Fremdwesen aus dem All: Männer!
Die Serie mit Tiptree-Werken geht beim Wiener Septime-Verlag bereits in die dritte Runde. Die titelgebende Erzählung Houston Houston bitte kommen! ist sicher eine der besten der Autorin sowie des gesamten Genres. Nach einer Weltraumreise wird ein irdisches Raumschiff in der Zukunft kurz vor ihrem Anflug auf die Erde abgefangen – die durchweg männliche Besatzung stellt fest, dass sich auf der Erde nur noch Frauen befinden.
Für diese Erzählung erhielt James Tiptree Jr. 1977, ihre Identität war zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgedeckt, den begehrten Hugo Award, den Nebula Award sowie den Jupiter Award.(Verlagsinfo)
Die Autorin
Alice Hastings Bradley Sheldon alias James Tiptree jr. alias Raccoona Sheldon wurde 1915 in Chicago geboren. Ihre Mutter war eine Reiseschriftstellerin, ihr Vater Anwalt. Sie lebte in ihrer Jugend in Afrika und Indien, aber anscheinend war sie lange Jahre für die Regierung, die CIA (bis 1955) und das Pentagon tätig. Im Jahr 1967 machte sie ihren Doktor in Psychologie. Obwohl sie bereits 1946 ihre erste Story veröffentlicht hatte, machte sie die Schriftstellerei erst 1967 zu ihrem Hobby, und nach ihrer Pensionierung schrieb sie weiter bis zu ihrem Tod 1987. Sie beging Selbstmord, nachdem sie ihren todkranken Gatten erschossen hatte.
Obwohl sie einige Romane schrieb, wird man sich an sie immer wegen ihrer vielen außergewöhnlichen Erzählungen erinnern. Ihre besten frühen Stories sind im Heyne-Verlag unter dem Titel „10.000 Lichtjahre von Zuhaus“ (1973) und „Warme Welten und andere“ (1975) erschienen. Unvergesslich ist mir zum Beispiel die Story „Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod“, die den Nebula Award 1973 errang. Weitere Geschichten sind in „Sternenlieder eines alten Primaten“, „Aus dem Überall“ und schließlich „Die Sternenkrone“ gesammelt. Ihr Roman „Die Feuerschneise“ (Up the walls of the world, 1978, dt. bei Heyne) erhielt ebenfalls hohes Lob.
Die Erzählungen
Hinweis: Die Erstellungsjahre weichen häufig von den Veröffentlichungsjahren ab, manchmal sogar beträchtlich.
1) Es liegt nicht an Ihrem Gerät (The Trouble Is Not in Your Set, 1972, VÖ 2000)
Die Radiostation der Near North Woodlands (vermutlich Minnesota) ertönt kurz vor Mitternacht. Der Radiojockey hat ein paar echt schräge Typen dazu bringen können, ihre Geschichten zum Besten zu geben. Vor jedem Anrufer posaunt er noch ein bisschen Werbung für ortsansässige Werbetreibende in der Region von Porcupine Crossing hinaus.
Die erste Anruferin ist Charlene Tumpak, und sie setzt sich dafür ein, mehr STOPP-Zeichen an den Straßen im Landkreis aufzustellen. 32 sollten es schon sein. Sie liebt nämlich erstens die Farbe der Stoppschilder – Rot – und auch die Begleitfarben Gelb und Grün, die das Rot ankündigen. Bei Rot wird ihr ganz warm ums Herz, und wenn alle bei Rot anhalten müssen, dann wird das jedes Mal eine tolle Party…
Der zweite Anrufer stammt eigentlich aus England, ein Mr. Elwin Eggars, den es hierher in die äußerste Provinz verschlagen hat. Und das kam so. „Ich kam voll ausgewachsen auf die Welt.“ Weil es eine Hausgeburt war, die nur ein Assistenzarzt begleitete, brachte man ihn nicht gleich auf der Stelle um. In der Provinz hält man nicht viel von Abscheulichkeiten. Sein Vater ließ ihn also am Leben, und nachdem ihm der Schleim aus dem Mund entfernt worden war, legte man ihn an den etwa 30 cm langen Nippel seiner Mutter… Offenbar ist er auch im Land der Riesen gelandet.
