat“ – ein begriff von Marx & Engels – völlig fremd sind. Dieses sucht lediglich materielle Werte, zerstört Bilder und Musikinstrumente ebenso wie Bücher, um Heizmaterial zu erhalten. Der Gegensatz ist klar: Bei den Adeligen bestimmt das Bewusstsein das Sein, bei den Proleten ist es umgekehrt: der Materialismus triumphiert. Die hinfortgespülte Klasse existiert nur noch als Statuen, genau wie heutzutage.

Ein SF-Autor also, der der Revolution das Wort redet? Wohl kaum, denn sonst würde er den zerbrechlichen Zeitblumen solche schönen Worte widmen, die an Poesie nichts zu wünschen übriglassen. Er trauert den vergangenen Idealen nach, doch der Garten macht seine eigene Aussage: Sobald die letzte Blume vergangen ist, bricht die aufgeschobene Zeit mit aller Macht über die Adeligen ehrein und lässt sie zu Stein erstarren. Wie immer bei Ballard ist dieser abrupte Übergang überhaupt nicht kommentiert oder gar einer Erwähnung wert. Der Leser muss ihn sich dazudenken.

9) Thirteen for Centaurus

Abel Granger ist ein aufgeweckter Junge. Mit seinen 16 Jahren fällt ihm einiges an dieser Raumstation auf, das nicht ganz stimmen kann, so etwa die Anzeige „METEORSCHWARM“. Leider verhindert seine hypnotische Konditionierung, dass er dieses Wort ganz lesen kann. Die Buchstaben verschwimmen vor seinen Augen. Als er Dr. Francis, seinen Lehrer, danach fragt, eröffnet ihm dieser, dass er, Abel, nicht auf einer Raumstation lebe, sondern in einem Raumschiff, das zum Planeten der Sonne Alpha Centauri unterwegs sei. Zusammen mit einem Dutzend anderen Menschen.

Aber auch diese Auskunft stellt Abel nicht zufrieden, denn sie wirft noch mehr Fragen auf. Wenn nämlich alle 14 Besatzungsmitlieder soundsoviel Nahrung pro Tag erhalten, dann müssen die Vorräte für die 50 Jahre, die sie bereits geflogen sind und die 50 Jahre, die sie noch zu fliegen haben (von der Rückkehr ganz zu schweigen), ein Gewicht haben, das viel zu groß ist für ein Raumschiff dieser Größe. Was stimmt hier also nicht?

Dr. Francis verlässt das „Raumschiff“ und begibt sich in den Hangar, in dem die Konstruktion steht, seit tatsächlich 50 Jahren. Als Psychologe bespricht er sich mit seinem Vorgesetzten Chalmers, und der teilt ihm mit, dass General Stark, der das Projekt mittlerweile übernommen habe, es zu einem Ende bringen möchte. Die öffentliche Meinung unterstütze die Irreführung der „Besatzung“ nicht mehr.

Doch als Dr. Francis an „Bord“ zurückkehrt, macht er eine merkwürdige Entdeckung: ein gut verborgenes Guckloch, durch das man nach draußen in den Hangar sehen kann …

Mein Eindruck

„Centaurus“ ist eine der längsten Geschichten in diesem Band und auch eine der stärksten. Denn sie führt alle jene technikverliebten US-Erzeugnisse ad absurdum, in denen heldenhafte Raumfahrer zu fernen Siedlerwelten aufbrechen. Man denke besonders an Heinleins Novellen „Universe“ und „Gulf“ in seiner Future-History-Reihe. Ballard zeigt, dass der Inner Space mindestens genauso wichtig ist wie der Outer Space, der Weltraum. Und dass die Besatzungsmitglieder manchmal schlauer sein können als ihre Manipulateure.

10) The Subliminal Man

Der Konsumterror hat seinen Höhepunkt erreicht, als der Psychiater Dr. Franklin alle drei Monate ein neues Auto kauft. Dass er unterschwelligen Kaufbefehlen gehorcht, merkt er erst durch seinen Patienten Hathaway. Der ist den Geräten auf die Spur gekommen, die diese Botschaften verbreiten: riesige elektrisch betriebene Schilder. Er selbst will sie zerstören.

