Phantastisches, tödliches Yucatán
„Quintana Roo“ versammelt drei Erzählungen aus Alice B. Sheldons alias James Tiptree Jr.s Spätwerk (1981-1983). „In den drei Erzählungen spannt Tiptree jr. einen weiten Bogen um die Geschichte des [real existierenden Landstrichs] Quintana Roo, über die Ureinwohner [die Maya] zu den spanischen Eroberern bis in die Gegenwart , in der die Umweltverschmutzung regiert und sich letztendlich die Natur zur Wehr setzt.
Ein schon etwas bejahrter Urlauber begegnet an der Karibikküste Yucatáns zweifelhaften Informanten, die noch zweifelhaftere Vorkommnisse erlebt haben wollen. Besteht hier etwa eine Verbindung zur alten Maya-Kultur?“ (gekürzte und ergänzte Verlagsinfo)
Für diesen exzellenten Erzählband wurde die Autorin mit dem World Fantasy Award geehrt.
Die Autorin
Alice Hastings Bradley Sheldon alias James Tiptree jr. alias Raccoona Sheldon wurde 1915 in Chicago geboren. Ihre Mutter war eine Reiseschriftstellerin, ihr Vater Anwalt. Sie lebte in ihrer Jugend in Afrika und Indien, aber anscheinend war sie lange Jahre für die Regierung, die CIA (bis 1955) und das Pentagon tätig. Im Jahr 1967 machte sie ihren Doktor in Psychologie. Obwohl sie bereits 1946 ihre erste Story veröffentlicht hatte, machte sie die Schriftstellerei erst 1967 zu ihrem Hobby, und nach ihrer Pensionierung schrieb sie weiter bis zu ihrem Tod 1987. Sie beging Selbstmord, nachdem sie ihren todkranken Gatten erschossen hatte.
Obwohl sie einige Romane schrieb, wird man sich an sie immer wegen ihrer vielen außergewöhnlichen Erzählungen erinnern. Ihre besten frühen Stories sind im Heyne-Verlag unter dem Titel „10.000 Lichtjahre von Zuhaus“ (1973) und „Warme Welten und andere“ (1975) erschienen. Unvergesslich ist mir zum Beispiel die Story „Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod“, die den Nebula Award 1973 errang. Weitere Geschichten sind in „Sternenlieder eines alten Primaten“, „Aus dem Überall“ und schließlich „Die Sternenkrone“ gesammelt. Ihr Roman „Die Feuerschneise“ (Up the walls of the world, 1978, dt. bei Heyne) erhielt ebenfalls hohes Lob.
Deutsche Neuausgabe
Neuausgabe der Erzählungen in Neuübersetzungen, sieben Bände: James Tiptree Jr. – Sämtliche Erzählungen ab 2011 im Septime Verlag, Wien
Bereits erschienen:
Band 1: Doktor Ain. Septime Verlag, Wien 2014, ISBN 978-3-902711-23-6 (Neuübersetzungen von Elvira Bittner, Laura Scheifinger, Andrea Stumpf, Samuel Wohl, Margo Jane Warnken und Frank Böhmert)
Band 2: Liebe ist der Plan. Septime Verlag, Wien 2015, ISBN 978-3-902711-37-3 (Neuübersetzungen von Frank Böhmert, Laura Scheifinger, Elvira Bittner, Andrea Stumpf, Samuel N. D. Wohl, Eva Bauche-Eppers, Sabrina Gmeiner und Margo Jane Warnken)
Band 3: Houston, Houston!. Septime Verlag, Wien 2013, ISBN 978-3-902711-07-6 (Neuübersetzungen von Bella Wohl, Laura Scheifinger, Andrea Stumpf, Samuel Wohl, Michael Preissl und Frank Böhmert)
Band 4: Zu einem Preis. Septime Verlag, Wien 2012, ISBN 978-3-902711-06-9 (Neuübersetzungen von Christiane Schott-Hagedorn, Frank Böhmert, Sebastian Wohlfeil und Michael Preissl)
