Als ein genialer Hacker zum Serienkiller mutiert, aktiviert die Polizei dessen ehemaligen Kampfgefährten, der nun im Gefängnis sitzt und reuevoll die Chance auf vorzeitige Entlassung nutzt, was wiederum den erwähnten Ex in Rachewut versetzt … – Computer-Thriller aus der (relativen) Frühzeit des Subgenres, der aufgrund klassischer Spannungselemente die Altertümlichkeit der beschriebenen Digital-Wunder verzeihen lässt und trotz ausgeprägter Figurenklischees gute Unterhaltung bietet.
Das geschieht:
Wyatt Gilette und Jon Holloway waren Kreaturen des „Blauen Nichts“ = des World Wide Web und seiner vielen, nur den Eingeweihten bekannten Nebenwelten. Wyatt war ein As als Programmierer und Hacker, aber aus einer intellektuellen Herausforderung wurde eine Sucht, die sein Leben zerstört hat. Familie, Freunde und Ehefrau haben ihn verlassen, und als er sich an den Rechnern des US-Außenministeriums zu schaffen machte, packte ihn das FBI: Gilette sitzt eine drei- bis fünfjährige Haftstrafe in der Bundesstrafanstalt San José ab.
Jon Holloway ist im Netz noch gewandter als Wyatt, denn ihm gelten Regeln und Rücksicht überhaupt nichts. Hochintelligent, aber ungeliebt hat sich Holloway in „Phate“ (= „Schicksal“) verwandelt, den ultimativen Datenpiraten, der nicht hackt, weil er neugierig ist, sondern crackt, weil er Zwietracht säen und zerstören will. „Phate“ spielt außerdem „Access“, bei dem es eigentlich darum geht, virtuelle Gegner in möglichst großer Zahl aus dem Weg zu räumen. Nun hat Holloway begonnen, sich als realer Serienmörder zu betätigen. In Washington, D. C., und Portland hat er begonnen, nun setzt er sein Treiben – unterstützt von „Shawn“, seinem nur per PC auftretenden Komplizen – im kalifornischen Silicon Valley fort.
Die Polizei ist machtlos, bis Lieutenant Thomas Anderson, Leiter der „California State Police Computer Crimes Unit“ (CCU), die sich speziell mit Fällen von Computer-Kriminalität beschäftigt, einen verzweifelten Schritt unternimmt: Er holt Wyatt, dessen Ruf und Fähigkeiten er kennt, aus dem Gefängnis, und setzt ihn auf „Phates“ Spur. Tatsächlich kann Anderson mit Wyatts Hilfe Holloway stellen, wird aber von diesem, der nicht nur ein Hacker, sondern auch ein Meister der Maske ist, in eine Falle gelockt und erstochen. An seine Stelle rückt Detective Frank Bishop, der im Bund mit der geschockten CCU Wyatt mehr Spielraum gewährt – eine Entscheidung mit Folgen, wie offenbar wird, als „Phate“ und Shawn die Herausforderung annehmen, zumal sie noch eine alte Rechnung mit Wyatt zu begleichen haben …
Blaues, böses Nichts
„The Blue Nowhere“ – der in diesem unseren Land in guter, alter Tradition unter dem nichtssagenden Titel „Lautloses Duell“ erscheint – ist eigentlich ein historischer Kriminalroman, obwohl er erst 2001 erschien. Was auf den ersten Blick paradox klingt, wird nach kurzem Überlegen logisch: Einerseits gibt es die Wunderwelt der digitalen Daten, die in beinahe stündlichen Schüben im Umbruch ist, und andererseits ist da das Schattenreich derer, die sich auf krummen, sprich kriminellen Wegen dem „Blauen Nichts“ nähern. Hinzu kommt der spektakuläre Zusammenbruch diverser Dotcom-Imperien jüngeren, aber auch älteren Datums: Die Hälfte der Firmennamen, die Deaver in seine Geschichte einstreut, markieren Kerben auf dem Revolvergriff des Alten Marktes, der seinem selbst ernannten Nachfolger das Fürchten gelehrt hat.
So rasch kann sich das „Blaue Nichts“ also wandeln. Als Deaver seinen Thriller schrieb, war die Welt im Silicon Valley noch in Ordnung. „Lautloses Duell“ leidet ein wenig darunter, dass sich dies geändert hat, denn nichts wirkt anachronistischer als ein Plot, der sich auf Fortschritt und Geschwindigkeit gründet und dabei von der Realität überholt wird.
Anders als in seinen Romanen um den querschnittgelähmten Ermittler Lincoln Rhyme wagte sich Deaver dieses Mal auf dünnes Eis. Bisher griff er auf das Spezialwissen der US-Polizeilabors zurück und nutzte es, um auf unnachahmliche Weise zu schildern, wie heutzutage Tatorte untersucht und Spuren ausgewertet werden. Auch hier ist alles ständig im Fluss, aber die Methoden bleiben grundsätzlich dieselben – und sie stehen dem Leser unmittelbarer vor Augen, da auch der moderne Sherlock Holmes mit einem reichhaltigen und interessanten Instrumentarium und nicht nur mit der Tastatur arbeitet. Die Welt der Hacker & Cracker ist ungleich abstrakter, und sie ist buchstäblich zweidimensional.
Desaster per Tastendruck
Deaver hat sich aber alle Mühe gegeben, die Ergebnisse seiner wie immer umfangreichen Recherchen in allgemein verständliche Worte und eine spannende Handlung zu fassen. Daher teilt sich die Faszination, der Wyatt und Jon (oder besser Valleyman und Phate) erlegen sind, dem Leser gut mit. In diesem Zusammenhang gelingt Deaver übrigens ein Vorgriff auf die digitale Zukunft = unsere Gegenwart, denn inzwischen ist es sehr realistisch, dass per Computer Krankenhäuser ferngesteuert, der Verkehr ganzer Stadtviertel lahmgelegt oder SWAT-Teams auf unschuldige Bürger gehetzt werden können. Dies gleicht aus, dass die echten Hacker vermutlich lachen über Deavers längst veraltetes Insider-Wissen, das man darüber hinaus vermutlich mit dem Techno-Babble der „Star-Trek“-Fernsehserien gleichsetzen muss.
Für „Lautloses Duell“ lässt Deaver fallen, was ihm als Kriminalschriftsteller bisher als Maß aller Dinge galt: Keine Tat ohne Spuren, und damit sind nicht die Fährten gemeint, die der Hacker im digitalen Äther hinterlässt, sondern die üblichen, meist mikroskopisch kleinen Indizien, mit denen diverse „CSI“-Team TV-Krimi-Stunden bestreiten. Dieses Mal kommt dieser Aspekt nur einmal zum Tragen, als Experten der klassischen Ermittlungsarbeit ein Tatort-Foto entschlüsseln, doch sonst bleiben die Orte, an denen Phate sein Unwesen treibt, bemerkenswert unbeachtet. Stattdessen springt Wyatt, Deavers neuer Liebling, an seine Konsole und erledigt die Spurensicherung und -auswertung per Tastatur.
Immerhin gelingt ihm dies spannend, was mit dem Fortschreiten der Handlung wichtig wird, da es Deaver nur schwer gelingt, sein Markenzeichen zu setzen: das Legen falscher Spuren, die genial die Grenzen zwischen Täter, Opfer und Polizist verschwimmen lassen. Leider übertreibt er es; je weiter die Handlung dem Finale entgegen strebt, desto rascher wechseln die Verdächtigen, bis der eigentliche Bösewicht aus dem Hut gezaubert wird. Dieses Mal ist der dämonische Dr. Mabuse, der fünfhundert Seiten seine Fäden zog, nicht einmal ein Mensch.
Schema F(iguren)
Andererseits ist das womöglich gar nicht die schlechteste Lösung, denn mit seinen menschlichen Figuren hat Deaver stets Schwierigkeiten, solange sie nicht ihrem Job nachgehen. Die schwächsten Passagen in „Lautloses Duell“ sind jedenfalls eindeutig jene, in denen kräftig auf die Tränendrüse gedrückt wird. Während Wyatt Gilettes Sturz durch die Maschen des Internets überzeugt, wirkt seine Rückkehr in die ‚richtige‘ Welt gekünstelt. Die Wiedervereinigung der wundersam komplettierten Gilette-Familie als Happy-End ist einfach nur lächerlich, und solche rührseligen Klopfer leistet sich Deaver (auch mit seinen anderen Figuren) ziemlich oft – sie nehmen wohl schon das Drehbuch für eine zukünftige Verfilmung vorweg, da sich kaum ein echter Schauspielerstar für eine Rolle begeistert, die ihn nur gebannt in einen Monitor starren lässt.
Immerhin bringt Deaver Licht in eine Subkultur, die klischeebedingt von „Nerds“ und „Geeks“ bevölkert wird, jenen bleichen, bebrillten, verhuschten Gestalten, die in jeder ordentlichem Hollywood-Komödie aus dem Highschool-Milieu ordentlich vertrimmt werden als Strafe dafür, dass sie ihre Bücher und Computer den Mädchen und dem Suff vorziehen. (Im wahren Leben werden sie fürstlich dafür bezahlt, ihren Marotten zum Frommen der US-Wirtschaft zu frönen, was bei messbarem finanziellen Erfolg nonkonformes Verhalten und die Abwesenheit sozialer Qualitäten sogleich in die uramerikanische Tugenden „Durchsetzungsvermögen“ und „liebenswerte Exzentrik“ verwandelt.)
Ungeachtet solcher Einwände lässt sich „Lautloses Duell“ als das genießen, was es ist: ein Popcorn-Pageturner, der Tiefgang nicht benötigt bzw. durch Action ersetzt. Wenn man diesen Job – zu unterhalten nämlich – und damit sein Publikum so ernst nimmt wie Jeffery Deaver, darf man mit Recht stolz auf die geleistete Arbeit sein. 500 Seiten „Lautloses Duell“ lesen sich ohne Langeweile: Ist das nicht Empfehlung genug?
Autor
Jeffery Deaver (geb. am 6. Mai 1950 in Glen Ellyn, Illinois) gehört zu den festen Größen des unterhaltsamen Thrillers. Ihm ist es gelungen, bereits drei Mal für den angesehenen „Edgar Award“ der „Mystery Writers of America“ nominiert zu werden. Zwei Mal konnte er den „Ellery Queen Mystery Magazine‘s Award“ für die beste Kurzgeschichte des Jahres gewinnen. Geschrieben hat Deaver sein ganzes Leben, sein erstes ‚Buch‘ verfasste er bereits mit 11 Jahren. Während seiner Schulzeit gab er ein Literatur-Magazin heraus. Später studierte Deaver Publizistik und Recht. Anschließend praktizierte er acht Jahre in New York als Anwalt. Nebenbei betätigte er sich als Musiker, Texter und Poet (!), bevor ihm schließlich als ‚richtiger‘ Schriftsteller der Durchbruch gelang. Heute lebt und arbeitet Deaver die meiste Zeit des Jahres im US- Staat Virginia.
Taschenbuch: 512 Seiten
Originaltitel: The Blue Nowhere (New York : Simon & Schuster 2001)
Übersetzung: Gerald Jung
www.jefferydeaver.com
www.randomhouse.de/blanvalet
E-Book: 1845 KB
ISBN-13: 978-3-641-19627-1
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