Als Franklin eines Tages die zwölfspurige Schnellstraße entlangschleicht, gerät er in einen Stau, der sich vor einem der neuen Schilder gebildet hat. Autofahrer gaffen einen Mann an, der an einem Seil von einem der Riesenschilder herabhängt. Es ist Hathaway, erkennt Franklin, als er aussteigt und nähertritt. Das Schild zeigt jetzt einen eindeutigen Kaufbefehl. Als die Polizei eintrifft, fällt ein Schuss und Hathaway stürzt in die Tiefe…

Mein Eindruck

Die Story verbindet eine konkrete, dramatisch aufgebaute Handlung mit einer durchdachten Argumentation gegen die Mechanismen des in den sechziger Jahren aufkommenden Konsumterrors. Die Werbung übernimmt das Fernsehen und beginnt, ihre unterschwelligen Tricks anzuwenden (z. B. mehr oder weniger nackte Frauen zu zeigen, um Seife zu verkaufen). Später arbeitete Ballard solche Kritik breiter aus, etwa in seinem Roman „Die Betoninsel“ (1974), in dem ein Autofahrer auf einer Grüninsel auf einem Autobahnkreuz strandet und nicht mehr entkommt.

11) The Cage of Sand

Einige Jahre in der Zukunft ist das Raumfahrtzeitalter längst Vergangenheit. Vielmehr hat sich ganz Florida aufgrund von eingeschleppten Mars-Viren und Tonnen von Marssand in eine Wüste verwandelt, die vom vorrückenden Atlantik zurückerobert wird. Auf einem schmalen Streifen Land zwischen dem Meer und dem Golf überleben drei Menschen in einem von der Seuchenbekämpfungsbehörde der UNO abgesperrten Areal, dem Sandkäfig.

Paul Bridgman ist der frühere Chefarchitekt für die erste Marssiedlung – die von der Konkurrenz gebaut wurde. Travis ist ein Astronaut, der beim Start die Nerven verlor und aus dem Satellitengeschäft ausstieg. Laura Woodward ist die Witwe eines Astronauten, der seit Jahren in seiner Kapsel die Erde umrundet und wahrscheinlich schon längst tot ist. Er und die anderen toten Kosmonauten sind die letzten Satelliten der vom Marssand und den Viren verwüsteten Erde.

Das Trio wohnt in einem der letzten Hotels von Cape Canaveral, das noch nicht gänzlich von roten Marssand begraben worden ist. Es ist stets auf der Hut vor den Menschenfängern der Seuchenbekämpfungsbehörde, die mit ihren Wächtern in dieses letzte Reservat von Infizierten vordringt. Doch wie lange wird das noch gutgehen? Schon wächst der Zaun um das Reservat immer höher; schon bald gibt es kein Entkommen mehr …

Als einer der fliegenden Särge just in der verbotenen Zone auf die Erde kracht, spitzen sich die Ereignisse zu …

Mein Eindruck

Diese klassische Raumfahrtstory bildet zugleich den kritisch-melancholischen Abgesang auf diese gewaltige Unternehmung des Menschen. Ja, wir haben den Mars erreicht – aber er auch uns: Die Invasion vom Mars, von H.G. Wells 1897 in Bilder gefasst, hat tatsächlich stattgefunden und die Erde zu einer roten Wüstenei verunstaltet. Die Mikroben, die einst die Marsianer besiegten, sie haben die Menschen besiegt. Was für eine makabre Ironie.