Band 5: Quintana Roo. Septime Verlag, Wien 2011, ISBN 978-3-902711-04-5 (Neuübersetzungen der drei Quintana Roo-Geschichten von Frank Böhmert, mit einem Nachwort von Anne Koenen: Struck by Mayaphilia. James Tiptree Jr.s Geschichten aus dem Quintana Roo)
Band 6: Sternengraben. Septime Verlag, Wien 2014, ISBN 978-3-902711-29-8 (Neuübersetzungen von Frank Böhmert, Eva Bauche-Eppers und Laura Scheifinger)
Band 7: Yanqui Doodle. Septime Verlag, Wien 2015, ISBN 978-3-902711-33-5 (Neuübersetzungen von Andrea Stumpf, Elvira Bittner, Margo Jane Warnken, Eva Bauche-Eppers und Laura Scheifinger)
Ebenfalls erschienen:
Wie man die Unendlichkeit in den Griff bekommt. Essays, Briefe & Gedichte. Septime Verlag, Wien 2016, ISBN 978-3-902711-42-7 (aus dem Amerikanischen von Elvira Bittner, Andrea Stumpf, Sabrina Gmeiner, Bastian Schneider, Michael Preissl und Margo Jane Warnken)
Die Erzählungen
1) Kurze Vorbemerkung zu den Maya des Quintana Roo (1986)
Die Provinz Quintana Roo besteht bis heute ganz real und weist solche Touristen-Hotspots wie Cozumel, Cancún und Tulúm auf. Einst gehörte das Land der Hochkultur der Maya, die bekanntlich im 8. Jahrhundert verschwand – vermutlich wegen einer Klimakrise. Die Konquistadoren aller Couleur eroberten ab dem 16. Jahrhundert das „verlassene“ Land und errichteten Latifundien, doch die Maya waren nicht ausgestorben. Nun vermischen sich vor dem historisch eingestellten Betrachter die verschiedenen Zeitebenen.
Die Autorin berichtet von ihren eigenen Reisen und Eindrücken, was durchaus interessant ist, denn sie kannte den Gouverneur von Cozumel, dem sie ihr Buch posthum gewidmet hat. Denn er verunglückte im Oktober 1984 tödlich. Offenbar war dies vor dem großen Touristenrummel und den Riesenhotels auf Cozumel, Cancún und Playa del Carmen.
2) Was die See bei Lirios anspülte (What Came Ashore at Lirios, 1981)
Unser Gewährsmann ist ein schon etwas bejahrter Urlauber aus den USA, der jedes Jahr an die Karibikküste Yucatáns, die Provinz Quintana Roo, zurückkehrt. Er meidet die Touristenorte Cozumel und Cancún, auch die Ruinen von Tu’ulum sind ihm suspekt, also weilt er lieber südlich davon, dort, wo sich zwei große Lagunen ins Landesinnere fressen. Denn die See dort ist niemals ruhig, und der Wind kann leicht mit Sturmstärke wehen.
Wieder einmal trifft der rothaarige Wanderer aus Des Moines, Iowa, hier ein. Er wirkt schon etwas abgerissen und schwach, denn er wandert immer die ganze Ostküste der Halbinsel Yucatán rauf und runter. Diesmal hat er eine merkwürdige Geschichte auf Lager, die er bei dem verfallenden Reichensitz Lirios erlebt haben will. Jeder an der Küste weiß, dass dort das Meer tückisch ist und es den Paso de los Muertos gibt, den Pfad der Toten.
Zuerst sah er im Zwielicht nur einen Masten, dann ein Boot, schließlich ein Wesen, das an den Mast gebunden war. Er band es los und brachte es erschöpft auf den Strand. Es schien zunächst ein schönes Mädchen zu sein, doch dann fing es an zu fluchen, dass es ihn schauderte, und natürlich auf Spanisch. Dann verwandelte sich die Frau in einen stolzen Spanier, der ihm befahl, Wasser zu holen. Der Gringo aus Des Moines weigerte sich und bestand darauf, darum gebeten zu werden. Der Spanier verulkte ihn mit einer Farce – und bezahlte: mit einem Rubin, den er aus seiner Haut herausschnitt.
