James Morrow – Bible Stories for Adults. Erzählungen

Bibelgeschichten und andere Fabeln gegen den Strich gebürstet

Diese Story-Sammlung vereint Morrows Erzählungen aus den Jahren 1984 bis 1995. Sie sind meist provokative Satiren auf religiöse Glaubenssätze und Legenden, etwa auf die Sintflut, die Bundeslade und den Turmbau zu Babel. Doch die Gleichnisse reichen wesentlich weiter, so wird etwa Mutter Erde als Tochter eines bodenständigen Yankee-Ehepaares aus Pennsylvania geboren, und Androiden halten die Grundsätze von Darwins Evolutionslehre für göttliche Gebote.

Der Band enthält die mit dem NEBULA Award ausgezeichnete Erzählung „Bible Stories for Adults No. 17: The Deluge“ (1991). Das Titelbild eines mir unbekannten flämischen Meisters zeigt verzweifelte Menschen in der Sintflut sowie die Bundeslade.

Der Autor

James Morrow, geboren 1947 in den USA, hielt in den siebziger Jahren Vorlesungen, bevor er Redakteur beim Branchenmagazin „Media and Methods“ wurde und zudem Material für das Boston-Fernsehen herstellte. In den achtziger Jahren schrieb er Schulbücher für Kinder und schließlich auch Jugendromane. Erst dann wandte er sich der moralisierenden, warnenden Art von Science Fiction zu, für die sein Mentor Kurt Vonnegut („Die Sirenen des Titan“) Pate stand. Doch anders als Vonnegut, der nie an der Macht seines Mediums zweifelt, ist Morrow zu gebildet, um unkritisch die Regeln des Genres befolgen zu können. So bricht in seinen Werken immer wieder der Unglaube an das Medium durch.

Einer der ersten bei uns veröffentlichten Romane Morrows, „Die eingeborene Tochter“ (Only Begotten Daughter), wurde mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet. „Die Stadt der Wahrheit“ (City of Truth ) wurde 1993 mit dem renommierten Nebula Award der Science Fiction-Kritiker als beste Novelle des Jahres geehrt. Die Übersetzung erschien bei Heyne.

Sein bekanntestes Werk stellt die Godhead Trilogy dar, deren erster Teil „Towing Jehovah“ (1994, dt. „Das Gottesmahl“) ebenfalls den World Fantasy Award gewann. Hier muss der zwei Meilen lange, im Meer schwimmende Leichnam Gottes im Geheimauftrag des Vatikans geborgen werden. Die Folgebände sind „Blameless in Abaddon“ (1996) und „The Eternal Footman“ (1999).

Morrow ist verheiratet und hat einen Sohn. Zurzeit lebt er im Bezirk State College in Pennsylvania. (teilweise Quelle: Wikipedia.de)

Romane

1981 The Wine of Violence (deutsch: „Der Wein des Frevels“, Goldmann, 1983, übersetzt von Eva Malsch)
1983 The Adventures of Smoke Bailey
1984 The Continent of Lies (deutsch: „Der Kontinent der Lügen“, Heyne, 1992, übersetzt von Peter Robert)
1985 This Is the Way the World Ends (deutsch: „So muss die Welt enden“, Heyne, 1994, übersetzt von Horst Pukallus)
1990 Only Begotten Daughter (NEBULA Award; deutsch: „Die eingeborene Tochter“, Heyne, 1992, übersetzt von Christian Mähr)
1991 City of Truth (deutsch: „Die Stadt der Wahrheit“, Heyne, 1993, übersetzt von Irene Bonhorst)
1994 Towing Jehovah (NEBULA Award; deutsch: „Das Gottesmahl“, Heyne, 1999, übersetzt von Horst Pukallus)
1996 Blameless in Abaddon
1999 The Eternal Footman
2006 The Last Witchfinder
2008 The Philosopher’s Apprentice
2009 Shambling Towards Hiroshima
2014 The Madonna and the Starship
2015 Galápagos Regained

Die Erzählungen

1) Bible Stories for Adult No. 17: The Deluge (1988; NEBULA)

Die Sintflut ist gekommen, und der Hure Sheila ist es gelungen, in einem Dinghi dem nassen Tod zu entgehen. Das war von Jahwe nicht vorgesehen, weiß sie, und bereitet sich auf den Tod vor, als SEIN enormer Leib ihr winziges Gefährt unter sich begräbt.

Doch es war nur die Arche, auf der sich die Auserwählten Jahwes befinden: der sechshundert Jahre alte Noah und seine Gattin Reumah sowie seine Söhne Ham, Japheth und Shem sowie deren Gattinnen. Und natürlich jeweils mindestens zwei Exemplare von Millionen Kreaturen, darunter sogar Tyrannosaurier und Allosaurier.

Kaum ist Sheila an Bord gehievt, geht die Diskussion los. Da sie offensichtlich eine fette, wabbelige und verlotterte Hure ist und noch dazu nicht zu den Auserwählten gehört, sollte sie nach dem Willen Jahwes getötet werden, sagt Ham. Für das Weib sei der Schweinstall gerade gut genug. Doch es ist Ham, den Sheila, von seinem Plan unterrichtet, als erstes verführt und um seinen Samen bringt…

Am 17. Juli 1057 nach der Erschaffung der Welt (welche bekanntlich an einem genau bekannten Datum vor über 6000 Jahren erfolgte) läuft das Schiff „Eden II“ auf Grund. Es ist der Berg Ararat. Sheila ergreift sofort die günstige Gelegenheit, mit ihrer Leibesfrucht und den Samenproben von Shem und Japheth zu entkommen. Denn auch sie hat ein Zeichen Jahwes erhalten…

Mein Eindruck

Nicht bloß die Rechtschaffenen und sogenannten Auserwählten haben es verdient, dem Zorn Jahwes zu entgehen, sondern auch Menschen wie die sündige Frau, die hier den Namen Sheila trägt. In den Augen christlicher Fanatiker ist sie eine mehrfache Ketzerin: Die Dirne hat elf ungewollte Kinder abgetrieben, ist lesbisch, promiskuitiv, Diebin und Trunkenbold, kurzum – eine geradezu barocke Kreatur von exzessiv sündigem Lebenswandel.