Die Frage ist, warum Bridgman im Reservat geblieben ist. Bei Louise Woodward ist das Motiv klar: Sie wartet auf die Wiederkehr ihres toten Mannes auf die Erde. Travis liebt sie und verbündet sich gegen Bridgman mit ihr. Doch der Architekt findet endlich heraus, warum er hier auf dem Abstellgleis der Geschichte geblieben ist: Der Mars war der Ort seiner Wünsche. Und als ein Astronaut mit seinem fliegenden Sarg in die Erde kracht, als brächte er diese Wünsche zurück, sieht Bridgman seine Träume erfüllt: „Wir haben es geschafft!“ triumphiert er, als ihn die Menschenfänger einsacken.

Im Anschluss sollte man „Der tote Astronaut“ lesen.

12) End Game

Nach der Revolution sind die Zeiten bekanntlich schwierig und voller Gefahren. Das muss auch der gewiefte Parteiintrigant Constantin am eigenen Leib erfahren. In einem kafkaesken Verfahren wird er von den Parteibonzen nicht etwa offiziell eines Verbrechens beschuldigt und verurteilt, sondern muss selbst seine Unschuld und sein Wohlverhalten unter Beweis stellen. Er wird kaltgestellt und in eine gut bewachte Villa verbannt. Ein Aufseher, eine Ordonanz und ein Henker leisten ihm Gesellschaft.

Constantin weiß, dass er praktisch zum Tode verurteilt wurde – der Henker beweist. Die wichtigste Frage lautet: wann passiert es? Die zweite Frage lautet: Wie passiert es? Malek, der Henker, ist ein bulliger Slawe und undurchschaubar. Beim Schachspiel will Constantin ihn entsprechend aushorchen und besiegen. Doch der Henker erweist sich als ebenbürtiger Gegner …

Mein Eindruck

Veranschaulicht in dem Paradigma des Schachspiels geht es hier um das Verhältnis zwischen Unschuld und Schuld. Erst als Constantin überzeugt ist, dass er unschuldig ist, wird sein henker aktiv: Offenbar ist dies das eigentliche Verbrechen, dessen er schuldig sein kann. Das bedeutet, dass alle an Schuld teilhaben, dass alle, wie im Schachspiel, Mitspieler im Schuldspiel sind. Wenn einer durch Beteuerung seiner Unschuld „aussteigt“, bricht er die implizite Regel und muss exekutiert werden. Es ist, wie der Autor selbst im text andeutet, eine kafkaeske Erzählung.

13) The Drowned Giant

Eines Tages wird auf dem Watt vor der Küste ein ertrunkener Riese entdeckt. Die Fischer, die sich ihm wagemutig nähern, erscheinen vor seiner stillen Masse wie Zwerge. Sobald er berührt ist und seinen Zauber verloren hat, eignen ihn sich die Küstenbewohner an. Sie besteigen ihn, hüpfen auf ihm herum, bemächtigen sich seines nackten Fleisches, stellen seinen Penis als „Walfischpenis“ im Zirkus aus, benutzen seine Rippen als Gartentorverzierung. Auch die Wissenschaft will ihr „Pfund Fleisch“ von dem kostenlosen Exemplar.

Mein Eindruck

Der Chronist berichtet alles minutiös und leicht verständlich (im Gegensatz zu „Die Stimmen der Zeit“). Was er jedoch mit keiner Silbe erwähnt, sind die Fragen nach der Herkunft eines solchen Fabelwesens. Alle Überlegungen sind rein materialistisch. Falls der Riese die Wirklichkeit erweitert hat, so wird dies nicht erörtert, als habe jemand Angst davor. Diese Art des Scheuklappendenkens kann einem wirklich Angst machen.

14) The Terminal Beach

Der frühere Bomberpilot Traven hat seine Frau und seinen Sohn bei einem Unglück verloren. Etwas treibt ihn dazu, das verlassene Eniwetok-Atoll zu besuchen, wo er strandet. Das Atomversuchsgelände ist eine gespenstische Szenerie, in der er sich notgedrungen einrichten muss. Kameratürme ragen wie Obelisken in den verstrahlten Himmel, und hunderte von Betonblöcken säumen die Seen um den Bodennullpunkt.