Der Gringo holte Wasser, gab dem erschöpften Spanier davon, zusätzlich einen Schokoriegel, und zusammen lagen sie sich in den Armen. Er schaffte es vorm Einschlafen gerade noch, den Rubin zurückzugeben. Am nächsten Tag war der Spuk vorüber und alles wie gewohnt. Ein Ranchero, den er traf, lobte ihn, dass er den Rubin zurückgegeben habe, denn sonst wäre seine Seele „perdido“, verloren gewesen.
In den folgenden fünf Jahren ist der Gringo aus Des Moines nicht gekommen, statt dessen hat der Gouverneur der Provinz die erste Schullehrerin geschickt, die der Ort je gesehen hat…
Mein Eindruck
Das waren noch Zeiten, als abenteuerlich gesinnte Hippies wie dieser Gringo die Welt erkundeten – und dabei gab es hier nicht einmal Marihuana (wie in Marokko und Nepal). Diesmal hat er eine gespenstische Begegnung mit einem der Ureinwohner – oder mit dessen Gespenst. Alle sind sich einig, dass er um Haaresbreite seinem Untergang entgangen ist. Wie urwüchsig und zurückgeblieben die Gegend ist, belegt das Eintreffen der ersten weißen Lehrerin, eine wahrhaft staunenswerte Erscheinung.
Der Text ist äußerst sorgfältig strukturiert. Jedes Teilchen, jeder Absatz errichtet die Grundlage für den nächsten Abschnitt, bis eine Art Höhepunkt erreicht ist, der den Leser unweigerlich fesselt.
3) Der Junge, der auf Wasserskiern in die Ewigkeit fuhr (The Boy Who Waterskied Forever, VÖ 1982)
Der Ich-Erzähler, ein Amerikaner, liebt es, im kristallklaren Wasser zwischen den Riffen der Ostküste von Yucatan zu schnorcheln. Bei klarem Wetter kann er die Ruinen der alten Mayastadt Tulu’um sehen, gleich hinter der Insel Cozumel. Sein Freund, der Austernfischer Don Manuel, tuckert mit seinem Kutter und zwei Beibooten des Wegs und klagt ihm sein Leid: Seine Frau und seine Tochter seien beide krank, aber er könne keinen Spezialisten bezahlen, weil der Fang so schlecht sei – ein neuer Rivale schnappe ihm die Beute vor der Nase weg.
Unser Gringo gibt ihm einen Tipp: Er habe gerade eine Prozession von Langusten gesehen. Würden die nicht einen fetten Fang ergeben? Don Manuel ist gleich dabei, und weil der Amigo so ein guter Helfer ist, erzählt er ihm die unwahrscheinlichsten Geschichten, die ihm einfallen, und zwar die von seinem Fangtaucher K’o (Langusten müssen vom Boden aufgeklaubt werden, was den Einsatz von Atemgeräten erforderlich macht).
K’o war ein echter Mayajunge und erlaubte sich seinerzeit einige nette Späße, so etwa mit der Filmcrew von Jacques Cousteau. Das beste Abenteuer erlebte Don Manuel, als K’o beschloss, seine neuen Wasserskier auszuprobieren und damit von der Insel Cozumel, der Insel der Morgenröte, bis zum Festland bei Tulu’um zu surfen. Allerdings sind die Gewässer vor der Ruinenstadt voller Riffe, so dass man höllisch aufpassen muss, wo man sein Boot entlangsteuert.