Sie ist dem Leser sofort sympathisch, erkennt er doch zahlreiche Figuren seiner eigenen sozialen Umgebung sofort in ihr wieder. Wer sie verdammt, der werfe den ersten Stein. Und so wie Noah die zurückgekehrte Taube als Symbol der Rettung durch Jahwe erhält, so bekommt auch Sheila einen Gottesboten gesandt…

2) Daughter Earth (1991)

Ben und Polly wünschen sich ein zweites Kind. Sie leben auf ihrer Farm im ländlichen Pennsylvania von der Zucht von Beagle-Hunden und Gartenfrüchten. Asa, ihr erstes Kind, ist schon über elf Jahre alt, als Polly dank der Hormonbehandlung von Dr. Borealis endlich schwanger wird. Doch die Untersuchung ihres Fruchtwassers ein paar Monate später zeigt keine Leibesfrucht der üblichen Art. Es ist eine Biosphäre, sagt ein erschütterter Dr. Borealis, und wegen deren Umfangs kommt nur ein Kaiserschnitt in Frage.

Das Baby ist ein Prachtstück, und die Eltern wollen das süße Mädchen Zenobia nennen. Dank ihrer Spezialsekte von der Apostolischen Abfolge brauchen sie keine Kirche um Erlaubnis für diesen Namen für das neue Wesen zu fragen. Ihrem Newsletter „Down to Earth“ glaubt eh kein Abonnent, als sie von Zenobia zu erzählen anfangen.

An ihrem Nordpol besitzt Zenobia so etwas wie einen Mund, und mit dem nuckelt sie an Pollys Brust. Asa hasst sie. Nun muss er die Liebe seiner Eltern mit jemand anderem teilen. Doch schließlich entdeckt er, dass das neue kleine Wesen zu etwas gut ist: als wissenschaftliches Forschungsobjekt. So gelingt ihm ein Triumph: Er entdeckt neues Leben in ihren Ozeanen, Echsen und Fische. Bald tauchen sogar Dinosaurier auf, und auf diese Vielfalt des Lebens ist Zenobia besonders stolz.

Am vierten Juli, dem Nationalfeiertag, spielen die Nachbarskinder ihr jedoch einen fiesen Streich: Sie werfen sie unter die Beagles, und die Hunde benutzen die Biosphäre als Fußball und Übungsknochen. Als Asa den Schaden entdeckt, ruft er seine Eltern herbei, die eine Rettungsaktion durchführen können. Zenobia lebt, doch alle ihre Dinos sind vernichtet worden. Aber es soll noch schlimmer kommen.

Dr. Borealis hat seine Klappe nicht halten können und seinen Kollegen von der Biosphäre erzählt. Mr. Logos (nomen est omen) hat im Innenministerium der Bundesregierung erzählt, was für einen potentiellen Schatz eine echte, lebende Biosphäre darstellen würde. Vor den entsetzten Eltern malt er ihnen aus, welche Lehren aus Zenobias Reaktionen auf die Vergiftung durch Blei, Chrom und anderen Stoffen gezogen werden könnte. Sie wäre sozusagen eine Art warnender Kanarienvogel, wie in den einstigen Bergwerken. Die Regierung würde ihnen Zenobia für schlappe 300.000 Mäuse abkaufen. Na, wäre das nicht ein toller Deal?

Kein Deal, lautet das einhellige Urteil der Eltern. Sie lieben ihre Tochter wirklich, denn sie spricht zu ihnen von ihren Erfahrungen und Hoffnungen. Und zu denen gehört sicherlich nicht, langsam vergiftet zu werden. Mr. Logos schaltet auf stur. Nach den Untersuchungen, die er an Zenobia machen durfte, trägt sie einen Virus, vor dem man (= Regierung) die Bevölkerung schützen müssen. Ben und Polly werfen diese Typen hinaus, die ihnen nur noch einen Tag Zeit geben, es sich anders zu überlegen.

Zusammen mit Asa fahren Ben und Polly auf den Berg Skyhook, um von ihrer lieben Tochter Abschied zu nehmen. Zenobia liebt den nächtlichen Sternenhimmel, und Asa hat ihr alle Sternbilder gezeigt, die er kennt. Eines davon wird ihr schon gefallen. Dann wirft Benn die Biosphäre in die Luft, und sie entschwebt langsam, bis sie aus dem Blick gerät. Zwei Jahre später erhalten die Eltern auf ihrem Computer eine Botschaft von ihrer Tochter. Nicht sie sei der Kanarienvogel, sondern die Erde…

Mein Eindruck

Die Erzählung ist nicht nur eine schräge Eltern-Kind-Story, sondern enthält auch, wie viele Fabeln, eine Lehre und eine Warnung. Zenobia durchläuft die uns bekannte Evolution im Schnellvorlauf, bis hin zu den Dinosauriern. Als sie sich von einem anderen Stern meldet, ist die Evolution bis zu den ersten Menschen fortgeschritten: Ben und Polly seien jetzt Großeltern.

Diese Menschen wolle Zenobia nun anhand des warnenden Beispiels der Erde zu besserem Verhalten erziehen. Denn, wie gesagt, ist nicht Zenobia der Kanarienvogel, der vor Gefahren warnt, sondern die Erde, die von den Menschen bis an den Rand der Selbstzerstörung vergiftet worden sei. Und Ben begreift, dass Zenobia im Grunde keineswegs seine Tochter ist, sondern das genaue Gegenteil: eine Mutter, die mit den Menschen ein Experiment ausgeführt hat, das offenbar gründlich schiefgelaufen ist.