Zwischen ihnen richtet er sich ein, wird schwächer, halluziniert seine Familie. Zwei Biologen besuchen ihn, doch die Erholung durch ihre Medikamente ist nur zeitweilig. Vor einem Navy-Suchtrupp versteckt er sich erfolgreich. Mit der Leiche eines japanischen Bomberpiloten – Dr. Yosuda – verständigt er sich über Familien im Osaka des Jahres 1944, vor exakt 20 Jahren. Die Leiche leistet ihm stille Gesellschaft, bis es mit Traven auf dem Endzeitstrand zu Ende geht.

Mein Eindruck

Diese Condensed Novel verschmilzt auf faszinierende Weise Metaphern aus Natur, Philosophie und Physik. So ist etwa von „quantaler Zeit“ die Rede. Die zentrale Metapher aber ist der Endzeitstrand selbst: Er ist das in die Gegenwart geworfene Menetekel eines künftigen Post-Atomkrieg-Szenarios, den Lebenden zur Warnung. Doch da Traven alles Lebenswerte genommen worden ist, begibt er sich freiwillig in den psychischen Sog dieser Todeszone.

Dort nimmt er einerseits das Schicksal der Strahlentoten eines Atomkriegs vorweg, wiederholt aber auch das Schicksal der Ermordeten von Hiroshima, die von Dr. Yosuda verkörpert werden. Das Bild eines zyklischen Geschichtsverlaufs welches auch in Millers „Lobgesang auf Leibowitz“ gezeichnet wird – ist der reine Horror: Der Mensch ist offenbar unfähig, aus seinen Fehlern zu lernen und gezwungen, sie zu wiederholen.

15) The Cloud Sculptors of Coral D

An der Autobahn nach Lagoon West erheben sich die Wohntürme wie weiße Pagoden. Wohnturm Coral D beherbergt eine Künstlerkolonie: die Wolkenbildner. Die drei Segelflieger segeln mit ihre Flugdrachen durch die Thermik, die an dem Wohnturm emporsteigt und durchschneiden die Wolken darüber, um sie (mit Hilfe von Silberjodid) zu Skulpturen zu formen. Alles geht gut, bis eines Tages die ebenso reiche wie wahnsinnige Leonora Chanel auftaucht.

Leonora Chanel ist eine Milliardärserbin von der französischen Riviera. Von ihrer Sekretärin Beatrice erfährt Major Parker, der Gründer des kleinen Fliegerklubs, dass Leonora im Ruch steht, beim Selbstmord ihres reichen Gatten ein wenig nachgeholfen zu haben. Außerdem stellt sich heraus, dass von den drei Fliegern – Parker bildet die Bodenmannschaft und den Agenten – Nolan, der Künstler, bereits mal Streit mit ihr hatte: Ihr gefiel sein unschmeichelhaftes Porträt nicht. Van Eyck, der Schürzenjäger, wird ihr neuester Lover.

Am schlimmsten aber trifft ihr Zorn Petit Manuel, den zwergwüchsigen Flieger. Sie verachtet Kleinwüchsige als „Krüppel“. Die Folgen ihrer arroganten Selbst- und Rachsucht führt bei einer Privatvorstellung zu ihren Ehren zu einer Katastrophe. Nicht nur für die Flieger, sondern auch für sie selbst.

Mein Eindruck

Eine der besten (und bekanntesten) Erzählungen des Wortmagiers Ballard! Die Metaphern und Vergleich sind von erlesener Bissigkeit, die sexuellen Untertöne schreien geradezu nach Erlösung, die Katastrophe erfolgt in Form eines Tornados – einfach erstklassig. Dies ist – wie auch die anderen Stoys – die ultimative verbale Vernichtung des mondänen Jet Sets, wie er sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre an der Cote d’Azur etablierte.