Zunächst geht alles gut, doch dann wählt K’o die parallele Durchfahrt durchs Riff, statt der Hauptpassage zu folgen. Der Horizont ändert sich, und die Stadt Tulu’um erscheint plötzlich in alter Pracht, groß wie das alte Sevilla im 16. Jahrhundert, und viele Menschen wimmelt auf der Stufenpyramide. Genau da fallen beide Außenbordmotoren aus – und K’o verschwindet spurlos. Die Suche sei ergebnislos verlaufen, berichtet Don Manuel. Aber es gibt noch eine weitere Pointe…
Mein Eindruck
95 Prozent der Geschichte sind völlig realistisch erzählt, wenn auch so mancher Anblick wie das Paradies anmutet. Doch Don Manuels Geschichte über den jungen Maya K’o verschiebt die Perspektive und fügt ein spirituelles Element hinzu. Dass sich die hiesige Dimension zu der der historischen Maya vor über tausend Jahren öffnet, war ja schon in der „Lirios“-Erzählung der Fall. Doch K’o erscheint nun auch wie ein wiederauferstandener Gott aus Tulu’um, wo er einst verehrt wurde.
4) Hinter dem toten Riff (Beyond the Dead Reef, VÖ 1983)
Jahre scheinen nach dieser Episode vergangen zu sein: Die tauchtouristen, die nach Cozumel kommen, haben sich vervielfacht, und die Riffe sind zugemüllt. Nachdem die Fauna getötet, gefangen oder vertrieben worden ist, gibt es keine Fischer mehr. Nur noch Leute wie Jorge Chuc fahren Taucher wie den Ich-Erzähler hinaus zu schönen Stellen am Riff.
Die Taucher treffen sich bei Don Marcial auf einen Absacker, wenn die Dämmerung einbricht. Hier lernt unser Chronist einen Mann aus Belize kennen, der hier anscheinend seinen Lebensabend verbringt. Er spricht wesentlich besser Spanisch, und als er erfährt, dass unser Chronist von Jorge Chuc, einem Maya-Kapitän, zu einem bestimmten Riff hinausgefahren werden soll, reagiert er alarmiert. Denn das erwähnte „tote Riff“ sei eines Todesfalle. Da müsse der Chronist schon etwas Schlimmes verbrochen haben, dass er dort draußen entsorgt werden solle, meint der Belizeno. Wie sich herausstellt, hat unser Chronist die Mutter Jorge Chucs schwer beleidigt.
Nach einem langen, ernsten Gespräch zwischen dem Belizeno und Jorge Chuc klärt sich das Missverständnis auf. Nachdem ihm der Belizeno mit dem feinen englischen Akzent praktisch das Leben gerettet hat, bekommt er einen Geheimtipp – und diverse Warnungen, die die Strömung betreffen. Am nächsten Morgen geht er mit einem amerikanischen Pärchen tauchen, aber er wird in die Irre geführt. Er folgt einem großen Fisch, der genauso gefärbt ist wie Anns Taucherkleidung, und gelangt so hinter das erwähnte „tote Riff“.
Dies ist ein Ort des Grauens: Der Meeresoden ist mit menschlichem Müll übersät, die Korallen des Riffs schon längst tot. Deshalb wundert es ihn, dass es hier große Fische gibt. Aber auch das ist eine Selbsttäuschung. Ein Wesen, das wie eine sechs Meter große Meerjungfrau aussieht, entpuppt sich als Konstrukt aus diversen Teilen von Müll und Plastik. Doch dann schlägt sie die Augen auf…
Mein Eindruck
Enthält die Geschichte über den Maya-Jungen K’o noch eine Handlung voller Wunder, so ist dies eine sehr sorgfältig angelegte Horror-Story. Die Dinge sind nicht, was sie scheinen, und die Wahrheit kann tödlich sein. Einen Vorgeschmack bildet das beinahe tödlich ausgehende Missverständnis mit Kapitän Jorge Chuc, der nicht gezögert hätte, unseren Chronisten in eine Todeszone zu befördern. Nun, hier ist sie: die Todeszone, und er mittendrin.
Mit dem Müll der Menschen ist der Tod über das Riff gekommen, doch nun schlägt es zurück: Der Müll hat eine Art Frankenstein-Monster erschaffen und Bewusstsein erlangt, wie es scheint und lockt nichtsahnende Taucher durch bizarre Gestalten in den sicheren Tod, entweder durch die Taucherkrankheit oder durch Erschöpfung (von Vergiftung ist keine Rede). Schillernde, faszinierende Gestalten sind das, eine sechs Meter große Nixe, ein Riesenfisch, der täuschend echt aussieht.