Okay, so weit, so gut, ein Anrufer geht noch vor Mitternacht! Al Rappiola aus Timberton berichtet von seiner ungewöhnlichen Braut, Marie aus Oshkosh. „Sie kann sich am nächsten Morgen nicht mehr daran erinnern, dass wir verheiratet sind und das ausgiebig mit Freunden und Familie gefeiert haben.“ Und zwar jeden Morgen. Das ist wirklich nicht einfach für Al, aber er liebt Marie, also schreibt er ihr alles auf, was sie zu tun hat. Er verzeiht ihr auch, dass sie sich Blätter in die Schuhe steckt. Das gehöre zu ihren kleinen Tricks. Sie behauptet nämlich, dass die ganze Welt jede Mitternacht verschwinde – so wie JETZT…
Mein Eindruck
Echt schräge Typen also, die da anrufen. Charlene ist möglicherweise synästhetisch veranlagt, so dass ihr die Farbe Rot eine ganz spezielle Botschaft sendet oder sie sogar erregt. Mr. Eggars scheint bei den Riesen geboren worden zu sein, und wenn man es nicht besser wüsste, stammt Marie aus Oshkosh von den Elfen ab. Schabernack vom Elfenpack ist jedoch eine ernste Sache: Sie können offenbar den Lauf der Zeit zurücksetzen, so dass immer der gleiche Tag – der der Hochzeit – abläuft.
2) Drücken, bis kein Blut mehr kommt (Press Until the Bleeding Stops, 1972, VÖ 1975)
Ein Mann kommt ins letzte unverbaute Bergtal und verkündiget dorten der Fauna und Flora, dass alsbald eine dicke, fette Straße durch eben dieses Tal gebaut werden soll. Es gelingt ihm, die Tiere für den Kampf gegen die Zerstörung ihres Lebensraumes zu gewinnen, und als am D-Day die ersten Bulldozer und Bagger auftauchen, ist die Résistance bereit.
Leider muss er feststellen, dass er selbst nicht mehr zu den Lebenden zählt, sondern ein Gespenst ist. Auch der Widerstand der Tierwelt ist alles andere als erfolgreich. Bei dem einen oder anderen Baggerfahrer mag das ungewöhnliche Verhalten der Tiere einen Schrecken hervorrufen, doch der Kontrolleur droht mit Rauswurf und nennt sie Feiglinge. So wird die Straße über den Pass also gebaut, die Luft von den Millionen Fahrzeugen verpestet, das Wasser verschmutzt und die Erde gründlich versaut. Und als die Urlauber am Meer ankommen, fragen sie sich, warum sie hergekommen sind: Sie wollten eigentlich in der Natur Erholung finden.
Mein Eindruck
Eine weitere Öko-Story aus dem Hause Tiptree, diesmal als Tierfabel getarnt. Der moralisierende Zeigefinger war 1972 weitaus akzeptabler als heute, denn Ökologie und Naturschutz waren damals in den USA fast völlig unbekannt. Der Nationalpark Yellowstone war eine große Ausnahme. Doch der Club of Rome sagte bereits 1969 die großen Ökokatastrophen vorher, mit denen wir Nachgeborenen uns heute auseinandersetzen müssen.
3) Ihr Rauch steigt auf in Ewigkeit (Her Smoke Rose Up Forever, 1973, VÖ 1974)
Der 14-jährige Petey landet im Jahr 1935 oben in den Bergen von Arizona oder New Mexico, mitten im Mescalero-Reservat. Er hat seine Schrotflinte dabei, um auf einem See Enten zu jagen. Alles scheint perfekt zu sein, doch dann geht alles schief. Sogar Flugsaurier tauchen auf. Nach einem seltsamen Blitz sinkt Peteys Bewusstsein wütend in Finsternis…
…und erwacht 1944 im Zimmer der süßen Pilar, die er heftig begehrt. Doch dann sagt sie ihm, dass sie es gerne mit mehreren Männern macht. Wieder Wut, Blitz und Finsternis und…
…Erwachen im Jahr 1953. Pete ist aus dem Koreakrieg zurück und freut sich auf ein Stipendium, um studieren zu können. Er begehrt Molly, doch die meint, sie sei bereits vergeben. Blitz, Wut und Finsternis.
Erwachen. Pete hat Molly geheiratet und mit ihr zwei Kinder. Vons einem Wolkenkratzerbüro aus blickt der zufriedene Mediziner einer strahlenden Zukunft als Nobelpreisträger entgegen. Da fällt sein Blick auf den alten Poststapel. Darin steckt ein Arztjournal, das einen Artikel von der Djakarta University enthält, der genau seine Forschungsergebnisse vorwegnimmt… Blitz und Wut…
Und Erwachen in einer Mondlandschaft, wo sich fremdartige Wesen über ihn beugen. Die Erde ist zerstört, nur sein Bewusstsein ist irgendwie noch erhalten worden, und die Aliens stochern darin herum, indem es mit Energie reaktivieren. Deprimiert und enttäuscht beginnt Pete wieder zu träumen – von der Entenjagd.