Eine ideale Ergänzung zu Jean-Luc Godards Spielfilm „Die Verachtung“ mit Brigitte Bardot, Michel Piccoli, Jack Palance und dem alten Fritz Lang. Nur dass bei Ballard die Bildsprache ebenso ausgefeilt ist wie die tatsächlich gesagten Sätze und alles durch die Metaphern zugleich überhöht und vertieft wird. Wer würde schon eine reiche Erbin mit Schlangen und Madonnen verbinden? Am besten gleich Bob Dylans LP „Subterranean Homesick Blues“ von 1965 als Soundtrack auflegen! Das ist auch von Madonnen und Zwergen die Rede.

16) The Assassination of John Fitzgerald Kennedy Considered as a Downhill Motor Race

Das Rennen beginnt mit dem Startschuss durch (Lee Harvey) Oswald. John Fitzgerald Kennedy ist am Start, dann der Gouverneur von Texas (Wallace) und natürlich Vizepräsident (Lyndon B.) Johnson. Unfair! An Bord des Präsidenten-Autos befindet sich eine Frau!

Der Parcours führt von der Plaza inmitten von Dallas, wo feindselige Einheimische den Präsidenten beobachten, über das Parkland Hospital bis zum Love Air Field, von wo JFKs Leichnam nach Washington, D. C. geflogen wird. JFK ist ganz klar disqaulifiziert worden, aber trotzdem ist sein Körper bzw. sein Sarg in die US-Flagge „Old Glory“ gehüllt.

Als der Schuss im Schulbuchdepot, das die Plaza überragt, fällt, läuft eine Kamera, die von Zapruder. Sein Film wird mindestens so berühmt wie der Report der Warren-Kommission, die Oswald zum einzigen Schützen erklärt. Aber wer lud Oswalds Startpistole mit echter Munition? Und warum schoss er dreimal?

Mein Eindruck

Nach dem Vorbild von Alfred Jarrys Geschichte „Die Kreuzigung, als Bergaufradrennen betrachtet“ wirft der Autor die bekannten Ereignisse von der Ermordung JFKs in die Modellierschale eines Autorennens – und heraus kommt dabei eine völlig neue Sichtweise auf die Ereignisse, die die sechziger Jahre völlig verändern sollten. Man kann diese Methode makaber oder bizarr nennen, aber sie ist legitime Kunst.

17) The Atrocity Exhibition

Südengland, Shepperton (wo der Autor wohnte), nahe den Filmstudios, ca. 1966.

Travis ist ein Patient in Dr. Austins Klinik, aber er ist geflohen und tut sich nun, auf dem verlassenen Waffenerprobungsgelände, mit einer jungen Frau und einem Piloten zusammen. Seine Frau Margaret Travis ist derweil Gegenstand eines Films, den Oberst Webster dreht. Auch Catherine Austin spielt eine rätselhafte Rolle, offenbar als heimliche Geliebte von Travis – denn es ist unklar, ob Austin und Travis Arzt oder Patient oder gar beides sind.

Die rätselhafte Viereck-Beziehungskiste kulminiert in einer bizarren Explosion auf dem Waffenerprobungsgelände, bei der das riesige Plakatbild von Elizabeth Taylor zerfetzt wird.

Mein Eindruck

Die „Ausstellung der Gräuel“ eines künftigen oder vergangenen 3. Weltkriegs setzt sich aus einer umfangreichen Folge von kurzen Szenen eher surrealen Charakters zusammen. Surrealisten wie Max Ernst, aber auch Freud, Marilyn Monroe, die Garbo und natürlich Elizabeth Taylor bzw. deren überdimensionale Ikonen werden herbeizitiert.

Aus Autorkommentaren in einer Sonderausgabe ist zu erfahren, dass die taylor, die letzte der großen Filmdiven, hier eine Lungenentzündung erlitt und einem Luftröhrenschnitt unterzogen werden musste, um ihr Leben zu retten. Was für ein genialer Subtext! Er war natürlich vor allem den Zeitgenossen gegenwärtig, die diesen rätselhaften „verdichteten Roman“ (condensed novel) zu interpretieren hatten, indem sie die Puzzleteile zusammensetzten.