3) Known But to God and Wilbur Hines (1991)

Wilbur Hines, gestorben 1918, hat es bis auf den Nationalfriedhof Arlington bei Washington, D.C. geschafft: Er ist ein Kriegsheld, zumindest offiziell. Ein Soldat der Ehrenwache geht an seinem Grab auf und ab, doch auf Wilbur Hines‘ Grabstein steht nicht sein Name, sondern lediglich „Known But to God“: Nur Gott kenne seinen Namen. Dies ist seine Geschichte, erzählt von ihm selbst.

Mein Eindruck

Wilbur Hines ist alles andere als ein Vorbild, stellt der Autor mehrfach heraus, und schon gar kein Kriegsheld. Tatsächlich erschoss Hines sogar einen Vorgesetzten, weil der ihm einen unsinnigen Befehl gegeben hatte. Aber Hines gelang es, nicht an Senfgas zu sterben oder sich ins MG-Feuer der „Heinies“ zu werfen. Vielmehr schaffte er es, sieben deutschen Teenagern den Bauch aufzuschlitzen und dafür dekoriert zu werden. Er schaffte es, sich den Tripper einzufangen, als er wie alle anderen die französischen Bordelle in Bar-le-Duc frequentierte. Und als eine der Damen ihn verpetzen wollte, na, da rammte er ihr das Bajonett seines Remington-Gewehrs dahin, wohin die Sonne nicht scheint.

Die ganze Geschichte vom Überlebenskampf dieses jungen G.I. stellt den Leser vor die Frage, ob er nicht den Überlebenswillen dieses Soldaten bewundern soll – oder doch lieber die alleinseligmachende Lüge vom Kriegshelden glauben soll. Jedenfalls bleibt dem Leser die bittere Ironie der Geschichte nicht verborgen. Das Lachen bleibt einem im Halse stecken.

4) Bible Stories for Adult No. 20: The Tower (1990)

Michael Prete hat ein Problem: Er hat einen Termin mit Gott, den er nicht canceln kann. Gott hat nämlich seine ultrageheime Telefonnummer und findet ihn überall. Glücklicherweise ist Michael Prete nur der Sekretär desjenigen, den Gott in Wahrheit sprechen will: Daniel Nimrod. Nimrod (siehe die Bibelgeschichte über Jonas und Ninive) ist der Donald Trump seiner Zeit. Der fragliche Tower (der Überschrift) ist der Treffpunkt, an dem Gott diesen Tycoon treffen will. Um was zu tun, bitte schön? Um ihm einen geschäftlichen Vorschlag zu machen. Michael Prete weiß (noch)nicht, dass man mit „Vorschlägen“, die von Göttern kommen, äußerst vorsichtig umgehen sollte. Das Gott DER Gott ist, demonstriert er mit einer kleinen Wetternummer in New York City. Okay, okay.

Wie auch immer: Michael bittet seinen Dienstherrn, den er mit „Sir“ anreden muss, zu dem kleinen Stelldichein im Penthouse des Nimrod Towers. Er muss zugeben, dass GOTT ein Outfit trägt, das um einige Klassen höher liegt als das von Nimrod. Nachdem GOTT seinen Gastgeber von seiner Göttlichkeit überzeugt hat, trägt er ihm seine Bitte vor: Der Nimrod Tower muss geschlossen werden. Und die beiden Projekte einer Nimrod-Schlucht und eines Nimrod-Berges könne der Erdling gleich ebenfalls streichen.

„Sonst was?“, will Nimrod, wenig eingeschüchtert, wissen. „Sonst werde er, GOTT, die babylonische Sprachverwirrung, die seinerzeit eine klasse Erfindung war, ein für alle Mal aufheben. Wie das geht, demonstriert er an dem unschuldigen Michael Prete: eine umfassende geistige Erleuchtung. Auf einmal redet Michael wie ein Harvard-Professor in astreinem Akademiker-Englisch. Und, mein GOTT, er versteht Nimrods psychologisches Problem: Ödipus! Papperlapapp, meint Nimrod und weist das „Angebot“ zurück. Eine Schließung dieser lukrativen Immobilie käme überhaupt nicht infrage.

Na, schön, meint GOTT, er habe es so gewollt. Und hebt die babylonische Sprachverwirrung auf. Im Handumdrehen werden sich alle Fahrer von Taxis, Bussen, U-Bahnen, Zügen und LKWs ihrer Intelligenz bewusst – und ihrer Ausbeutung. Der Verkehr in New York City kommt zum Erliegen, und nicht nur hier: in der ganzen Welt. Was aus Michael und Nimrod geworden ist, darf hier nicht verraten werden…

Mein Eindruck

Daniel Nimrod ist Donald J. Trump und ist ebenso größenwahnsinnig. Ich habe im Herbst 1991 den Trump Tower an der Fifth Avenue selbst besucht und den in der Story beschriebenen Wasserfall gesehen sowie die geschmacklosen Shops mit ihren überteuerten Kinkerlitzchen links liegen lassen. Der Spielwarenladen FAO Schwartz an der Upper Fifth nahe der Stadtbibliothek hat mir besser gefallen, ebenso wie das Archiv der Bibliothek.

Berücksichtigt der Leser diesen unschwer zu entdeckenden Zusammenhang, ergibt die ganze Story einen einleuchtenden Sinn. Nimrod hat ebenfalls einen Minderwertigkeitskomplex, den er mit phallischen Türmen und anderen Objekten kompensieren will. Aber er baut diese Türme ja nicht selbst, sondern beutet Leute aus, als wäre er der Bauherr des Turms zu Babel. Die Ausbeutung entspricht der Sprachverwirrung, die für niedrige Intelligenz steht. Als Gott sie aufhebt, können alle „Sklaven“ auf einmal ausgezeichnet denken und ihre ungerechte Lage erkennen. Die Zivilisation, wie sie bislang im Kapitalismus bestanden hat, bricht zusammen. Und somit auch die Zukunftspläne Nimrods und anderer Tycoons.