Die Botschaft der Geschichte dürfte ziemlich klar sein: Die Vermüllung des Meeres und die Missachtung seines Lebensrechts zwecks Vergnügen rächen sich eines Tages. Die Phantasmagorie, die sich unserem Chronisten in den Weg stellt, ist vielleicht nur ein illusionistischer Vorbote jenes Grauens, das da noch kommen soll. Es muss ja nicht gleich Cthulhu höchstpersönlich sein, den Lovecraft in den Tiefen des Ozeans verortet, aber die Wesen, die man dort bereits entdeckt hat, sind bereits bizarr genug – erste Mutationen?
5) Nachwort von Anne Koenen: „Struck by Mayaphilia“
Dies ist ein literaturwissenschaftlicher Essay aus dem Jahr 2010, aber voller interessanter Hinweise. Denn der Quintana Roo ist nicht erst in den hier versammelten Erzählungen bei Tiptree aufgetaucht, sondern schon in der berühmten Novelle „Frauen, die man übersieht“ („The Women Men Don’t See“) aus dem Jahr 1973. Dort liefert Yucatán den landschaftlichen und kulturellen Hintergrund. Vor der Küste liegt das zweitgrößte Korallenriff der Welt, seit 1996 ein Naturreservat, und der Dschungel der Halbinsel steckt voller unentdeckter Ruinen und Cenotes, jenen tiefen Senklöchern, die durch ein gewaltiges Höhlensystem (800 km lang) verbunden sind.
Die alte Maya-Region, die den Gegenpol zur Touristenhochburg Cancún bildet, steckt voller Geheimnisse, sie ist ein Ort der Erinnerung. Das wird in den ersten beiden Quintana-Roo-Geschichten deutlich. Die Autorin Sheldon ist demgegenüber eindeutig parteiisch, wie schon aus ihrem Vorwort hervorgeht: Sie bekennt sich der Mayaphilie für schuldig. Ihre Erzähltradition ist die des Magischen Realismus. Dieser basiert auf mündlicher Überlieferung und dem Mythos. Folglich kommen sich auch bei Sheldon Phantastik, Mythos und westliche Vernunft in die Quere, aber nicht als Überlagerung, sondern als Flickenteppich bzw. Palimpsest aus Alt und neu.
Koenen sieht einen Zusammenhang zwischen westlichem Patriarchat, Umweltzerstörung und Unterdrückung der Frau bzw. andersartigen Kulturen in mehreren Geschichten Sheldons ausgedrückt, angefangen mit „Doktor Ains letztem Flug“ von 1969 bis hin zu en Quintana-Roo-Geschichten. Diese seien aber nicht Science Fiction, sondern magischer Realismus. Das Patriarchat sieht sie in den drei Ich-Erzählern repräsentiert: allesamt ältere weiße Männer aus den USA, die in den Überresten der Maya-Kultur rätselhafte Erfahrungen machen: Sozialkritik trifft Mythos. Der erzählerische Kniff dafür: ein Zeitsprung in „Lirios“ und „Der Junge“.
Das Erzählen ist in allen drei Geschichten eine Handlung und ein Wert an sich. In „Der Junge“ revanchiert sich Don Manuel für den schönen Langustenfang mit einer wundersamen Story, in „Lirios“ erhält der Erzähler als Lohn als echten Ahornsirup, nicht als billigen Zuckerersatz, und in „Hinter dem toten Riff“ belohnt der Belize-Erzähler den Gringo, indem er ihn vor einem tödlichen Missverständnis bewahrt und vor der Gefahr warnt, die vom toten Riff ausgehe.
Die Rolle des Mexiko-Bildes als „infernalisches Paradies“ sowie die Rolle der indifferenten Natur stehen bei Sheldon wie auch in der nordamerikanischen Literatur und Filmkultur (John Houston) im Fokus. Denn die Natur und die Maya sind ein und dasselbe, und es überleben auffälligerweise nur jene Nicht-Maya wie etwa der Belizeno, die sich mit den Einheimischen entweder genetisch oder kulturell vermischt haben. Nur diese wissen die Stärke der Natur – Wirbelstürme, tückische Sande und Riffe – zu respektieren.
„Gender, die soziale und kulturelle Konstruktion von Geschlecht“, kommt immer wieder bei Sheldon vor, auch in den Quintana-Roo-Geschichten. So wechseln etwa die Lippfische ihr Geschlecht, wenn not am Mann ist, und wie würde sich das auf gewisse männliche Vertreter der USA auswirken: Sie wären in ihrer Kindheit Mädchen gewesen!
Diese latente Fähigkeit, je nach Bedarf das Geschlecht zu wechseln, hat Ursula K. Le Guin zur Basis ihres preisgekrönten Romans „Die linke Hand der Dunkelheit“ gemacht. Und bei Sheldon zeigt sich die Idee der Androgynität schon 1969 in „Dein haploides Herz“. Es wird mit dem Paradies assoziiert. Dieser Mythos schimmert noch stellenweise in „Lirios“ und „Der Junge“ durch, wohingegen er in „Hinter dem toten Riff“ durch den Alptraum der Kommerzialisierung verdrängt worden ist.
Die Übersetzung
Die Übersetzung durch Frank Böhmert ist ausgezeichnet gelungen, und ich konnte keine Druckfehler finden.
Unterm Strich
Der World Fantasy Award, den die Autorin für diesen Erzählband bekam, geht völlig in Ordnung. Selbstwenn es sich um parteiische „Mayaphilie“ handelt, so sind doch die Geschichten selbst sorgfältig und mit spürbarer Liebe ausgearbeitet. Sie leben von den Themen und den Kontrasten, die in sie eingearbeitet sind: die ruhmreiche, aber auch spirituelle Vergangenheit der Maya manifestiert sich im Mythos, der in Zeitsprüngen in die Gegenwart einbricht. Und diese Gegenwart ist von westlicher Kommerzialisierung und Umweltzerstörung geprägt. Hier lauern neue Monster.
Die Themen werden in ihrer Gesamtheit von Anne Koenens Essay aufgegriffen und in den Kontext von Sheldons Werk und Ideen gestellt. Wie schon die Autorin Sheldon in ihrem Vorwort andeutet, war das alte Yucatán bis etwa 1950 ein völlig unbedeutendes Paradies am Rande der amerikanischen Einflusssphäre, bevor die Urlauberhochburgen gebaut und Taucherparadiese erfunden wurden. Aus dem Traum vom versprochenen Paradies ist eine Hölle voller Monster aus Müll geworden, die Riffe sind tot.
Über diese Gegend erzählen verschiedene Gringos, also (alte?) weiße Männer, als hätten sie etwas Nettes darüber zu sagen. Doch die eigentlichen Geschichten stammen von Einheimischen, meist Mestizen, die zwischen der alten und der neuen Zeit eine Brücke schlagen. Das Erzählen an sich hat einen Wert, ähnlich wie in Ursula K. Le Guins Roman „The Telling“ (dt. als „Die Erzähler“ bei Heyne). Es transformiert die Wirklichkeit, indem es Realität und Mythos kombiniert: magischer Realismus.
Insofern unterscheiden sich alle Quintana-Roo-Geschichten deutlich von allen anderen Erzählungen und Romanen Sheldons. Die Wiederentdeckung lohnt sich für Leser, die keine Action erwarten, sondern Stimmung. Zum Glück liegen inzwischen sämtliche Erzählungen Alice B. Sheldons in neuer Übersetzung vor, und diese mehreren Bände zu kaufen, lohnt sich wirklich.
Gebunden: 160 Seiten
O-Titel: Tales of the Quintana Roo, 1986
Aus dem US-Englischen von Frank Böhmert.
Septime Verlag, 2011, Wien; 2. Auflage: 2012
ISBN 9783902711045
www.septime-verlag.at
Der Autor vergibt: