Janwillem van de Wetering – Der Freund, der keiner war

Das Attentat auf das World Trade Center weckt bei einem alten Bankier die Erinnerung an einen vor vielen Jahren auf einem anderen Kontinent begangenen Mord. Er reist zurück in die alte Heimat, um sich mit seiner Tat auseinanderzusetzen … – Kein Roman, sondern eine auf Buchformat geblähte Novelle, die auf den Leuchtturm-Ruf ihres Verfassers als literarischer Mahner und Denker setzt, aber nur eine weitere, recht zäh lesbare Reflexion über das Kapitalthema Schuld & Sühne darstellt.

Das geschieht:

New York, 11. September 2001: Der alte Bankier Johan Halbertsma wird Zeuge der Terrorattacke auf das World Trade Center. Sofort steigt in ihm die Lust auf eine gebratene Seezunge auf: Dies ist die Mahlzeit, die seit jeher zu wichtigen und tragischen Ereignissen im Haus Halbertsma serviert wird. So ist es seit über sechs Jahrzehnten, als die Familie noch im holländischen Rotterdam ansässig war. Am 10. Mai 1940 hatte die deutsche Luftwaffe die alte Hafenstadt in Schutt und Asche gelegt. Johan hat den Bombenterror er- und überlebt. Diese Katastrophe übertünchte ein persönliches Drama: Die Halbertsmas verloren ihren Adoptivsohn Henri. Johan erinnert sich genau an den Tag, als er seinen Bruder verlor. Allerdings scheut er die Frage, ob Henri bei einem von ihm mitverschuldeten Unfall umkam oder von Johan umgebracht wurde …

Johan hält es nicht mehr in New York. Er reist zurück nach Holland, um sich dort endlich Gewissheit zu verschaffen. Hat er einst gemordet? Falls ja: Wieso hat er es getan? Und muss er sich deshalb schuldig fühlen? Henri war nur ein Toter neben unzähligen unschuldigen Opfern der Nazis, so wie nun viele tausend Menschen von fanatisierten „Glaubenskriegern“ instrumentalisiert wurden. Ein liebenswerter Zeitgenosse war Henri zudem nicht, sondern ein selbst ernannter „Übermensch“, der Nietsche vergötterte und skrupellos den eigenen Vorteil und die Nähe der Nazis suchte. Johan quälte dagegen der Naziterror gegen die Juden, auf deren Kosten sich die Halbertsmas tüchtig bereicherten. So kam der Tag, an dem sich Henri einmal zu viel mit seiner grenzenlosen Menschenverachtung prahlte …

Elementare Fragen, ganz schwerer Stoff

Musste Henri sterben? Warum sterben Menschen überhaupt für oder wegen einer ‚Sache‘? Das ist eine der (philosophischen) Fragen, die Janwillem van de Wetering umtreiben. Das Verbrechen vom 11. September 2001 ist für ihn Anlass, sie wieder einmal zu stellen. Um ihre allgemeine Gültigkeit zu verdeutlichen, stellt er sie gleichzeitig in Bezug zu einer andere historischen Episode, um die Problematik der scheinbar so einfach zu definierenden Positionen „gut“ und „böse“ zu verdeutlichen.

Die Zerstörung von Rotterdam ist für van de Wetering sein persönliches 11/09/01. In gewisser Weise ist Johan Halbertsma sein Alter Ego. Auch van de Wetering hat als Kind die deutsche Bombenattacken auf die alte Hafenstadt, deren blutige Folgen und die Besetzung seines Heimatlandes erlebt. Vor allem musste er mit ansehen, wie seine jüdischen Mitschüler und Freunde von den Nazis deportiert wurden – ein lebenslang nachwirkendes Drama, das der Verfasser hier auch für sich zu beschwören und zu bannen versucht. Was ist der Mensch wert? Gibt es ‚bessere‘ und ‚minderwertige‘ Menschen? Wer hat das Recht dies zu entscheiden? Woraus leitet sich dieses Recht ab? Gibt es umgekehrt ein Recht sich zu wehren? Eine Pflicht sogar? Wie weit darf man dabei gehen? Ist Mord gerechtfertigt um Leben zu retten? Kann Unrecht wirklich gesühnt werden?