Mein Eindruck
Das Leben ist nur ein Traum, den ein Verstorbener in endlosen Schleifen wieder und wieder durchläuft. Die von den Bewusstseinsszenen lebende Erzählung ist ein weiteres Beispiel für die höchst schwarze Sicht der Autorin Alice Sheldon auf die Zukunft der Menschheit im allgemeinen und des westlichen Mannes im Besonderen.
4) Schlangengleich erneuert die Erde sich (The Earth Doth Like a Snake Renew, 1973, VÖ 1988)
Eine reiche junge Alleinerbin, die nur P. genannt wird, verliebt sich schwärmerisch in einen Geliebten, verzeiht ihm alles, sucht seine tiefsten Bedürfnisse zu ergründen, um es ihm recht zu machen, lernt alles über ihn, um ihm zu helfen – denn es geht ihm gar nicht gut: dem Erdball. Die Umwelt wird zerstört, die Überbevölkerung wächst, das weiß schon der „Club of Rome“.
Aber es gibt Anzeichen, dass ihr Geliebter nicht passiv, sondern ziemlich aktiv ist: Ihre komplette Verwandtschaft wird nacheinander dahingerafft – und hinterlässt ihr ein immenses Vermögen. Damit sponsert sie über 200 Organisationen, die die Erde retten wollen. Aber reicht das? Während ihre Liebhaber an ihr verzweifeln, wächst eine dunkle Vorahnung in ihr: Sie muss mehr tun. Sie kann ihn in ihrem Verstand hören.
P., die junge Verliebte, sponsert ökologische Terroristen und Guerillas, doch sie weiß: Das sind alles nur Tropfen auf den heißen Stein. Und der Erdball bestätigt ihr durch Naturphänomene, dass sie recht hat: Er wehrt sich in großem Maßstab gegen die Menschenplage. Eines Tages sieht sie sich eindeutig in den hohen Norden gewiesen, ins ewige Eis. Sogar die Polarlichter formen einen Pfeil, der nach Norden weist. Ihre Erregung wächst, und das meint auch sexuelle Erregung. In einer Eishöhle begegnet sie Paaren von Tieren: ist das hier eine Art Arche Noah, fragt sie sich, denn die Tiere stammen offenbar aus den Frachtflugzeugen, die links und rechts vom Himmel fallen.
Da stößt sie auf ihre Jugendliebe Hadley, der sich gerade gepflegt einen ansäuft: Er lädt sie ein mitzumachen. Doch P. hat nur Augen für ihren wahren Geliebten. Er ist nirgends zu finden. Sie muss flexibel bleiben und umdisponieren: Was, wenn ihr wahrer geliebter, der Gott der Erde, menschliche Gestalt angenommen hätte, um sie mit ihr zu vereinen? Sie betrachtet Hadley auf einmal mit anderen Augen…
Mein Eindruck
Auf todernste Weise erzählt Tiptree hier eine im Grunde lächerlich-kitschige Romanze. Eine junge, mächtige Frau verliebt sich in ein ungewöhnliches Wesen: die Erde nämlich. Zunächst liebt sie ihn wie ein Teenager, tief und innig, in der Waldeinsamkeit. Aber dann erfährt sie, was Sex ist und bedeutet. Sie wächst zu einer 19-jährigen Millionenerbin heran. Doch menschliche Männer bedeuten ihr nichts, nur ihr „unsichtbarer“ Erdgeist kann ihre Liebessehnsucht erfüllen (was für die Männer reichlich frustrierend ist).
Sie kommt ihm auf einer Reise in die Arktis immer näher, doch die Begleitumstände werden zunehmend bizarr und absurd: Frachtflugzeuge fallen vom Himmel und entlassen Tiere, die wiederum wie der Grundstock für eine Arche Noah wirken. Als sie Hadley, ihren Lover, begegnet, ist ihm sofort klar, dass es um Adam & Eva, den Fortbestand der Menschheit geht, und müssten wir dann nicht zusammen, du weißt schon? P. antwortet mit einem eindeutigen „Jein“!