Die Handlung ist sehr anschaulich, kenntnisreich und flott geschildert. Man merkt, dass sich der Autor bestens auf der Fifth Avenue und in der New Yorker Stadtmitte auskennt. Wahrscheinlich hat er ebenfalls den Trump Tower besucht, hat mit einem jamaikanischen Taxifahrer geredet und die Stadt aus einem Penthouse betrachtet – oder von der Aussichtsplattform des Empire State Building, die schon damals ziemlich eindrucksvoll ausgestattet war, wie ich bezeugen kann.

5) Spelling God With the Wrong Blocks (1987)

Man schreibt den ersten Juli 2059 auf Prokyon-5. Piers, der Tagebuchschreiber, ist wie sein Zwillingsbruder Marcus, einem Missionar der Wissenschaft, ausgesandt von der Basis auf Arcturus-9. Während sich Piers an der Uni als Lehrer betätigen darf, ist sein etwas eifrigerer Bruder der Verzweiflung nahe. Die hiesigen Bewohner sind zwar allesamt Androiden, halten sich aber für Produkte der Evolution. Androiden halten die Grundsätze von Darwins Evolutionslehre für göttliche Gebote. Dessen zwei Bücher über den „Ursprung der Arten“ sowie den „Ursprung des Menschen“ enthalten Glaubenssätze, die bei Todesstrafe nicht öffentlich infrage gestellt werden dürfen. Das macht der Ältestenrat der Uni ziemlich deutlich. Sämtliche Gegenargumente, wie etwa das Fehlen von Fortpflanzungsorganen, werden widerlegt.

Als Marcus sich Baupläne und Hologramme von seiner Uni besorgt und diese öffentlich in seiner Vorlesung den einheimischen Studenten zeigt, zieht er den Zorn der Ältesten auf sich. Diese treten zwar maskiert auf, doch das Benzin, das sie über Marcus am Schandpfahl vergießen, ist sehr real. Es ist die bislang zu zutrauliche Gastgeberin der beiden Missionare, die das Benzin entzündet… Nun bleibt Piers die Wahl: Soll er dem religiösen Irrsinn der hiesigen Androiden nachgeben oder dem Vorbild seines Bruders nacheifern?

Mein Eindruck

Für Anhänger der real-amerikanischen Kreationisten ist diese Erzählung pure Blasphemie. Deshalb hat Morrow sie ja geschrieben. Die Androiden – von Gott dem Herrn zweifellos nicht in seinem Plan vorgesehen – beten den Propheten Darwin und alle seine Jünger Wallace, Lyell und Huxley an, als seien deren Schriften der Heiligen Schrift ebenbürtig! Ja, sie vertreten die Prophezeiung „The Great Genital Coming“, die ihnen eines Tages Genitalien verheißen hat. Die beiden Missionare vertreten lediglich einen Spezialfall: „Special Creation“. Es ist eine Häresie, wie sich herausstellt, und wird entsprechend ausgetilgt. Bei den Kreationisten ist sie der Mythos vom auserwählten Volk des Herrn.

Die religiöse Mythologie wird also durch das Dogma der Evolutionslehre auf den Kopf gestellt. Doch die Folgen des Verstoßes gegen diese „perversen“ Glaubenssätze bleiben die gleichen: der Scheiterhaufen. Genau das ist der Punkt, den der Autor ausdrücken wollte: Fanatismus ist für den Ketzer tödlich. Wehret den Anfängen.

6) The Assemblage of Kristin (1984)

Kristin Alcott hat den ihr zustehenden Nachruhm erhalten, und zwar in Form einer Gruppe von acht Leuten, die eine Woche lang ihre Verehrung zelebriert. Nach drei Jahren will einer der acht schon nach drei Tagen der Kristin Week aussteigen und zu Frau und Kind zurückkehren. Das hätte er sich früher überlegen sollen, denn die anderen sieben sind eine große Verpflichtung eingegangen: Kristin Alcott hat ihnen allen ihre Organe gespendet.

Die Organe stammen aus einer Organbank, die nicht mit ihren Daten geizt. Daher finden alle Organ-Empfänger auf mysteriöse Weise in New York City zusammen. Es ist, als wäre sie noch am Leben und würde sie zusammenrufen. Es ist Merriwell Alcott, Kristins Mutter, die ihnen Kristins Zimmer zeigt: ihr Vermächtnis. So kommt es, dass der Erzähler, der ihre rechte Hand erhielt, in der Kristin-Woche Tontöpfe entwirft und die Empfängerin ihrer Vagina die Woche mit einem Lover verbringt, obwohl sie sonst streng keusch oder wenigstens monogam lebt. Die Kristiniten nehmen ihre Verpflichtung gegenüber Kristins Vermächtnis sehr ernst.

Ernst sind aber auch die Folgen für den Abtrünnigen…

Mein Eindruck

Die Kristiniten haben also zwei Aspekte: Sie führen den Körper der verblichenen Schutzpatronin symbolisch wieder zusammen – das deutet der Titel der Geschichte an: „das Zusammensetzen Kristins“. Dieser Prozess hat religiöse und psychologische Aspekte. Die zweite Voraussetzung für das Ehren des Vermächtnisses Kristin Alcotts besteht in Märtyrertum. Das ist ein wenig schwerer zu verstehen. Was ist ein Märtyrer? Ein Mensch, der bereit ist, für seinen Glauben ein Opfer zu bringen, mitunter auch das ultimative Opfer: das eigene Leben. Die Geschichte der Christenheit ist voll von solchen Geschichten: Es sind die Heiligen der katholischen Kirche.

Macht das die Kristiniten zu einer Sekte? Der Verdacht ist nicht unbegründet, denn sie haben feste Regeln (die Kristin Week), Strafen für Abtrünnige und eine Prüfung für Kandidaten. Der ganze Text richtet sich an einen solchen Kandidaten, und daher darf sich der Leser fragen, aus welchem Grund ihm diese ungewöhnliche Geschichte erzählt wird. Diese Pointe erfährt er natürlich erst am Schluss. Daher wundert sich der Leser die ganze Zeit über des Rätsels Lösung, was die Lektüre recht spannend gestaltet.