Schwerer Stoff = ,ernsthafte’ Literatur also und sicher kein „normaler“ (Historien-) Krimi. Freunde der eher unterhaltsamen Gripstra/De Gier-Polizeiromane seien deshalb gewarnt. Van de Wetering hat dieses Mal noch weniger als sonst eine klassische Gauner-gegen-das-Gesetz-Story im Sinn. Noch „schlimmer“: Er kann die aufgeworfenen Fragen letztlich auch nicht beantworten. Der Versuch führt zu der frustrierenden Erkenntnis, dass dies womöglich überhaupt unmöglich ist. „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, kein Mensch“ – mit diesem klassischen Plautus-Wort lässt es sich immerhin in Worte fassen, wenn auch nicht erklären.

Verdrängt ist nicht vergessen

„Der Freund, der keiner war“ führt auf recht originelle Weise in die sonst düstere Geschichte ein. Der Geruch eines gebratenen, eigentlich köstlichen, hier jedoch als Schlüssel zu Unerfreulichem „entarteten“, Fischgerichts führt Johan Halbertsma zurück in die Zeit, als er Zeuge und Täter war. Sechs Jahrzehnte abgelagerter und nachträglich gewerteter Erinnerungen können so akkurat aufgearbeitet werden. Dieser olfaktorische Weg ist möglich; viele Menschen stimulieren ihr Hirn per Nase oder Zunge. Friedrich Schiller bewahrte faulende Äpfel in seinem Schreibtisch auf, deren Geruch ihn beim Dichten und Schreiben inspirierte. Der Verstand wird überlistet bzw. gelenkt – für Johan Halbertsma in eine unerfreuliche Richtung.

Er hat sich einst wie die islamischen Terroristen 2001, wie die Nazis 1940 zum Herrn über Leben und Tod aufgeschwungen. Seit vielen Jahren plagt Halbertsma – bisher meist unterbewusst – die Frage, wie er dies vor sich selbst und überhaupt rechtfertigen kann. Schließlich war er lange gewissermaßen das Spiegelbild seines Adoptivbruders Henri, der höchstens konsequenter war als er. Friedrich Nietsches ‚Lehre‘ vom „Übermenschen“ fiel bei beiden Brüdern auf fruchtbaren Boden. Henri verinnerlichte sie freilich, während Johan skeptisch blieb und umdenken konnte.

Henri ist (Achtung: Ironie!) ein echter Prüfstein für jeden Moralisten. Er hat sich in die Familie Halbertsma hineingemogelt und -gelogen. Das Leid seiner Mitmenschen belustigt ihn oder ist ihm gleichgültig, da er sich über sie erhaben fühlt. Er schachert mit den Nazis und betrügt in existenzielle Not geratene Juden um ihren Besitz. Da ist sie wieder, die Frage, ob man einen solchen gefährlichen, gesellschaftlich verantwortungslosen Menschen nicht zur Verantwortung und aus dem Verkehr ziehen muss!

Wobei Johan selbst keine reine Weste hat. Nicht nur die Erinnerung an Henris Ende führt ihm der Duft der Seezunge ins Gedächtnis zurück. Das Bankhaus Halbertsma hat gut verdient in der Nazizeit. Jüdische Mitbürger verbargen hier für eine saftige ‚Gebühr‘ ihre Vermögen; viele Konten blieben nach Kriegsende verwaist. Johans Reichtum speist sich auch und vor allem aus dieser Quelle. Er ist ein Mitläufer, der seine Skrupel gut genug unterdrückt hat, um vorzüglich zu verdienen. Letztlich darf man seinen Worten – so van de Weterings Schlussfolgerung – nicht trauen.

Um jeden Preis – ein Buch!