Die Pointe darf hier nicht verraten werden. Aber wer bis hierher voll Spannung und Amüsement durchgehalten hat, wird es nicht bereuen. Denn einerseits ist dies eine ultimative Öko-Freak-Story, die den Klimaklebern Ehre machen würde, andererseits die Parodie auf jene kitschig-romantischen Liebesgeschichten, die Klein-Alice von ihrer schönen Mommy und ihren netten Daddy so oft vorgelesen bekommen hat. In zwei Büchern ihrer Mommy war Alice sogar selbst die Heldin, z.B. „Alice in Jungle Land“.
Die Botschaft der Parodie: Liebe allein reicht nicht, um den Planeten zu retten; Reichtum mag zwar hilfreich sein, doch es ist wie mit der Liebe: Wenn der Geliebte sich anderen Dingen zuwendet, ist der Herzschmerz groß. Alice Sheldon brannte mit ihrer ersten großen Liebe durch – und wurde folgerichtig schwer enttäuscht. Sie wusste also aus eigener Erfahrung, wovon sie schrieb. Am besten gefiel mir die Szene auf und in einem echten isländischen Vulkan auf der Insel Surtsey, der gerade ausbricht.
5) Ein flüchtiges Seinsgefühl (A Momentary Taste of Being***, 1973, VÖ 1975)
Die „Centaur“ ist schon seit zehn Jahren unterwegs zum Centauri-System, um es mit seinen Fähren zu erkunden. Sollte einer der Planeten für Menschen bewohnbar sein, soll sie grünes Licht nach Hause senden. Zu Hause, das ist eine übervölkerte und verschmutzte Erde, die bereits ihre Saatschiffe in Bereitschaft hält. Bislang sendeten die anderen Erkundungsschiffe immer nur Rot, doch der „Centaur“ scheint nun ein Glücksfall beschieden zu sein.
Aber was ist auf der Welt, die die Fähre erkundete, denn nun wirklich passiert? Das fragen sich nicht nur Kapitän Yelliston, sondern auch seine Xenobiologen und der Schiffsarzt Dr. Aaron Kay. Denn Kayes Schwester Lory war auf dieser paradiesischen Blumenwelt – und scheint wohlbehalten zusammen mit einem Alien zurückgekehrt zu sein. Nur dass bei ihrem Verhör einige Ungereimtheiten auftauchen. Das Verhör ist nötig, weil jemand sämtliche Aufzeichnungen zur Landung gelöscht hat.
So hat es offenbar vor dem Abflug Streit mit den anderen Gelandeten gegeben, die daraufhin entgegen aller Vorsichtsmaßnahmen ihre Schutzhelme abnahmen. Und Commander Kuh, Leiter des Landungstrupps, hat sich entschlossen, nicht zurückzukehren. Leutnant Tighe, ein australischer Mineraloge, ist der einzige, der bei dieser irregulären Aktion verletzt worden scheint und befindet sich nun in der Quarantäne an Bord der „Centaur“. Was aber das Merkwürdigste ist: Seitdem wird er immer wieder auf den Korridoren gesichtet, obwohl er sich doch körperlich im Bett befindet.
Mitten in der „Nacht“, als Dr. Kaye bei seiner Geliebten Solange liegt, kommt es zu einem Alarm. Als Kaye den Tatort erreicht, fragt er nach dem Grund der Schlägerei. Einer der anderen Leutnants hat sich über den Befehl des Kapitäns hinweggesetzt und an die Erde „grünes Licht“ gesendet, zumindest an die Russen dort. Was aber, wenn die noch anstehende Untersuchung des Aliens ergibt, dass „Lorys Welt“ gar nicht so paradiesisch ist, wie alle meinen, sondern alles nur auf einer Illusion oder Halluzination beruht?
Mein Eindruck
Dieser Erstkontakt ist ein Geschlechtsakt. Dumm nur, dass die Menschen nur Spermien sind, die nachdem sie ihren Befruchtungsdienst geleistet haben, entbehrlich sind und absterben. Das Alien ist die befruchtete Königin, an Bord geholt von Lory auf telepathischen Befehl hin. Doch was könnte aus den befruchteten Eiern, den Zygoten, entstanden sein, fragt sich der betrunkene Dr. Aaron Kay in seinem Audio-Tagebuch. Sind es jene übergroßen gestalten, die wie Geister im steuerlos gemachten Schiff umherwandeln? Oder sind andere Aliens nun auf Lorys Welt unterwegs?
Letzten Endes macht es für die „Centaur“ keinen Unterschied. Das Schiff ist mitsamt seiner Mission gescheitert, ein Opfer kollektiven Heilswahnsinns, der ausbrach, als das gefängnis des Aliens geöffnet wurde. Doch weitere Schiffe werden kommen, mit vielen weiteren menschlichen Spermien an Bord – um sich ebenfalls in die Leere zwischen den Sternen zu ergießen als sinnlose Ejakulation des Lebens?