7) Bible Stories for Adult No. 31: The Covenant (1989)

Moses hat eine wahrlich schwere Zeit, und YHWH (= Jahweh), sein Gott, ebenfalls: Die Israeliten erweisen sich als nicht besonders dankbar dafür, dass YHWH für sie das Rote Meer geteilt und die Truppe des rachsüchtigen Pharaos vernichtet hat. Während Moses auf dem Berg Sinai die zehn Gebote auf Tontafeln empfangen hat, schmolzen die Israeliten das geklaute Gold ein, um ein goldenes Kalb zu schmieden. Und das beten sie nun an. Nicht gerade die feine jüdische Art, findet auch Moses. Er zerschmettert die Gesetzestafeln auf dem goldenen Götzen, so dass sie in hunderttausend Scherben zerfallen. Seitdem tun sich die Israeliten schwer, die Gebote Gottes zu entziffern, geschweige denn, sie zu befolgen.

3000 Jahre später ist an der Künstlichen Intelligenz, diesen Scherbenhaufen zu scannen, richtig zu sortieren und der Welt endlich die Gebote Gottes zu offenbaren. David Eisenberg hat den mobilen Computer, den er bestimmt nur rein zufällig YHWH getauft hat, konstruiert und programmiert. Nicht irgendwo, sondern in Philadelphia, der Stadt der brüderlichen Liebe. Hier residiert Kardinalin Wurtz, die ob schwindender Mitgliederzahlen ihrer christlichen Kirche aus der Offenbarung der Zehn Gebote eine große Feierlichkeit machen möchte. Weder David noch YHWH haben damit ein Problem.

Aber am Vorabend erhebt sich der Widersacher in Gestalt des Son of Rust, der unserem braven YHWH in einer dunklen Seitenstraße auflauert. Der widerliche Widersacher will ihm klarmachen, welche schrecklichen Folgen diese Offenbarung haben würde. „Ich meine: Du sollst keinen Gott neben mir haben“ – hallo! Kein Allah, kein Buddha, kein Sonstwer! Es wird Krieg geben!“ Nach etlichen weiteren Beispielen ahnt YHWH, dass die Enthüllung des Gesetzestafeln vielleicht doch nicht so reibungslos ablaufen könnte wie erwartet…

Mein Eindruck

YHWH soll recht behalten. Schon während der Zeremonie kommt es zu Aufruhr, und wenig später in aller Welt zu Protesten. Doch es gibt einen Ausweg: Alles auf null! Der mobile Computer alias Roboter packt die Tafeln , rennt zum nächsten Fenster, wirft sich hindurch und beginnt im Fallen, die Tafeln zu pulverisieren. Während dieses langen Sturzes, der an den Fall des Engels Luzifers (alias „Son of Rust“) erinnert, berichtet er uns die Geschichte vom Anfang und Ende des sog. „Covenant“, des Paktes Gottes mit seinem auserwählten Volk Israel. Dann schlägt er auf der Oberfläche des Flusses Delaware auf. Das war’s dann wohl mit der „brüderlichen Liebe“ in Philadelphia.

Die Erzählung demonstriert, dass auch eine komplette Wiederherstellung des Originals der Zehn Gebote – wir glauben ja Hollywood-Fabeln kein Wort mehr – nichts helfen würde, denn die Zehn Gebote haben seit ihrer Veröffentlichung für Ärger gesorgt, falls sich überhaupt jemand darum geschert hat. Interessanter sind die Änderungen, die der Autor an der fiktiven Situation vorgenommen hat: eine weibliche Kardinalin beispielsweise. Davon ist die Gegenwart leider immer noch weit entfernt.

8) Abe Lincoln in McDonald’s (1989)

US-Präsident Abraham Lincoln reist aus dem Jahr 1863 ins Jahr 2010 und spaziert in die Innenstadt von Washington, D.C. Sein Zeitreiseberater Aaron Green hat ihn vorgewarnt, was er vorfinden könnte. In der Tat ist der Lärm auf der National Mall, wo er zufrieden sein eigenes Denkmal entdeckt, ohrenbetäubend: Stählerne Kondore fliegen mit irrer Geschwindigkeit durch die Lüfte, Dampf schnaubende Kolosse rasen über Schienen und schnaubende und trötende Auto-Mobile machen die Straßen unsicher.

Aber es gibt Sklaven, stellt Abe stirnrunzelnd fest, überall: Auf der Straße arbeiten die Männer mit nacktem Oberkörper, um etwas im Boden zu verlegen; in den Restaurants. Er lässt sich nach mit dem Taxi nach Boston kutschieren. Das kostet zwar 400 Dollar, aber die Sparkasse hat sein Gold akzeptiert, daher ist das kein Problem. Er betritt McDonald’s und genießt einen Big Mac. Köstlich! Wenn das die Zukunft ist, dann soll sie kommen. Und er hat darüber zu entscheiden. In seiner Innentasche trägt er den Seward-Friedensvertrag mit den Sezessionsstaaten. Deren Präsident Jefferson Davis hat bereits unterschreiben. Fehlt nur noch seine, Lincolns, Unterschrift.

Da fällt sein Blick auf eine Grünanlage, auf der gut gekleidete Leute einen weißen Ball durch die Luft schlagen. „Man nennt es Golf“, lässt seine Tischnachbarin ihn wissen. „Wie Krocket?“ „Nein, wie Golf“, beharrt sie und leiht ihm ihren Stift. Er unterschreibt den Seward-Vertrag, bevor er den Golfplatz des Country Clubs betritt. Dort wird er Zeuge einer schrecklichen Bluttat…

Dr. Walter Sherman hat von Dr. Norman Grant eine bestürzende Nachricht erhalten: Sein Sklave Jimmy hat das Blauer-Nil-Fieber. Er hat höchstens noch ein Jahr, bevor sein Immunsystem zusammenbricht. Doch Walters Frau Marge ist hochschwanger, und dann ist da noch die kleine, brillante Tanya: Beide gilt es zu schützen, notfalls mit einer Parabellum in der Hand. Nachbar Burnside wundert sich, dass Walter eine so offensichtliche Gefahrenquelle noch frei herumlaufen lässt.