Janwillem van de Wetering war nicht nur ein Verfasser beliebter Kriminalromane, sondern auch ein Liebling des Feuilletons. Die ganze Welt hat er bereist, in einem Zen-Kloster meditiert, unter den Armen & Geknechteten der Dritten Welt gelebt, gesellschaftskritische Romane geschrieben: eine Quelle für jene Art von Literatur also, die der (links-) intellektuelle Bildungsbürger unauffällig auf seinem Wohnzimmertisch auslegt.

Leider war van de Wetering in den letzten Jahren ein wenig schreibfaul. Hier und da rang er sich eine Kurzgeschichte ab – oder einen Kurzroman wie „Der Freund, der keiner war“. Dummerweise schätzt der Buchmarkt Novellen nicht. Romane ‚gehen‘ besser, möglichst dick sollten sie sein, schließlich wünscht der Kunde anständige Ware für sein gutes Geld.

Also wird van de Weterings Novelle halt zum Buch (oder wenigstens Büchlein) ‚aufgewertet‘, indem man sie – zumindest in der Erstauflage, die übrigens noch den Titel „Die entartete Seezunge“ trug – ordentlich zwischen feste Einbanddeckel bindet; mit Rändern, auf denen man Tagebuch führen könnte, und einer Schriftgröße, die auch den sprichwörtlichen Maulwurf vor keine Probleme stellen dürfte. Ein bisschen Grafikschmuck übertüncht so manche gar zu leere Ecke – fertig ist die bibliophile Kostbarkeit, die nicht einmal preisgünstig ist.

Verfasser

Janwillem Lincoln van de Wetering wurde am 12. Februar 1931 in Rotterdam geboren. Als Kind durchlebte er die Schrecken des II. Weltkriegs. Nach seiner Schulzeit besuchte er ein Business-College. Anschließend ging van de Wetering nach Südafrika. Sein Vater, ein Kaufmann, hatte ihm dort einen Job bei einer holländischen Firma vermittelt. Diesen warf er zwar bald hin, blieb aber dennoch im Land, hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser und heiratete.

Nach sechs Jahren verließ van de Wetering Südafrika und ging nach London, wo er Philosophie studierte und den Zen-Buddhismus für sich entdeckte. Konsequent ging er 1958 Kyoto in Japan und lebte zwei Jahre in einem Zen-Kloster. Dann meldete sich der schnöde Alltag zurück; van der Wetering musste Geld verdienen und als Kaufmann nach Kolumbien und Peru, wurde Grundstücksmakler in Australien. Ab 1965 leitete er die Textilfabrik seines verstorbenen Schwiegervaters in Holland. Um den Wehrdienst zu umgehen meldete sich van de Wetering als Hilfspolizist. Die Arbeit gefiel ihm, er blieb sieben Jahre bei der Polizei und brachte es bis zum Inspektor.

In den 1970er Jahren wurde van de Wetering schriftstellerisch tätig. Er übernahm die Philosophie des Jean-Paul Satre und die unterhaltsame Gesellschaftskritik des George Simenon und verschmolz beides in seiner Serie um die Amsterdam-Cops, welche kaum als klassische Polizeiromane, sondern eher als kritische und ironische Kommentare zu zeittypischen Missständen zu bezeichnen sind.

Den wanderlustigen van de Wetering hielt es nicht in Holland. In den 1980er Jahren lebte er in Maine in den USA auf einem Boot, mit dem im Sommer die Küste befuhr. Weitere Weltreisen schlossen sich an. Als Schriftsteller verfasste van de Wetering nun ein Theaterstück, Kinder- und Sachbücher. Erst 1993 kehrte er (sporadisch) zum Kriminalroman zurück. In Blue Hill, US-Staat Maine, ist Janwillem van de Wetering am 4. Juli 2008 gestorben.

Taschenbuch: 96 Seiten
Originaltitel: N. N. (Hamburg : Europa Verlag 2002)
Übersetzung: Klaus Schomburg
https://www.rowohlt.de

eBook: 569 KB
ISBN-13: 978-3-6444-2101-1
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