18) Plan for the Assassination of Jacqueline Kennedy

Patienten der Psychiatrie sollen wählen, welche Politiker-Frau sie am attraktivsten finden. Die Wahl fällt ganz klar auf Jacqueline Kennedy. Die Gründe sind ebenso erstaunlich wie eindeutig: Sie ist der Star in dem Film „Die Ermordung des Präsidenten John F. Kennedy“.

Sie fährt IN einem Sexsymbol, einem Lincoln Continental, der wie ein schwarzer, kraftvoller Penis aussieht. Sie fährt NEBEN einem Sexsymbol, nämlich dem Präsidenten, dem bekanntlich auch andere Frauen zu Füßen lagen. Und: Öffentlich, vor rund 600 Augenpaaren auf der Dealey Plaza, eilt sie ihrem Mann zu Hilfe, und es ist völlig klar, welche Rolle sie nun spielt: eine Pornodarstellerin, leicht zu erkennen an den Spritzern auf ihrer Bluse…

Mein Eindruck

Dieser pseudo-wissenschaftliche Text ist quasi das Vorspiel zu dem späteren Text „Crash“ in „Atrocity Exhibition“ und zum gleichnamigen Roman. Menschen, die in Autos ums Leben – erotischer geht es nicht mehr. Zumindest dann, wenn man Psychiatriepatienten befragt. Allerdings: Wir sind inzwischen alle Psychiatriepatienten, da wir in einem Wachtraum wandeln, der von einem konstanten Strom von Videoclips und News-Fotos gespeist wird.

Der Wachtraum, induziert von Zapruders berühmtem Amateurfilm (inzwischen ein nationales Erbstück der USA), entmenschlicht die werdende Witwe bei ihrem letzten intimen Akt mit ihrem Mann zu einer Porno-Aktrice, und das Vehikel, in dem sie agiert, wird einer öffentlichen Bühne. „Ein rasendes Auto ist schöner als die geflügelte Siegesgöttin von Samothrake [im Louvre]“, sagte anfangs des 20. Jahrhunderts bereits der italienische Futurist Marinetti.

Der pseudowissenschaftliche Ton des Textes schafft es, jede Emotion aus der Szene zu verbannen und sie so zu reiner Pornografie umzuwandeln. „Wissenschaft“, sagt der Autor, in seinen Kommentaren zur Sonderausgabe von 1990, „ist pure Pornografie.“ Und die Bilderflut der Medien, die in den sechziger Jahren mit dem Fernsehen begann, den Wachtraum zu erzeugen, hält bis heute an.

19) Why I Want to Fuck Ronald Reagan

Psychiatriepatienten verschiedenen Alters und unterschiedlichen Hintergrunds, u. a. Serienmörder, werden verschiedene Modelle von Ronald Reagan zur Bewertung vorgelegt. Ronald Reagan war bis 1964 ein bekannter Schauspieler und kandidierte ca. 1967 erfolgreich für das Amt des Gouverneurs von Kalifornien. 1980 kandidierte er erfolgreich für das Amt des US-Präsidenten.

Die Patienten sollten bewerten, wie erotisch die verschiedenen Aspekte Reagans seien. Bei welchen Details, Stellungen, Körpermerkmalen usw. würden sie erfolgreich einen Orgasmus erreichen? Wie sich herausstellte, spielte dabei nicht nur das Gesicht des Kandidaten, sondern besonders seine Stimme eine wichtige Rolle, nicht jedoch das, was er sagte. Schließlich sollten sich die Patienten einen möglichen Sex-Tod Reagans vorstellen.

Mein Eindruck

1970 stampfte der amerikanische Doubleday-Verlag seine gesamte Auflage ein, diesen text enthielt. Wenig später stellt das Amtsgericht von Brighton, UK, den Buchhändler Bill Butler, der den Text als Büchlein in anonymer Verpackung anbot, vor Gericht. Der Autor wurde vor dem Gerichtstermin von einem Anwalt der Verteidigung gefragt, ob er als Zeuge zur Verfügung stünde und sagte ja.