Walter verspricht Tanya ein Sklavenjunges und begibt sich am nächsten Tag mit Jimmy auf den Golfplatz. Alles läuft bestens, denn gegen eine Parabellum hat ein Sklave, der davonläuft, keine Chance. Doch dann tritt dieser Typ hervor, der wie Abe Lincoln gekleidet ist. „Ich habe alles mitangesehen“, sagt er und zerreißt ein Stück Papier. Dann flimmert die Luft um ihn herum, bis er verschwunden ist. Walter hat ein ungutes Gefühl und kontrolliert die Leiche Jimmys: Statt aus Fleisch und Knochen besteht sie nun aus Metall und Drähten…

Mein Eindruck

Obwohl die Funktionsweise von Lincolns Zeitmaschine an keiner Stelle erklärt wird, ist doch die Aussage dieser kleinen Fabel leicht verständlich: Wenn der Friedensvertrag zwischen der Union des Nordens und den Sezessionsstaaten zu unterzeichnen gewesen wäre, dann hätte Lincoln sicher gern gewusst, welche Folgen dies für die gesamten USA gehabt hätte. Weil er gern einen Blick in die Zukunft geworfen hätte, um die Entscheidung zu treffen, wäre ihm eine Zeitreise sehr willkommen gewesen – voilà, hier ist sie.

Dem Leser bleibt das Urteil überlassen, ob das, was Lincoln vorfindet und was Walter Sherman mit seinem Sklaven tut, in Ordnung ist oder nicht. Die kleine Tanya kennt es nicht anders als dass Sklaven geboren, gezüchtet und dann im Laden an der Ecke ausgestellt und verkaufen werden. Ein junger Sklave würde dann den armen Jimmy ersetzen, null problemo. Bloß keine Tränen.

Nur ein winziges Detail verrät Sherman, dass er ebenfalls in der zeit versetzt worden ist: Aus seinem Sklaven Jimmy ist ein Roboter geworden. Das wiederum ist eine Kritik des Autors an der Entmenschlichung von Roboters. Haben sie nicht auch ein Recht auf Existenz?

Die Übersetzung von Ingrid Herrmann, die im „Heyne SF-Jahresband 1995“ (SBN 3453079795) zu finden ist, blendet die emotionale Dimension von Lincolns und Shermans Erleben fast völlig aus, was ich sehr schade finde. Dadurch verliert die Ironie an der Geschichte beträchtlich an Gewicht. Und die „Kondore“ über Washington, D.C. sucht man in der Übersetzung auch vergebens.

9) The Confessions of Ebenezer Scrooge (1989)

Zur Erinnerung: Ebenezer Scrooge war die Hauptfigur in Charles Dickens‘ Weihnachtsgeschichte „A Christmas Carol“. Scrooge war und ist der Inbegriff des Geizhalses, der über Leichen geht. Er konnte sich deshalb rehabilitieren, weil er die Mahnungen von drei Geistern ernstnahm: des Geistes der vorigen Weihnacht, der gegenwärtigen Weihnacht und der künftigen Weihnacht. Aber waren das schon alle Weihnachtsgeister? Mitnichten, wie wir jetzt endlich erfahren.

Im Jenseits, in dem sich Scrooge jetzt befindet, wird er von seinem verstorbenen Assistenten Jacob Marley zu einem Abendessen geholt. Der Tisch ist reich gedeckt, mit nicht nur einer, sondern gleich zwei Gänsen. Kleine schwarzhäutige Männchen werden aus einer entlassen und machen sich an die Aufgabe, Zuckerwürfel in die Teekanne zu befördern. Zucker, Tee und Baumwolle – diese hat der weiße Mann mithilfe von solcher Sklavenarbeit ausgebeutet, um seinen Reichtum zu vermehren. Sagen jedenfalls die neuen Xmas-Geister: bedingtes Weihnachten, Konjunktiv-Weihnachten, Imperativ-Weihnachten (ein General, wie es scheint), Partizip-Perfekt-Weihnachten und weitere.

Marley widerspricht, wenn Scrooge meinen sollte, er habe sich nun Erlösung von seinen früheren Sünden erkauft, indem er als Wohltäter auftrat. Weit davon entfernt, solle er die Legende widerlegen, auch ein Scrooge könne bekehrt werden. Nun denn, Scrooge lässt sich überreden. Er widerruft alle Zuwendungszusagen, sät Zwietracht und verbreitet Hunger und Krieg – das volle Programm. Die Folgen sind höchst erfreulich: Alle wenden sich gegen ihn, das System Scrooge, und versuchen, sich zu bessern.

Mein Eindruck

Der Autor zeigt anhand der Sünden, die zahlreiche britische Kaufleute zwischen 1600 und 1850, also in der Epoche der Sklavenhaltung, begangen haben, dass man stets auch einen Sündenbock braucht. Wer wäre dafür besser geeignet als Scrooge, der geschäftstüchtige Geizhals, den ein gewisser Dickens völlig zu Unrecht an den Pranger gestellt haben muss?

Hinsichtlich des Englisch-Niveaus stellt diese Erzählung höchsten Anforderungen an den Leser. Ulkigerweise tut der Autor nämlich so, als wäre dies eine Geschichte von Dickens, und das viktorianische Englisch ist nun mal geschraubt und gedrechselt.

10) Bible Stories for Adult No. 46: The Soap Opera (1992/94)

Wir sehen zunächst einen Abfall- und Dunghaufen auf der Bühne. Er ist garniert mit zwei TV-Geräten, von denen eines keinen Ton besitzt, das andere kein Bild. Und es gibt eine Waschmaschine, die später noch wichtig wird.