Selten wurde das Unternehmen der Raumfahrt an sich so verzweifelt, zweck- und hoffnungslos beschrieben. Ich habe drei Tage gebraucht, um diesen Kurzroman zu lesen. Erst das dritte Kapitel bringt die Action, die die aufgebaute Spannung löst. Den Schluss bildet Kayes Monolog, der mich an das „Penelope“-Kapitel in James Joyces epochalem Roman „Ulysses“ erinnert: ein Gedankenstrom, der aber nichtsdestotrotz mit weiteren Informationen aufwartet. Es hilft, wenn man ein wenig Latein beherrscht, so etwa die Zeile „post coitum [animal] tristum“: Nach dem Geschlechtsakt, ist [das Tier] traurig…
*** S. 127 wird das dem Zitat zugrundeliegende Gedicht vom Omar Khayyam zitiert:
“A moment’s halt – a momentary taste…” (1859)
6) Der Psychologe, der Ratten keine schrecklichen Dinge antun wollte (The Psychologist Who Wouldn’t Do Awful Things to Rats, 1974, VÖ 1976)
Tilman Lipsitz, ein jüdischer Psychologie-Doktorand, hat es satt, Ratten im Namen der quantitativen Beobachtungsmethode nach B.F. Skinner zu sezieren und zu quälen. Er versucht, qualitativ zu arbeiten, doch eine Besprechung beim Leiter dieses Forschungsprogramms belehrt ihn, dass er für sein Vorhaben allenfalls noch zwei Wochen bekommt. Dann ist Feiertag, Heldengedenktag, und alle gehen nach Hause.
Doch Tilman hat im Unterschied zu seinen Kollegen ein Gewissen. Er geht zurück in das Institut und schaut, ob alles in Ordnung ist. Zur Feier des Tages hat er sich eine Flasche Absinth mitgenommen, und der halluzinogene Alkohol beschwingt ihn. Er sieht ein, dass seine Methode keine Zukunft hat und bringt die ersten Generation kurzerhand um. Doch dann entdeckt er, dass eine alte Ratte fehlt: Snedecor.
Als er unter den Käfigen nachschaut, entdeckt er etwas sehr Sonderbares: einen Knäuel Ratten, der lebendig ist, aber wie zusammengepackt erscheint. Der legendäre Rattenkönig – wow! Tilman wird von einer Art heiliger Scheu und Verehrung gepackt. Dann ist ihm, als werde hinter oder über dem Rattenkönig ein großer Kopf sichtbar, mit roten Augen. Und dieser führe sein leidendes, misshandeltes Volk aus dem Labor hinaus in die Freiheit. Er schließt sich ihm an…
Als er aus seinem Absinthrausch erwacht, ist ihm eine geniale neue Idee gekommen. Sie hat mit Shetlandponies zu tun und ihrer gehirnmäßigen Stimulation bei Pferderennen…
Mein Eindruck
Die Geschichte greift die Legende vom Rattenfänger von Hameln auf und kehrt sie um. Nun sind es die Ratten, die sich in Tilmans Absinthtraum selbst in die – jenseitige – Freiheit führen, und der Rattenfänger muss folgen. Doch ist diese erhoffte Freiheit zu erlangen? Ist es der Freitod, den die Autorin schließlich selbst gewählt hat?
Eines wird klar gemacht: Descartes‘ Unterscheidung zwischen Seelen von Menschen und den Seelen von Tieren wird radikal abgelehnt. Tiere haben das gleiche Recht auf Leben. Und folglich auch das gleiche Recht auf Erlösung vom Leiden, das ihnen der Mensch allenthalben antut. Nein, hier schlagen die Tiere nicht zurück: Hier werden sie wie das Volk Israel aus der ägyptischen oder babylonischen Knechtschaft in die Freiheit geführt.
Es kommt der Verdacht auf, dass dieses Versuchslabor in Wahrheit eine Metapher für ein KZ ist, in dem die Ratten in die Freiheit geführt werden – aber nur im Traum. Denn Lipsitz macht einen radikalen Schnitt mit der eigenen Testgruppe und betätigt sich wie einer der KZ-Herren als Massenmörder.
Der Schluss der Geschichte bildet dann einen zynischen Schlenker, passt aber gar nicht zu Tilmans vorheriger Gewissenhaftigkeit und Feinfühligkeit, sondern vielmehr zu seiner neuen „Persönlichkeit“ als KZ-Killer.