Auf Befragung bestätigte Ballard, dass der Text obszön sei und sein sollte. Er sollte Reagan angreifen, aber er schildere an keiner Stelle, ob und wie Reagan gefickt werde. Der Buchhändler wurde verurteilt, aber bald wieder freigelassen, trug es aber Ballard, seinem vormaligen Freund nach, dass der ihn irgendwie hängengelassen habe.

Wie auch immer: In seinen Kommentaren zur US-Sonderausgabe von 1990 schreibt der Autor, wie er auf den Text kam. Ihm fiel bei Reagans TV-Auftritten auf, dass der Mann sanft und verständnisheischend sprach, aber inhaltlich eine knallharte rechte Attacke gegen die Regierung von Kalifornien ritt. Anscheinend schien dies niemand sonst aufzufallen, und das gab dem Autor zu denken.

Ein köstliches Bonmot ist es, dass genau dieser Text, der Überschrift und Zwischenüberschriften entkleidet, 1980 auf einer Wahlveranstaltung des Präsidentschaftskandidaten verteilt wurde. So, als handle es sich um psychiatrische Befürwortungen von Reagans erotischen Qualitäten. Was der Autor im Berichtsstil formuliert, entstammt seiner eigenen Fiktion, beeilt er sich zu versichern, und nicht etwa echten Reporten aus der Psychiatrie.

Unterm Strich

Die 19 Erzählungen aus der Zeit zwischen 1957 und 1978 gehören mittlerweile fest zum Kanon der Zukunftsliteratur, insbesondere zu der Ära der New Wave, die in Großbritannien (und bei manchen Autoren auch in den USA) die SF der sechziger Jahre prägte. Die Übertragung von Stilmitteln der modernen Literatur und moderner wissenschaftlicher Ideen aus der Psychologie und Verhaltensforschung transformierte die SF der fünfziger Jahre und ermöglichte es besonders Ballard, dem führenden Sprecher der New Wave, ätzende Kritik an den kulturellen Auswüchsen der sechziger und siebziger Jahre zu üben, die schon bald auf scharfen Widerspruch traf – recht so! Denn genau das wollte Ballard erreichen: eine relevante, weil anstößige Literatur, die den Politikern und Medienmachern ans Schienbein trat.

Die vier zeitgebundene Texte aus „The Atrocity Exhibition“ musste der Smmler bislang entweder in dem teuren Komplettband „Liebe & Napalm: Export USA“ suchen oder – in Auszügen – in den zwei Storybänden „Die Stimmen der Zeit“ und „Vom Leben und Tod Gottes“, die der Heyne-Verlag veröffentlichte, zu einem stattlichen Preis kaufen. Der vorliegende Band liefert vier der Stories preiswert, wenn auch im Original.

Zwei Klassiker der phantastischen Literatur findet man immer wieder in Anthologien abgedruckt: „Der ertrunkene Riese“ und „Der Garten der Zeit“. Anthony Burgess, der Verfasser des Vorworts, bezeichnet sie zu recht als Klassiker: „two of the most beautiful stories of the world canon“. Ebenso wichtig für die SF sind sicherlich die Novellen „Die Stimmen der Zeit“, „The Terminal Beach“ und eventuell auch „Thirteen for Centaurus“, das offenbar so manchen epigonalen Autor inspiriert hat. Ballards Stories rechnen mit dem Raumfahrtzeitalter bereits ab, kaum dass es begonnen hat.

Das sehr schöne Umschlagbild möchte ich gesondert hervorheben. Es zeigt als einziges, das ich kenne, das Thema der Story „Die Wolkenbildner von Coral D“: die Drachenflieger, die Wolken formen, um sich damit vor einer zwielichtigen Frau zu produzieren. Leonora Chanels Gesicht sieht man links unten.

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Taschenbuch: 302 Seiten
Sprache: Englisch
ISBN-13: 978-0671614515