Hiob Barnes hat seine Prüfungen hinter sich, und alles was er verloren hat (und das war so ziemlich alles), ist wieder hergestellt. Inzwischen hat er seine Autobiografie geschrieben und seine Agentin hat diese in eine TV-Serie umgearbeitet: „One Man’s Misery“ („Des einen Mannes Elend“). Aber der Dunghaufen gehört ihm nicht, der gehört Franny Fenstermachen. Sie leidet wirklich, an Arthritis, Diabetes und Osteoporose. Aber sie verteidigt ihren Dunghaufen, soll er sich doch seinen eigenen suchen.

Sie fragt Hiob, was er hier wolle. Er will von Gott eine Entschuldigung. Sie schaut sich furchtsam um, als könne gleich der Blitz einschlagen. Da kommt ein junge an, der in einem Rollstuhl sitzt. Tucker ist gelähmt und hat AIDS, aber er hat einen Plan: Er braucht noch zwei Sammelkarten für das Desert-Storm-Sammelalbum. Dann wäre er wirklich glücklich. Hiob und Franny wollen ihm helfen und suchen Sammelkarten im Abfall. Sie finden aber immer bloß General Schwarzkopf, General Powell und Dick Cheney.

Da beginnt die Waschmaschine, die gar nicht ans Stromnetz angeschlossen ist, zu rotieren. Endlich spricht Jahwe aus der Maschine und wendet sich an seinen undankbaren Diener Hiob. Ein eifriges Wortgefecht in seltsamem Bibel-Englisch entbrennt…

Mein Eindruck

Ob Gott in diesem Disput gewinnt oder den Kürzeren zieht, darf nicht verraten werden. Am Schluss macht der Autor ziemlich deutlich, dass er sowieso überflüssig ist. Er ist befindet sich ja auf keinem von Tuckers Sammelbildern. Dort heißen die Götter jetzt Dick Cheney, General Powell und Norman Schwarzkopf.

Dass das Buch Hiob, einer der Bestseller der Bibel-Gesellschaften und -Autoren, zu einer Seifenoper degradiert wird, ist nur folgerichtig. Hiobs Leidensgeschichte ist eine Prüfung seines Glaubens an den neuen Gott. Da es aber laut Nietzsche keinen Gott mehr gibt und folglich auch kein Glaube an ihn nötig ist, muss sich auch Hiob – hier Job Barnes genannt – nicht mehr daran klammern. Er verhält sich wie ein moderner Amerikaner: Er verlangt von Gott eine Entschuldigung für alles, was dieser angerichtet hat. Eigentlich müsste er ihn verklagen. Aber welcher Richter will sich schon mit einem Gott anlegen?

11) Diary of a Mad Deity (1988)

Gunther Black erwacht in einem fremden Bett neben einer fremden, unbekleideten Frau in einem schicken New Yorker Hotel. Was ihn etwas beunruhigt: Sie nennt ihn Jack. Dass er die Hotelrechnung übernimmt, ist ja wohl sonnenklar. Nachdem sie gegangen ist, wendet er sich erneut an seinen Psychotherapeuten Dr. Izzard: Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Alpträume von seiner Schwester Brittany. Sie wurde umgebracht, als er zehn war.

Dr. Izzard diagnostiziert eine multiple Persönlichkeit, so wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde, nur dass die anderen Persönlichkeiten nichts von Gunther Black wissen. Sie heißen Jack Silver, Jeremy Green, Ernest Red und so weiter, jeweils mit einer Farbe. Als Horrorschriftsteller hat er die Alpträume bisher in Bestsellern verwertet, aber diesmal besteht Dr. Izzard darauf, der Ursache auf den Grund zu gehen: die Sache mit Brittany anno 1965. Üblicherweise entstehe Dissoziation aufgrund von Hass. Doch was genau ist Gunthers Hassobjekt?

Mein Eindruck

Wie sich herausstellt, besteht die Menge der Persönlichkeiten in Gunthers Kopf aus der ganzen Welt. Es ist zwar eine virtuelle Welt, doch es bilden sich Staaten wie Proletaria, die gegen die anderen Staaten aufrüsten. Das ist keine Metapher: Proletaria baut eine thermonukleare Bombe. Sie ist der ultimative Ausdruck von Hass – Hass zwischen Familienmitgliedern, Sippen, Gemeinden und so weiter. Doch die Quelle dieses Hasses in Gunthers Seele ist nicht einfach zu finden. Alles begannt mit Brittanys Vergewaltigung an einem ganz bestimmten, kugelförmigen Ort auf der Weltausstellung von 1965 in Flushing Meadow.

Die Suche nach dieser psychologischen Quelle ist ebenso spannend wie die Untersuchung von Gunthers Psyche faszinierend ist. Natürlich wirkt letztere zunächst etwas überzogen, doch das es sich um einen virtuellen Raum ähnlich dem „Cyberspace“ handelt, könnte hier die ganze Welt versammelt sein. Religiöse Eiferer wie Fundamentalisten sind hier ebenso versammelt wie Kapitalisten, Kommunisten und viele andere, die einander hassen – genau wie in der Realität. Die Pointe besteht darin, dass Gunther alias Gott herausfindet, wen er selbst hasst – und aus welchem Grund. An diesem Punkt wird Gunther ersetzt…

12) Arms and the Woman (1991)

Helena von Sparta lebt seit zehn Jahren zusammen mit ihrem Entführer Paris im Palast von König Priamos, der sich über den umkämpften Mauern von Troja erhebt. Aus der einstigen Schönheit ist eine füllige Frau mit ersten grauen Haaren geworden. Sie hat keine Kinder, weil ihr Nichtgatte Paris immer Kondome aus Schafsdarm benutzt. Sie ist zwar immer noch in ihn verliebt, aber er hält sie auf Distanz. Sie solle sich nicht ihr hübsches Köpfchen darüber zerbrechen, was er den lieben langen Tag im Kampf mit den Griechen treibt. Schließlich geht es in diesem Krieg letzten Endes um sie, Helena von Sparta, und deshalb müsse der Krieg weitergehen.

Momentchen mal! Die Männer sterben um ihretwillen?! Sie will diese Verantwortung nicht auf sich lasten haben. Kurzerhand reitet sie zum Schiff von Menelaos, ihrem angetrauten Immer-noch-Gatten und bietet sich als Kriegsgefangene an. Menelaos weigert sich, sie gefangenzunehmen und sagt, er müsse sich erst mit den anderen beraten. Na, schön.

Die Beratung bringt die Spitzen der Achäer und der Trojaner zusammen. Ajax, der Berserker, hat gleich kapiert, um was es geht: „Holen wir sie doch nach Hause und hauen wir ab!“ So einfach sei das nicht, widersprechen die anderen, Erstens könne man einen Krieg nicht einfach so mir nichts, dir nichts abbrechen. Was würde dann aus Tapferkeit und Ehre werden? Was würde die Nachwelt denken, wenn man einen Krieg wegen einem Frauenzimmer anfangen und beenden würde, dann wäre ja später jeder beliebige Vorwand für einen Krieg recht, meint Nestor, der Mentor. Da hat der listige Odysseus einen genialen Einfall.

Als Helena am nächsten Tag einem Mordanschlag und in die Mauern von Troja zurückschleicht, erlebt sie zu ihrer Verwunderung, wie eine weibliche Stimme von den Mauern den hinausfahrenden Kriegern zuruft: „Kämpft für mich! Ich bin es wert!“ Und die Soldaten grüßen zurück. Und als sich Helena neben diese schreiende Puppe stellt, wird sie für deren Mutter gehalten. In ihr steigt Wut auf und sie schnappt sich dieses Maschinenwerk, um den Soldaten den Betrug offenzulegen. Doch es kommt anders…

Mein Eindruck

Diese ausgefeilte Kriegsgeschichte erzählt Helena sieben Jahre später ihren beiden Zwillingskindern Daphne und Damon. Sie können sie gar nicht oft genug hören, tritt doch ihre Mutter darin als Heldin im größten Krieg auf, den die Welt bis dahin gesehen hat: den Kampf um Troja. Helden ohne Ende treten auf: Agamemnon, Achilles (eher am Rande), Hektor, Paris, Odysseus und natürlich der tumbe Haudrauf Ajax.

Und dann diese seltsame List des Ithakers: kein hohles Pferd, o nein, sondern eine sprechende Puppe, geschmiedet von Hephaistos höchstpersönlich. Und siehe da: Da steht sie im Schrank in der Ecke, und man braucht bloß an einer Strippe ziehen, um Helenas Stimme ertönen zu lassen: „Vorwärts, Männer“ Kämpft für mich! Ich bin es wert!“ Nur, dass diese Puppen-Charade natürlich eine Lüge war, um den Krieg zu verlängern.

Diese großartige Erzählung ist eine herrliche Pastiche auf die „Ilias“ des Homer, bis hin zum Sprachstil, der mit Attribute („rosenfingrige Morgenröte“ und dergleichen) nur so gespickt ist. Sie lässt den epischen Krieg als Selbstzweck erscheinen, damit die Männer Ruhm und Ehre ernten können. Frauen haben lediglich einen Zweck: schön zu sein, um die Propagandalüge zu rechtfertigen. Helena sind sogar eigene Kinder verwehrt.

Die einzige Hürde bildete für mich das rare Wort „arete„. Es ist altgriechischen Ursprungs, steht aber nicht mal in den besten Wörterbüchern, existiert aber: Gene Wolfe hat einen seiner historischen Romane „Soldier of Arete“ betitelt. „Arete“ bezeichnet einen vom Kriegsgott Ares abgeleiteten Ehrbegriff zwischen Tapferkeit, Ruhm und Todesverachtung, also so etwas wie „Heldenmut“: „Arete bezeichnet allgemein die Vortrefflichkeit einer Person oder die hervorragende Qualität und den hohen Wert einer Sache. Bei Personen ist Tüchtigkeit gemeint, insbesondere im militärischen Sinn (Tapferkeit, Heldentum).“ (Wikipedia). Von Arete abgeleitet ist der Vorname Arite, der Tugend bzw. tugendhaft bedeutet.

Unterm Strich

Trotz aller Metaphysik geht es in Morrows Geschichten doch höchst irdisch zu. Er präsentiert plastische, mitunter recht deftige Charaktere, mit denen man mitleiden kann, und deren recht jüdisch anmutender Mutterwitz auch düstersten Situationen noch eine positive Perspektive abgewinnt. Die Satiren nehmen zahlreiche Gruppen aufs Korn, insbesondere jegliche religiösen Eiferer, die in Sachen Glaube nur Schwarz und Weiß kennen.

Am witzigsten fand ich „The Confessions of Ebenezer Scrooge“, in denen die Bezeichnungen seiner Plage-Geister die absurdesten Formen annimmt, so etwa „The Ghost of Christmas Future perfect“. Frauen kommen stets gut weg, so etwa Sheila in der Noah-Story „The Deluge“ und die (einstmals) schöne Helena in „Arms and the Woman“. Mehr als einmal taucht Mutter Erde höchstpersönlich auf, so etwa in „Daughter Earth“ und in der Psychotherapie-Satire „Diary of a Mad Deity“. Welches die ausgefallenste Story ist, wüsste ich schwer zu sagen, aber „The Assemblage of Kristin“ gehört sicherlich dazu.

Eine deutsche Übersetzung dieser herausfordernden und recht amerikanischen Geschichten ist mir nicht bekannt. Es gibt aber eine rühmliche Ausnahme: „Abe Lincoln in McDonald’s“ erschien in deutscher Übersetzung im „Heyne SF-Jahresband 1995“ (ISBN 9783453079793).

Hinweis

Nach einer abenteuerlichen Odyssee durch verschiedene Besitzverhältnisse ist der ursprüngliche Paperback- und Games-Bereich von Harcourt Brace inzwischen im Verlagsimperium von HarperCollins gelandet.

Taschenbuch: 245 Seiten
Originaltitel: Bible Stories for Adults, 1995;
ISBN-13: 9780156002448

https://www.harpercollins.com/

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