7) Houston, Houston, bitte kommen! (Houston, Houston, Do You Read? 1974, VÖ 1976)
Drei amerikanische Astronauten haben in ihrer winzigen Kapsel die Sonne umrundet und hoffen nun auf eine Rückkehr zur Erde. Doch etwas stimmt nicht mit dem Weltall, in das sie nach einem Sonnensturm zurückkehren. Sie rufen Houston, doch nur Frauenstimmen antworten, von einer Mondbasis aus. Und die Frau behauptet, dass es nicht Oktober sei, sondern der 15. März – und zwar 300 Jahre später.
Diesen Schock müssen Lorrimer, Davis und Geirr erst einmal verdauen, während sie ihren Kurs korrigieren. Sie können zwei Raumschiffe namens „Gloria“ (Ruhm) und „Escondita“ (Versteck, Zuflucht) treffen, die gerade Venus und Merkur erkunden. Die „Gloria“ geht auf Abfangkurs, um die drei längst totgeglaubten Männer aufzunehmen.
Doch es kommt noch härter. Die Erde ist durch eine Pandemie praktisch entvölkert, so dass nur noch zwei Millionen Menschen vor allem in Australien leben. Von diesen Menschen scheint die Mehrzahl weiblich zu sein, und sie haben weder Regierungen noch Hierarchien. Das ist besonders für Commander Davis schwer zu ertragen. Niemand hat ihn für Netzwerke ausgebildet, nur für Hierarchien.
Lorimer und Bud Geirr bekommen eine Wahrheitsdroge verabreicht, die sie in einen Zustand redseliger Ruhe versetzt. Sie sprechen ihre Gedanken und Eindrücke offen aus, genau wie die Frauen an Bord. So kommen Lorimer beim Schachspiel mit Lady Blue, der „Kommandantin“, verräterische Details zu Ohren. Als er die beiden Judys anschaut, beschleicht ihn ein schrecklicher Verdacht. Was wird Cpt. Norman Davis tun, wenn er die Wahrheit herausfindet?
Mein Eindruck
Die Erde gehört den Frauen, aber sie nennen sich natürlich „Menschen“ und haben sich spezialisiert. Schwere Arbeiten etwa werden von androgynen Frauen ausgeführt, den „Andys“ (von andros = Mann). Aber das wäre für den alten Doc Lorimer längst nicht so schlimm, wenn es nicht fast alles Klone von lediglich 1100 Erblinien wären. Das erscheint ihm wie der Stillstand der Evolution. Aber Lady Blue beruhigt ihn: Es gibt inzwischen Methoden, auch diese „Jungfernzeugung“ zu umgehen.
Auf den jungen Bud Geirr wirkt die Information, es gebe nur noch „Miezen“ auf der Erde, wie ein Aphrodisiakum: Er will ein Königreich errichten, in dem ihm die Frauen zu Füßen liegen. Er fängt gleich schon mal mit einer Vergewaltigung im „Gewächshaus“ an, auf Film aufgenommen von einem „Andy“. Lorimer darf nicht einschreiten, und bald entdeckt er auch, warum: Dieser Akt dient der Gewinnung von Sperma.
Auf Cpt. Norman Davis hat die Erkenntnis, dass es keine Männer mehr gibt, eine verheerende Wirkung. Denn Davis ist ein bibelfester Patriarch. Sofort fühlt er sich von Sendungsbewusstsein erfüllt, und seine Mission besteht selbstverständlich darin, ein neues Patriarchat über diese Millionen „hirnloser“ Weibchen zu errichten. Sein Versuch, das Kommando zu übernehmen, geht jedoch dank Lorimers Eingreifen gründlich schief…
In ihrer Radikalität ist die preisgekrönte Novelle (HUGO 1976) ein feministischer Gegenentwurf zum traditionellen Patriarchat, das schon Simone de Beauvoir in „Das andere Geschlecht“ heftig angegriffen hatte. Die Erzählung steht daher in einer Reihe mit der Novelle „Frauen, die man übersieht“ (The Women Men Don’t See, 1973), die sich in dem Titel „Liebe ist der Plan. Sämtliche Erzählungen Band 2“ findet.
8) Bibertränen (Beaver Tears, 1974, VÖ 1976)
Der Erzähler kommt nach einem harten Tag zurück in sein Häuschen in der neu erbauten Vorstadt, doch sein Heim ist leer: Jenny und ihrer beider Sohn weilt bei der Großmutter in Kalifornien. In der Nachbarschaft lärmen die Bannermans nebenan, doch die einzige schwarze Familie, die Jacksons, ist still. Gottseidank!
Während seines einsamen Abendessens zieht er sich im TV eine Tierdoku rein. Die Biber, die von der Vorstadt um ihren Lebensraum gebracht worden sind, werden eingefangen, in einen Sack gesteckt und in der letzten verbliebenen Wildnis ausgesetzt. Brave kleine Racker, die ihre Aufgabe erfüllen werden, denkt er.
Plötzlich verstummt der Lärm, den die Bannermans nebenan veranstaltet haben. Er wird bewusstlos und wacht auf dem Boden einer Art Käfig auf, der in die Höhe schwebt. Der Käfig, in dem er auch Mitglieder der Bannermann- und der Jackson-Familie entdeckt, wird an Bord eines Raumschiffs gezogen. Jetzt weiß er, wie sich jene Biber gefühlt haben müssen…
Mein Eindruck
Die sehr ironische Story wendet das Muster, das H.G. Wells in „Krieg der Welten“ 1898 (und Jonathan Swift in „Gullivers Reisen“) vorgab, auf die US-amerikanische Realität an: Es gibt immer einen größeren Fisch, der den kleineren Fisch fängt und verdrängen will. So wie die Menschen der Vorstadt den Bibern ihren Lebensraum geraubt haben (in der Folge ist das Wasser knapp geworden), so rauben die Aliens den Menschen ihren derzeitigen Lebensraum. Ihr Ziel ist vermutlich die Kolonisierung. Die Warnung ist deutlich: Die Menschen sind in ihrem Unverstand dabei, ihren eigenen Lebensraum zu zerstören. Und wohin geht’s dann?
9) Eure Gesichter, o meine Schwestern! Eure Gesichter voller Licht! (Your faces, o my sisters! Your faces filled of light!, 1974, VÖ 1976)
„Phantastisch“ ist hier lediglich die Welt, die sich eine junge Frau in ihrem Kopf geschaffen hat, um der Wirklichkeit zu entfliehen, eine Realität, die die Autorin als Kontrapunkt immer wieder zwischen die realen Sequenzen schaltet. Sie wähnt sich als Kurierin, die in einer Post-Holocaust-Welt Post zwischen den zerstörten Städten zustellt – zu Fuß, denn alle Autos sind ebenso verschwunden wie das Öl, das sie antrieb. Nach dem Tod des letzten Mannes gibt es nur noch Frauen, ihre Schwestern, und sie liebt sie alle.
Kurz darauf in der Realität: Die „Kurierin“ wird von vier Männern vergewaltigt und ermordet – die Frau, deren private Wirklichkeit aus so viel Wärme bestanden hatte, in der nur Frauen existieren, in der zwischen Menschen und Männern unterschieden wird. Sie wird ihre Gründe gehabt haben, gerade eine solche Fluchtwelt aufzubauen, für Männer wenig schmeichelhafte Gründe. Aber den Fehler, ins andere Extrem zu verfallen und Männer aus ihrer Wahrnehmung auszuschließen, musste sie mit dem Leben bezahlen. Ihre Eltern wundern sich jedenfalls, wie sich ihre Tochter derart seltsam entwickeln konnte. Schließlich war sie zudem in einer Anstalt eingesperrt.
Dass die Autorin die entscheidenden grausamen Worte am Schluss ausgerechnet einer Frau – einer Polizistin – in den Mund legt, unterstreicht nur noch ihre Kritik an einer feministischen Ausblendung der Realität: „Was glaubt sie denn, wer sie ist, dass sie nachts allein herumläuft? Glaubt sie denn, die Polizei hätte nichts Wichtigeres zu tun?“
Mein Eindruck
Das war eine feministische Geschichte, die die Autorin für die Anthologie „Aurora: Beyond Equality“ schrieb, doch ohne moralischen Zeigefinger erzählte. Mit dem Erfolg, dass am Schluss jeder Leser reichlich betroffen zurückbleibt. Alice Sheldons Kommentar zu den Ansichten und Forderungen radikaler Feministinnen? Sie erscheint heute nicht mehr ganz zeitgemäß. Aber das liegt wohl eher an den Feministinnen als an der heutigen Zeit. Und inzwischen verstehen die Feministinnen ihre Rolle auch anders: Sie wollen nicht den Mann beseitigen, denn sie können ihn nicht ignorieren, vielmehr wollen sie die gleiche Rechte – und die gleiche Bezahlung. Diese ist immer noch Zukunftsmusik, Jahrzehnte nach dieser Story.
10) Sie wartet auf alle Geborenen (She Waits for All Men Born, 1974, VÖ 1976)
Nach einem Atomkrieg wird ein kleines Mädchen geboren, das von Geburt an blind ist, sich aber bestens mit einem anderen Sinn zurechtfindet. Es öffnet die Augen mit den weißen Iriden nicht, umgeht aber geschickt alle Hindernisse. Zusammen mit seinem Grüppchen von Überlebenden wächst es am Meer auf. Dort hat man noch einen Geigerzähler, mit dem sich die Reststrahlung messen lässt.
Eines Tages beginnen die Überfälle der „Flieger“, blutrünstiger Krieger, die Kinder rauben und die Erwachsenen töten. Doch nun entdeckt ihre Ziehmutter das wahre Talent des Mädchens, das sie „Snow“ getauft hatte: Kaum öffnet es die Augen, fallen die Flieger tot um. Leider aber auch seine Amme.
Bei einem Großangriff der „Flieger“ tötet Snows Blick nicht nur alle „Flieger“, sondern auch alle Dorfbewohner. Also zieht das Mädchen zum nächsten Dorf weiter, Und zum nächsten, und so weiter, bis alle Zeit vergangen ist und Besuch von den Sternen kommt. Denn Snow ist auch unsterblich…
Mein Eindruck
Eingebettet ist diese klassische Mutantengeschichte nach dem Vorbild des Ahasver-Mythos in den ewigen, kosmischen Kampf zwischen Leben und Tod. Das Leben birgt den Tod, bringt ihn hervor, geht unter, ersteht von Neuem und so weiter. Somit ist die Mutantin eine Vereinigung aus Leben und Tod: ein schönes Versprechen, eine tödliche Vergeltung.
Snows Episode sind zahlreiche weitere vorgeschaltet. Von den Sauriern über die Urmenschen und die sterbenden Kiowa-Indianer bis hin zum Vorabend des atomaren Holocausts reicht die Kette, welche das Wechselspiel zwischen Leben und Tod belegen soll. Eine elegische Erzählung, ein würdiger Abschluss dieser Sammlung.
Nachwort von Andreas Eschbach: „Über James Tiptree jr – Wanderungen entlang der Grenze des Wahnsinns“ (2013)
Dieses Nachwort können Sie bei uns im Original nachlesen.
Die Übersetzung
Ich habe die Qualität der Übersetzung anhand einer Stichprobe geprüft: „Schlangengleich erneuert die Erde sich“ und „Drücken, bis kein Blut mehr kommt“.
S. 22: „So ein Gestell hab ich nicht mehr geschossen, seit ich ein Junge war!“ Wenn er einen Bock geschossen, dann handelt es sich bei dem „Gestell“ wohl um ein Geweih.
S. 61: “…der Schoß, aus dem … sie selbst und der Green Bay Packers hervorgekrochen waren.“ DIE Green Bay Packers sind jedoch ein Sportklub an den Großen Seen.
S. 86: “In der Direktions-Lounge des O’Hare.“ Gemeint ist die VIP Lounge auf dem Chicagoer Flughafen O’Hare.
S. 94: “ein Wasserflugzeug vom Typ Bi[e]ber“. Später wechselt P. auf eine „Otter“, so dass klar ist, dass ein „Biber“ gemeint ist. Das E ist überflüssig.
S. 108: “Topaz und Viridian”. Im Deutschen wir dieser Halbedelstein „Topas“ geschrieben. Viridian ist ein blaugrünes Farbpigment.
S. 110: „Es war wund[er]schön geformt…“: Hier fehlt eine kleine Silbe.
S. 117: „Das A[r]ecibo-Observatorium…” gibt es wirklich, und zwar auf Puerto Rico. Das R fehlt.
Unterm Strich
Gewichtige Erzählungen finden sich in diesem Band Nr. 3, so etwa „Schlangengleich…“, „Houston“ und „Flüchtiges Seinsgefühl“. Diesen Band sollte der Tiptree-Fan keinesfalls verpassen.
Gebunden: 488 Seiten
Aus dem Englischen übertragen von Frank Böhmert, Elvira Bittner, Laura Scheifinger, Andrea Stumpf, Samuel N.D. Wohl, Bastian Schneider und Margo Jane Warnken.
ISBN-13: 9783902711076
Septime-Verlag
Der Autor vergibt: