Jeanette Winterson – Das PowerBook

Lieben, schreiben, träumen auch

Eine junge Schriftstellerin sitzt an ihrem Computer. Unter dem Namen Ali sendet sie Geschichten hinaus in die Weite der virtuellen Welt und lauert als Spinne im Netz auf elektronische Beute. Sie wartet auf E-Mails ihrer Geliebten, von der sie in der realen Welt für die Wirklichkeit einer Ehe verlassen wurde. Schreibend durchstreift sie den Kosmos der unendlichen Möglichkeiten, nutzt ihn als frei verfügbare Requisitenkammer, in der sie sich bedienen kann, um die Geliebte zum Glück zu verführen. Sie verspricht ihr: „Freiheit nur für eine Nacht“. So wird Ali zur Scheherazade, die in einer einzigen Nacht versucht, schreibend den tragischen Ausgang ihrer Liebesgeschichte, und mehr noch, den Lauf der Welt zu verändern … (Verlagsinfo)

Liebe und Erzählen von Liebe – geht das überhaupt in Zeiten des Cyberspace, des Internets? „Eine Nacht der Freiheit. Du kannst die Story ändern. Denn du bist die Story.“

Dieser Bericht stützt sich auf die englische Originalausgabe.

Die Autorin

JEANETTE WINTERSON, 1959 in Lancashire geboren, lebt als freie Schriftstellerin in London. Die 1959 in Lancashire, England, geborene Jeanette Winterson wurde von einer Familie von Pfingst-Evangelisten aufgezogen. Ihre Bestimmung war es eigentlich, Missionarin zu werden. Stattdessen verließ sie ihr Zuhause, um verschiedene Tätigkeiten auszuüben, bevor sie sich für ein Englisch-Studium an der Uni Oxford einschrieb. Sie arbeitete im Theater, bevor sie ihren ersten Roman „Orangen sind nicht die einzige Frucht“ veröffentlichte, der den angesehenen Whitbread-Literaturpreis für den ersten Debütroman gewann. Auch „Verlangen / The Passion“ errang 1987 den John Llewellyn Rhys Preis, „Das Geschlecht der Kirsche“ 1989 den E.M. Forster Award der American Academy for Arts and Letters. Ihr Roman „Auf den Körper geschrieben“ wurde in sechzehn Sprachen übersetzt.

Beim Berlin Verlag erschienen ihre beiden letzten Romane, „Kunst und Lügen“ (1995) und „Das Schwesteruniversum“ (1997). Winterson wurde mit ihrem verfilmten Roman „Oranges are not the only fruit“ weltweit bekannt, insbesondere in englischsprachigen Ländern. Ihre Originalität und ihr Mut, auch unkonventionelle Themen anzusprechen, zeichnen die lesbische Schriftstellerin aus.

WERKE

Oranges Are Not the Only Fruit. Roman. 1985
Orangen sind nicht die einzige Frucht, Übers. Brigitte Walitzek. S. Fischer, Frankfurt 1993 ISBN 3-10-092211-5
Boating for Beginners. Roman. 1985
Fit For The Future – The Guide for Women Who Want to Live Well. 1986
The Passion (Roman), Bloomsbury, London 1087
Verlangen. Roman; Übers. Bettina Runge. Klett-Cotta, Stuttgart 1988 ISBN 3-608-95610-7, wieder dtv, München 1993 ISBN 3-596-11716-X
Sexing the Cherry. Roman. 1989
Das Geschlecht der Kirsche. Übers. Brigitte Walitzek. S. Fischer, Frankfurt 1993 ISBN 3-596-11634-1
Written on the Body. Roman. 1992
Auf den Körper geschrieben. Übers. Stephanie Schaffer-de Vries. Fischer, Frankfurt 1993 ISBN 3-10-092210-7
Art & Lies: A Piece for Three Voices and a Bawd. Roman. 1994
Kunst und Lügen. Ein Stück für drei Stimmen und eine Bordellwirtin. Übers. Brigitte Walitzek. Berlin Verlag, 1995 ISBN 3-8270-0040-8
Art Objects. Essays. 1995
Gut Symmetries. Roman. 1997
Das Schwesteruniversum. Übers. Brigitte Walitzek. Berlin-Verlag, 1997 ISBN 3-8270-0041-6
The World and Other Places. Erzählungen. 1998
In dieser Welt und anderswo. Übers. Monika Schmalz.[1] Berlin-Verlag, 2000 ISBN 3-8270-0042-4
The Powerbook. Roman. 2000
Das Power-Book. Übers. Monika Schmalz. Berlin-Verlag, 2001 ISBN 3-8270-0043-2
The King of Capri. Jugendroman, zusammen mit Jane Ray. 2003
Der König von Capri. Übers. Monika Schmalz. Berlin-Verlag, 2003 ISBN 3-8270-5001-4
Lighthousekeeping. Roman. 2004
Der Leuchtturmwärter. Übers. Monika Schmalz. Berlin-Verlag, 2006 ISBN 3-8270-0575-2
Weight. 2005
Die Last der Welt. Der Mythos von Atlas und Herkules. Übers. Monika Schmalz. Berlin-Verlag, 2005 ISBN 3-8270-0446-2
Tanglewreck. Jugendroman. 2006
Tanglewreck: Das Haus am Ende der Zeit. Übers. Monika Schmalz. Bloomsbury, Berlin 2006 ISBN 3-8270-5174-6
The Stone Gods. Roman. 2007
Die steinernen Götter. Übers. Monika Schmalz. Berlin-Verlag, 2011 ISBN 978-3-8270-0950-0
The Lion, The Unicorn and Me: The Donkey´s Christmas Story. Erzählung. 2009
Der Löwe, das Einhorn und ich. Eine Weihnachtsgeschichte. Übers. Monika Schmalz. Bloomsbury, Berlin 2011. ISBN 978-3-8270-5411-1
The Battle of the Sun. Jugendroman. 2010
Der Alchemist von London. Übers. Monika Schmalz. Bloomsbury, Berlin 2010 ISBN 978-3-8270-5407-4
Why Be Happy When You Could Be Normal? Autobiografischer Roman. 2012
Warum glücklich statt einfach nur normal? Übers. Monika Schmalz. Carl Hanser, München 2013 ISBN 978-3-446-24149-7
Christmas Days. 12 stories and 12 feasts for 12 days. 2016
Wunderweiße Tage. Zwölf winterliche Geschichten. Übers. Regina Rawlinson. Wunderraum, München 2017.

Inhalte

Im alten Londoner Stadtteil Spitalfields werden noch Ausgrabungen getätigt, und auch jack the Ripper soll hier mal gewohnt haben. In diesem Bauch Londons also gebe es also unter dem Schild VERDE ein Büro, in dem man sich seine eigene Geschichte schreiben, dichten lassen könne. Gegen Entgelt, versteht sich. Auf einem Computer, genauer: auf einem PowerBook von Apple.

Auf diesem schönen PC kann man sich also von einer oder einem E-Autor namens Ali (männlich) oder Alix (weiblich) jede beliebige Geschichte erdichten lassen, allerdings unter einer Bedingung: Man muss in die Story als man selbst eintreten und das Risiko auf sich nehmen, als jemand anderes wieder daraus hervorzugehen. Ganz schön risky also. Immerhin: Man kann der Held der Story sein. Man kann vollständige Freiheit für eine Nacht erhalten. Doch wie immer hat auch diese Freiheit einen Preis. Ali(x) entdeckt, dass in ihrer eigenen Liebs- und Lebens-Geschichte etwas Merkwürdiges mit ihr selbst vorgeht.

Ihre Geschichte beginnt wie jede ordentliche Liebesgeschichte in der Stadt der Liebe: Paris. Die Seine, Norte Dame, der erste Kuss auf der Brücke, Verführung. Die Geliebte jedoch ist verheiratet und will nicht von ihrem Männe lassen. Das alte Lied: Herzeleid. Doch die Ich-Erzählerin ist hartnäckig, erfinderisch (es ist ihr Job). Auf Capri lässt sich die Romanze fortsetzen. Die Insel und vor allem der ort Anacapri sind derartig genau und atmosphärisch dicht beschrieben, dass man der Erzählerin jedes Wort glaubt. Doch eine Nacht nur gönnt ihr Gewaltigen! Dann ist die Geliebte wieder entschwunden wie ein Traum.

Und damit dies alte Lied nicht langweilig wird, gibt es die paraphrase, den Überbau, der indirekt kommentiert und vielleicht sogar interpretiert. Denn so eine Geschichte zu erfinden ist ja nicht mehr im luftleeren Raum möglich. Und die Aufträge erfolgen nicht persönlich, sondern per Internet, im Chat oder per E-Mail.

Das begleitende Geschichtengeflecht besteht aus Coverversionen von Märchen, Sagen, Legenden, auch zeitgenössischen Mythen. Nehmen wir mal die bekanntesten. Da sind die Geschichten um große, gescheiterte Liebespaare. Wir lernen Lancelot und Guinevere von innen kennen. Dann Paolo und Francesca im italienischen Mittelalter. Dann George Mallory, den mutmaßlichen Erstbesteiger des Mount Everest – er verliebte sich in den höchsten Berg, vernachlässigte dabei seine Familie daheim. (Eines der wirklich bewegenden Kapitel.)

Diesen Paaren gemeinsam ist die Entdeckung der Welt. Lieben heißt Entdecken, sich und seinen Horizont ausweiten. Francesca beispielsweise lebte stets im düsteren Schloss ihres strengen Vaters, der mit einer anderen Familie jahrelang im Krieg lag. (Man kennt das ja: die Capulets und die Montagues.) Als Pfand der Friedensschließung soll Francesca den Sohn des Gegners heiraten. Es kommt ein wunderschöner Jüngling, Paolo, um die Braut abzuholen. Auf dem Weg zu der anderen Burg verlieben sich die beiden unausweichlich ineinander, und für Francesca scheinen sich Freiheit und Liebe mit dem Himmel auf Erden zu verbinden. Dann der grausame Augenblick: ihr Bräutigam wird nicht Paolo sein, sondern dessen brutaler und hässlicher Bruder. Der Untergang des Liebespaars lässt nicht lange auf sich warten. Wozu also überhaupt lieben? Liebe versus Tod – das alte Gegensatzpaar, hier wird’s Gestalt.

Wer überhaupt nicht liebt, lebt in seinem eigenen Gefängnis. In einer Fabel, die an Wintersons „Das Geschlecht der Kirsche“ erinnert, wird von der armen Weberstochter erzählt, die ausgesetzt und von einem armen Schrotthändlerpaar an Kindes Statt aufgezogen wird. Diese Episoden sind ebenso märchenhaft wie grotesk und listig-lehrreich. Das ahnungslose Kind, abgeschieden aufgewachsen, stellt dumme Fragen: Was ist das Gelobte Land? Was bedeutet „hienieden“ für uns? Die mürrische Mama weist all ihre Wundergläubigkeit zurück. Ja, sie will nicht einmal wahrhaben, dass so etwas wie das Gelobte Land hienieden existieren kann. Wozu dann aber leben?

Dabei kann das Leben so wundersam sein. Man nehme beispielsweise die Geschichte von Ali, der schönen jungen Türkin, die aber als Junge aufgezogen wird. Da nun die Holländer im 16. Jahrhundert so versessen auf Tulpen sind, soll sie Tulpenzwiebel übers Mittelmeer nach Holland schmuggeln. Das geht am besten direkt am Körper, denn der Zoll ist streng und die Piraten sind sowieso überall. Auf diese Weise bekommt die hübsche Ali ein Gemächt verpasst. Die Piraten überfallen das Kauffahrtsschiff und verkaufen Ali an die Engländer. An deren Hof möchte eine Prinzessin gerne die Liebe kennenlernen, und welches Studienobjekt würde sich dazu besser eignen als ein „Junge“ namens Ali?

Von dieser zauberhaften Tulpengeschichte rührt die Titelillustration der englischen Ausgabe her: ein Meer aus orangeroten Tulpenblüten, in dem eine rothaarige, aber sehr weißhäutige Schönheit ruht, als gälte es, dem Begriff „Verführung“ eine Gestalt zu verleihen.

Mein Eindruck

Winterson erkundet als, was es bedeuten kann, wenn man im Zeitalter des Internets, des virtuellen Cyberspace von Liebe spricht. Ja, nicht nur spricht, sondern insbesondere davon erzählt. Die Folie ist das reiche Gewebe von Liebesgeschichten, das Legenden und Märchen liefern. Der Vordergrund ist die aktuelle Story, interaktiv zusammengesponnen, gechattet und gemailt, zwischen zwei Unbekannten. Ist nun dieses Erzählen lediglich Selbstzweck? Ist hier Liebe erweckbar? Was hat diese Liebe dann mit dem Leben des jeweiligen Erzählers zu tun?

Ich will nicht zuviel hineininterpretieren, nur soviel sei angedeutet: Am Schluss wandert die Erzählerin – Ali(x) – durch das ausgetrocknete Bett des „alten Vaters Themse“ und stöbert in den Überbleibseln der Menschheit, zumindest dessen, was dieser Lebensfluss in die See der Zeit zu tragen hat. Es ist armselig genug. Dann doch lieber lieben, um zu leben. Und sei es nur in Fiktionen.

Für die diese Erfindungen, die Dichtung an sich, ist Sprache das konstituierende Element. Und Wintersons Sprache ist eine der schönsten, die man sich vorstellen kann, ja, die man zur Zeit auf dem Literaturmarkt überhaupt finden kann. Zumindest im Original. Die Autorin findet steht Fügungen, die endgültig so stehenbleiben können, so genau treffen sie das, was gesagt werden soll. Und nicht mehr als nötig. Kein Geschwätz, keine überflüssigen Beschreibungen – ein Gerüst für die eigenen Fantasiekräfte. Ein kleines Beispiel: Es gibt den ‚Cyberspace‘, den gedachten Raum der Elektronen und des Netzes. Aber hienieden leben wir im „Meatspace“, dem konkreten Raum des Fleisches und des Blutes. Eine ganz andere Dimension, und daher eine burschikose andere Bezeichnung.

Wenn man also schon nicht fiktional lieben kann, dann zumindest die Fiktion, wenn sie so erzählt wird. „You can change the story. You are the story.“

Unterm Strich

Von einer Handlung im Sinne eines Plots lässt sich bei diesem Buch nicht unbedingt sprechen. Immerhin: Es wird erzählt. Und zwar ausgiebig, vielseitig, einfallsreich und in einer wunderbar schönen Sprache. „Ein Buch, das man jemandem schenken sollte, denn man wirklich liebt.“ (Simon Schama, ‚Mail on Sunday‘)

„Neues Medium, uraltes Thema – dass das zusammengeht, kann Rezensentin Aimee Torre Brons nur bestätigen, die diese Geschichte einer gescheiterten Liebe im virtuellen Raum des Internets scheinbar verschlungen hat. Wie die Autorin so mühelos und begeistert die hohe Kunst der „Short Cuts“, der kurzen (Film)schnipsel, mit Ausflügen ins kulturelle Gedächtnis der abendländischen Kultur (Ovids Metamorphosen, Virginia Woolfs Orlando, große Liebespaare wie Lancelot und Guinevere) kombiniert, „ohne dabei den roten Faden einer Liebesgeschichte zu verlieren, die durch permanente Verwandlungen immer wieder dazu verführt, sich gefangen nehmen zu lassen“, findet sie ansteckend.

Bei diesen Grenzüberschreitungen sei der Roman besonders stark: „Indem der Erzählraum permanent mit Veränderung, Ausdehnung und Grenzüberschreitung spielt, bleibt er offen für die unterschiedlichsten Leserichtungen und Interpretationen.“ Und obgleich Torre „nicht von einem ’neuen‘ Roman der virtuellen Medien sprechen“ möchte, weil sich die im Lesen offenkundig werdenden Möglichkeiten des Internets als alte Möglichkeiten des (mündlichen) Erzählens entpuppen, hält sie das Buch doch für „ein unterhaltsames barockes Spiel“.“ (Frankfurt Rundschau, 4.4.2002)

Hardcover: 238 Seiten
Originaltitel: The PowerBook, 2000
Aus dem Englischen von Monika Schmalz
ISBN-13: 9783827000439

www.heyne.de

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