Wolfgang Jeschke (Hrsg.) – Heyne Science Fiction Jahresband 1983

Klassische SF-Erzählungen für Sammler und Interessierte

Der inzwischen verstorbene Herausgeber der Heyne-Science-Fiction-Reihe, Wolfgang Jeschke, pflegte von 1980 bis 2000 eine schöne Tradition: Jedes Jahr präsentierte er seinen Lesern eine Anthologie von guten phantastischen Geschichten zu einem sehr erschwinglichen Preis. Lag dieser 1980 noch bei schlappen 4,80 DM, so war der Preis im Jahr 2000 bereits bei 18,00 DM angelangt – und wäre heute überhaupt nicht mehr bezahlbar. (Man könnte man die Preissteigerungsrate ausrechnen: Sie ist astronomisch hoch.)

Wie immer jedoch lieferten die SF-Jahresbände Erzählungen, die von der ersten Liga der Autoren und Autorinnen stammte. Stets war ein kleiner Ausreißer dabei, sei es ein Autor aus dem Ostblock – zu dem Jeschke von jeher gute Kontakte pflegte -, oder zwei Kurzromane, diesmal von Gene Wolfe und Kate Wilhelm.

Die Erzählungen

1) Ambrose Bierce: Moxons Meister (Moxon’s Master, 1893)

Der Ich-Erzähler ist ein Skeptiker, was die Intelligenz von Pflanzen und Maschinen anbetrifft, aber der Erfinder Moxon belehrt ihn eines Besseren. Nach einem erhellenden Disput macht sich der Erzähler wie der bekehrte Saulus wieder auf den Weg, doch ein aufziehendes Gewitter lässt ihn noch einmal umkehren. Da auf sein Klopfen niemand öffnet, setzt er ohne Vorwarnung einen Fuß in Moxons Werkstatt. Eine bemerkenswerte Szene lässt ihn verharren und sich hinter der halb geöffneten Tür verstecken.

Es handelt sich um eine Schachpartie. Auf der einen Seite sitzt Moxon, doch er konzentriert sich auf sein Gegenüber, den unser Chronist nur von hinten sieht. Das Wesen – ist es ein mechanischer Schachspieler oder ein intellektuell modifizierter Gorilla? – spielt ebenso schnell wie Moxon, doch als es verliert, verliert es die Nerven und greift den Sieger der Partie. Das Licht geht aus. Im Schein eines Blitzes ist zu sehen, wie das Wesen Moxon erwürgt. Als der Chronist drei Tage später aus seiner Ohnmacht erwacht, ist er nicht sicher, was er gesehen, und der Mechaniker Harley, Moxons Helfer, trägt nichts dazu bei, diese Zweifel zu beseitigen.

Mein Eindruck

Die 1893 veröffentlichte Geschichte stellt zunächst grundlegende Fragen nach der Intelligenz von Maschinen und anderen künstlichen Wesen (Androiden, Roboter, Kyborgs etc.). Zugleich mit dieser damals – nach Darwin – einigermaßen revolutionären Frage zeigt der Autor seine pessimistische Haltung gegenüber dieser Errungenschaft auf, indem er die Kreatur wie weiland Dr. Frankensteins Geschöpf seinen Schöpfer töten lässt.

Das mag nicht sonderlich einfallsreich sein, aber es zeigt wieder einmal das in fin de siècle aufkommende Unbehagen an der Kultur und zumal der industriellen Technik. Während die Philosophie noch zu begeistern vermag, erweist sich die angewandte Wissenschaft als potenziell tödlich. Nur zwei Jahre später erschient H. G. Wells‘ Bestseller „Die Zeitmaschine“, der eine noch wesentlich pessimistischere Sicht auf die Evolution des Menschen äußert.

2) Robert A. Heinlein: Katastrophen kommen vor (Blowups happen, 1940)

Im größten Atomkraftwerk Südkaliforniens kommt es immer wieder zu neurotischen Anfällen der Ingenieure. Dr. Silard, der überwachende Psychologe, erklärt dem Direktor King, dass es an der permanenten Gefahr liege, die vom Reaktor ausgehe. Dies lasse die Leute paranoid und psychotisch werden. Auf Dauer könne das nicht gut gehen. Der von ihm hinzugezogene Psychologieprofessor Lentz von der Harvard-Uni kommt zu dem Schluss, dass die einzige realistische Möglichkeit, dem Problem abzuhelfen, in der Abschaltung des Reaktors liege, der einfach eine Fehlkonstruktion sei. Ein Marineoffizier bestätigt sogar einen Fehler in den zugrundeliegenden Gleichungen.

Nach anfänglichem Zögern schlägt King diese Maßnahme den Betreibern vor. Doch im Aufsichtsrat wird knallhart zurückgeschlagen. Die Mehrheitsinhaber wollen ihn ersetzen. Da ergeben sich zwei Alternativen. Zwei Techniker haben einen atomaren Brennstoff gefunden, der sicher ist und den gegenwärtigen Reaktortyp überflüssig macht. Und Dr. Lentz sieht einen Weg, wie er den Aufsichtsrat auf seine Seite bringt. Es ist alles eine Frage der Überzeugungskraft.

Mein Eindruck

Wieder einmal stellt Heinlein unter Beweis, dass er sich in Ingenieurskunst, Wissenschaft, Psychologie, Astronomie und Betriebswirtschaft hervorragend auskennt. Das ist einer der Gründe, warum er so großen Einfluss auf die neuen Autoren ausübte (bis er 1941-1946 wg. Krieg pausieren musste). Außerdem ist seine Novelle zielgerichtet und spannend geschrieben. Am Anfang und am Ende gibt es ein wenig Action, und dazwischen geht es um Wege zur Problembewältigung. Saubere Arbeit.

Mich hat immer wieder verwundert, wie Heinlein fünf Jahre vor der ersten Atombombe derartig kenntnisreich und detailliert über Kernspaltung und Atomenergie schreiben konnte. Allerdings konnte dies auch Lester del Rey in „Nerven“ und Clive Cartmill in „Deadline“ (1944). Cartmills Story rief wegen der Erwähnung gewisser Feinheiten bei der Kernspaltung sogar das FBI auf den Plan.

Daher ist diese Story vielfach als Beispiel für die angeblich Fähigkeit der SF herangezogen worden, die Zukunft vorherzusagen. Viele Autoren würde ihr diese Fähigkeit absprechen, denn schließlich schreibt man für heutige Leser und nicht für künftige. Aber dennoch wird „Deadline“ immer wieder erwähnt. Asimov hatte sie in seinen Auswahlband „SF aus den goldenen Jahren“ (Heyne 06/4600) aufgenommen.

3) Isaac Asimov: Einbruch der Nacht (Nightfall, 1941)

Auf der Welt Lagash steht nahe der Stadt Saro City ein Observatorium, indem der Reporter Theremon Zeuge eines ungeheuerlichen Vorgangs werden will. Eines Vorgangs, von dem nur im obskuren „Buch der Offenbarungen“ der Kultisten die Rede ist. Darin ist von mysteriösen „Sternen“ die Rede.

Er befragt den Astronomen Aton, den Direktor der Saro-Universität, denn der hat ja den kommenden Weltuntergang vorausgesagt. Aton weist an den Himmel. Von den sechs Sonnen, die Lagash abwechselnd bescheinen, steht nur noch die rötliche Beta schwach leuchtend am Firmament. Na und? Aton verliert die Geduld mit diesem respektlosen Hornochsen Theremon, deshalb übernimmt der Psychologe Sheerin die Erklärungen.

Nach einem Exkurs über Himmelskörper, Gravitation und Dunkelheit schwirrt Theremon zwar der Kopf, aber er das Problem immer noch nicht. Na, schön, es wird dunkel werden. Was soll denn daran so schlimm sein? Eine einfache Demonstration durch zugezogene Vorhänge erklärt ihm, was Sheerin meint: Klaustrophobie, die durch den ungewohnten Mangel an Licht hervorgerufen wird. Ja, aber wie einmal gezeigt wurde, kann die Klaustrophobie eine dauerhafte Schädigung sein.

Aber das ist noch gar nichts gegen das, was nach der Dunkelheit kommt: die Sterne. Aber was diese Objekte sein könnte, vermag auch Sheerin nicht zu sagen, denn kein Lebender hat Sterne bislang gesehen. Von jenem Ereignis, das vor 2049 Jahren stattfand und das sich heute wiederholt, berichtet nur das „Buch der Offenbarung“. Und der Grund dafür, dass es keine historischen Berichte gibt, liegt darin, dass jedes Mal die Zivilisation unterging. Denn was wollen die Menschen am dringendsten, wenn es völlig dunkel ist? Licht! Und womit macht man Licht? Mit allem, was greifbar ist, und zwar egal wie …

Die Scheibe von Beta wird von etwas angeknabbert, das wie ein schwarzer Fingernagel aussieht: Es ist der Mond, der sonst unsichtbar ist. Theremon wird beklommen ums Herz. Er hört kaumt den von den Kultisten angestachelten Mob, der aus Saro City kommt, um das Observatorium zu stürmen und die Frevler zu töten. Die Dunkelheit beginnt zu fallen. Als sie vollkommen ist und kein Licht mehr scheint, beginnt der Wahnsinn. Denn das Licht der Sterne ist völlig anders als alles, was je ein Mensch auf Lagash gesehen hat.

Mein Eindruck

Noch heute verursachen mir die letzten Szenen und Sätze dieser Erzählung eine Gänsehaut. Niemand kann sich der Wirkung dieses Bildes entziehen, das zugleich schrecklich und schön ist. Statt der auf der Erde durchschnittlich sichtbaren 3600 Sterne sehen die Lagasher rund 30.000 Sterne auf sich herniederstarren wie Millionen kalter Augen! Satt der erwarteten sechs Sonnen sehen sie sich einem ganzen Universum gegenüber, dem sie sich nackt und schutzlos ausgesetzt fühlen. Dunkelheit, Angst und Klaustrophobie lassen selbst die vorbereiteten Kultisten komplett den Verstand verlieren. Wenn jemand von diesem Ereignis kündet (es werden Fotos und Filme gemacht), dann nur von den Überlebenden aus den abgeschotteten und verriegelten Schutzräumen. Nicht einmal der wahnsinnige Mob kann sie dort erreichen.

Aber es gibt auch jede Menge Humor in dieser Erzählung, die viele Male zur besten SF-Story aller Zeiten gewählt wurde. So erzählt der Astronom und Fotograf Beenay von zwei verwegenen Ideen, die ihn eher an Science-Fiction gemahnen. Dass es nämlich a) woanders weitere Sonnen mit Planeten geben könnte und b) dass es sogar – verrückter Gedanke, schon klar – eine Sonne geben könnte, die nur einen einzigen Planeten hat. Natürlich könne sich darauf niemals Leben entwickeln, versteht sich von selbst, denn da auf dieser Welt den halben Tag Dunkelheit herrschen würde, fehle einfach die nötige Wärme und Energie, die für die Entstehung von Leben einfach unerlässlich sind. War nur so ein spinnerter Einfall, Leute.

Was die Story aber eigentlich zu tragischer Größe erhebt, ist jene bemerkenswerte Diskrepanz zwischen dem Wissen, dass etwas geschehen wird, das es so bereits einmal vor 2049 Jahren gegeben hat, und der Befürchtung, dass dieses Etwas absolut unausweichlich sein wird. Der Leser fühlt sich in die Lage der Seherin Kassandra versetzt, deren sicheren Prophezeiungen niemand Glauben schenkte. Die Katastrophe kommt, aber es gibt nichts, was man dagegen tun kann (außer in die Schutzbunker zu gehen, aber jemand muss ja die Fotos anfertigen).

Noch ein weiterer Aspekt macht diese Geschichte unsterblich. Aufgehend von einer vorangestellten Bemerkung des amerikanischen Philosophen und Schriftstellers Ralph Waldo Emerson zeigt Asimov, was passieren könnte, wenn der Mensch in der Lage wäre, eines Tages das Antlitz Gottes zu sehen. Die Menschen Lagashs haben noch nie die Nacht gesehen (jedenfalls nicht gemäß historischen Aufzeichnungen) und sehen auf einmal die Sterne. Nicht bloß sechs ihrer Sonnen, sondern 30.000 Sonnen! Diesen Anblick interpretiert Emerson als „die Stadt Gottes“, und Asimov zeigt sie uns.

Die „Stadt Gottes“, Gottes Antlitz ist ebenso schön wie schrecklich. Gemäß Shaftesburys Definition aus dem 18. Jahrhundert sind dies die Merkmale, die die Empfindung des Erhabenen kennzeichnen. Wenn Gott also erhaben ist, dann ist sein Anblick, kommt er unvorbereitet, unerträglich und zeitigt Vernichtung. Vielleicht ist doch besser, ein Erdenwurm zu bleiben …

Robert Silverberg hat aus dieser Story einen kompletten Roman gestrickt. Dreimal darf man raten, wie dessen Titel lautet: natürlich „Einbruch der Nacht“ (Heyne 01/10090). In diesem Roman kommt dann auch mal eine Frau vor …

4) Alan Dean Foster: Die Glockenbäume (Ye who would sing, 1976)

John Caitland stürzt in einem schweren Sturm in einem entlegenen Tal in den Bergen ab. Sein Rotorgleiter wird schwer beschädigt, er selbst bricht sich einige Rippen. Doch er ist umgeben von hohen Bäumen, die er im Regen als Glockenbäume erkennt. Er hält es für ein Wunder, denn Glockenbäume gibt es seit über hundert Jahren keine Wilden mehr auf der Welt Chee, und schon gar nicht auf dem Kontinent Vaanland. Sieht er Hirngespinste?

Eine alte Frau schafft Caitlands bewusstlosen Körper mit Hilfe ihres Pferdes in ihr Haus auf einer Waldlichtung und pflegt ihn gesund. Sie lebt schon an die 20 Jahre hier im Wald der Glockenbäume und erforscht ihn. Glockenbäume, überlegt Caitland, sind bei Musikliebhabern auf ganz Chee begehrt, denn sie machen wundervolle Musik mit ihren hohlen, flexiblen Stämmen. Jeder Baum ist etwa 100.000 Krediteinheiten wert. Und jetzt Caitland vor einem Wald aus mehr als 1000 Bäumen – ein ungeheurer Reichtum.

Das Problem mit den Glockenbäumen bei den Kunden besteht darin, dass sie sich nicht fortpflanzen. Den Grund dafür hat die alte Frau, Katherine, herausgefunden. Es ist die Musik von mindestens 206 Bäumen nötig, um einen sogenannten „Käfig“ zur Fortpflanzung anzuregen. Dessen Laich wiederum ist beim Tumbock, einem Säugetier, begehrt, das die Nüsse der Bäume knackt. Beim Knacken veranlasst sein Speichel den Keim zum Sprießen – ein neuer Baum entsteht. Es sind also drei Wesen an der Ökologie der Glockenbäume beteiligt.

Das findet Caitland reichlich kompliziert, und Katherine nennt es ein kleines Wunder, dass die Ökologie so einen Mechanismus hervorgebracht hat. Aber es gibt noch ein Wunder. Katie hat den Bäumen das Spielen von irdischen Musikstücken beigebracht. Zum ersten Mal in seinem Leben hört Caitland Bachs Toccata und Fuge in D-Dur sowie Beethoven. Er ist hingerissen. Und bleibt fürs Erste, ohne wieder Kontakt mit seinem Boss aufzunehmen.

Doch sein Boss findet ihn und hat zwei „Kollegen“ mitgebracht. Er nach dem folgenden Konflikt findet Caitland heraus, worin Katherines eigentliches Geheimnis besteht …

Mein Eindruck

Die Erzählung ist im ökologischen Sinne voll korrekt und passte 1976 ausgezeichnet in die Zeit des sich ausbreitenden ökologischen Bewusstseins. Bemerkenswerterweise wurde sie nicht in den USA veröffentlicht, sondern in Frankreich: in dem Magazin „Galileo“. Der Autor vermittelt mit seinen Beispielen europäischer Musik einen Eindruck von erhabener Größe der natürlichen Schöpfung – wenn nur der Mensch sie in Ruhe lassen würde. Der Mensch würde dies auch tun können, wenn er in der Lage wäre, die komplexen Abhängigkeiten zwischen den Geschöpfen in einer Ökologie zu begreifen. In der Erzählung sind drei Spezies an der Fortpflanzung der Glockenbäume beteiligt. Heutzutage brauchen wir große Computer, um die Zusammenhänge des Klimawandels berechnen zu können.

Natürlich ist das Geschehen auf Chee und das Wunder der Glockenbäume ein ökologisches Märchen. Aber das ist das Vorrecht der spekulativen Science Fiction-Literatur. Und es hilft, auch die menschliche Botschaft zu transportieren. Das uns Wunder der Natur zu verstehen helfen, wer wir eigentlich sind, nämlich ein Teil davon. Ein Teil, den wir nur zu häufig verleugnen.

5) William Golding: Der Sondergesandte (Envoy extraordinary, 1956)

Der Kaiser des Römischen Imperiums weilt gerade mit seinem Adoptivenkel Mamillius in seiner Villa, als ein griechischer Erfinder mit seiner Schwester angekündigt wird. Ein Erfinder? Das könnte etwas Abwechslung in die gähnende Langeweile dieses Nachmittags am Meer bringen. Cäsar lässt bitten.

Phanocles ist ein ehemaliger Bibliotheksassistent aus Alexandria, der wohl aus einer der Schriftrollen eine „Inspiration“ bekommen hat: Dampfkraft. Die Sache mit dem Dampfkochtopf kommt Cäsar recht interessant vor, denn was könnte man doch für Köstlichkeiten in Minutenschnelle kochen! Allerdings will Phanocles die Dampfkraft in den Dienst der Schiffahrt stellen und sie mit einer zweiten Erfindung kombinieren: Sprengstoff.

Während der Jüngling Mamillius, wie zu erwarten, nur Augen für die schöne verschleierte Euphrosyne hat, erteilt der Kaiser die gnädige Erlaubnis, die „Amphitrite“ als Experimentalschiff zu bauen. Er weiß allerdings, dass überall Spione lauern, die seinem Thronfolger Posthumus jedes seiner Worte hinterbringen, und befürchtet, dass der Bau des Dampfschiffs im Hafen der Insel nicht lange verborgen bleiben kann.

In der Tat scheint das Schiff das Unglück magnetisch anzuziehen. Es beginnt mit einem Anschlag, den der nichtsahnende Mamillius auf sich bezieht. Doch das ist noch längst nicht alles. Der verheerende Tag endet damit, dass Cäsar den auf wundersame Weise überlebenden Erfinder so weit weg wie möglich schickt: nach China.

Mein Eindruck

Die Dampfmaschine von Alexandria hat es in der Antike tatsächlich gegeben. Nicht auszudenken, wenn sie tatsächlich im Militärdienst eingeführt worden wäre, ebenso der Sprengstoff. Die dritte Erfindung ist der Buchdruck mit seinen Vervielfältigungsmöglichkeiten. In seiner Erzählung malt uns der Autor, welche Auswirkungen die ersten beiden Erfindungen auf das römische Militär und seine stolzen Offiziere gehabt hätten.

Kanonen, die aus der Ferne nicht nur Schiffe, sondern auch Truppen und ganze Städte vernichten könnten! Wo blieben da Ehre, Auszeichnung und Farbenpracht des individuellen Soldaten? Die Maschine würde über den Menschen siegen, und nichts Menschliches wäre mehr etwas wert.

Eine Vorahnung vom Zorn der Menschen bekommen Phanocles und Co. bereits im Hafen zu spüren. Zuerst greift der Pöbel an, der hier Hexerei bekämpft, dann die Kriegsflotte von Posthumus, der seinen vermeintlichen Rivalen Mamillius ausschalten will. Die Folgen sind nicht nur Action und jede Menge (unfreiwillige?) Komik, sondern auch Zerstörung und Chaos. Vom friedlichen Nachmittag eines Cäsars bleibt rein gar nichts mehr übrig. Und man kann ihn nur dafür bewundern, in dem Durcheinander einen kühlen Kopf zu bewahren.

Alles in allem untersucht der Autor hier die Auswirkung neuer Technologien auf bestehende Herrschaftsstrukturen und das menschliche Individuum. Bezogen auf den Anbruch des Atomzeitalters fallen die Antworten negativ aus. Jede Technologie von genügend, ähm, Sprengkraft wirft das Gefüge der Gesellschaft und Herrschaft durcheinander. Aber kann der Einzelne damit Schritt halten?

6) Gene Wolfe: V.R.T. (V.R.T.)

Dies ist der dritte Teil eines aus drei Novellen bestehenden Novellenzyklus‘ – die Bezeichnung „Roman“ wird nicht mehr verwendet – mit dem Titel „Der fünfte Kopf des Zerberus“ (1972) und kann folglich nur am besten im Zusammenhang ganz verstanden werden. Daher sollen die zwei vorhergehenden Novellen kurz zusammengefasst werden.

1) „Der fünfte Kopf des Zerberus“

Schauplatz ist ein fernes Sonnensystem, das aus zwei Planeten besteht, die von französischen Aussiedlern kolonisiert wurden. Die Franzosen rotteten die Aborigines aus, die wahrscheinlich Gestaltwandler waren. David ist ein Junge aus dem Planeten St. Croix und ein Nachkomme in der fünften Generation von nicht näher beschriebenen Vorfahren (Franzosen), er ist aber auch ein Klon seines Vaters. Seine Suche nach dem Selbst aus dem Labyrinth einer schrecklichen Kindheit führt zum Vatermord.

2) Ein Märchen John V. Marsch“

Dies ist der Versuch des im ersten Teil aufgetauchten Anthropologen John V. Marsch, die Kultur der Ureinwohner und deren Beziehung zur Natur zu rekonstruieren. Die Grenze zwischen Real- und Traumwelt ist hier durch die Form des Mythos aufgehoben.

3) „V.R.T.“

Hier erreicht die Suche nach der persönlichen und kulturellen Identität ihren Höhepunkt. John V. Marsch ist nun Häftling in einem Gefängnis auf St. Croix. Man beschuldigt ihn der Spionage für die Schwesterwelt St. Anne und des Mordes an dem Vater von Nr. 5 in Teil 1, er findet sich in der Albtraummaschinerie der Staatsgewalt wieder.

Dennoch bietet „V.R.T.“ faszinierende Lektüre auf mehreren Ebenen. Der Gefängnisbeamte, in dessen Obhut sich Marsch nun befindet, soll die Spionageanklage anhand der Dokumente belegen, die man beim Gefangenen beschlagnahmt hat. Es handelt sich um ein Reisetagebuch, ein Gefängnisjournal und Tonbandaufnahmen, die transkribiert wurden.

In seinem Bemühen um eine Stelle als Anthropologe auf der Erde, führt Marsch auf Ste. Anne Interviews mit alten Bewohnern des Planeten, die sich noch an die ausgerotteten Annesen, also die Ureinwohner oder Aborigines, erinnern. Neben allerlei Jägerlatein erfährt er auch von einer heiligen Höhle der „Abos“, die in den Bergen befinden soll, wo der Fluss Tempus („Zeit“) entspringt. Mit dem Mischling V.R. Trenchard (= V.R.T.) bricht Marsch Anfang zu seiner Forschungsreise auf.

Sein Reisetagebuch liest sich anfangs exotisch und spannend wie ein Roman von H. Rider Haggard („Die Minen von König Salomon“, „Sie“), denn V.R.T. steckt voller Wissen über die Welt der Annesen, das ihm seine Mutter überliefert hat. Diese ist schon längst wieder in der „Weite der Leere“, der menschenleeren Steppe, verschwunden. Doch in der Mitte des Reisetagebuch-Fragment kommt es zu einem Wechsel im Stil, und auf einmal sagt der Schreiber, dass er kaum den Stift halten kann.

Kurz zuvor haben wir aus den Aufzeichnungen des Gefangenen Nr. 143 (Marsch?) erfahren, dass auch er den Stift kaum halten kann. Sein Stil ist auch kaum mit dem eines Wissenschaftlers von der Erde vereinbar, und er erwähnt ständig seine Mutter und seinen Vater, ja, er erwähnt sogar detaillierte Unterschiede zwischen dem Freien Volk der Berge und dem Volk der Wiesenmorre im Flachland. Woher hat er diese Kenntnisse?

Zusammen mit dem Wissen, dass „Marsch“ drei Jahre beim Freien Volk der Annesen verbracht hat – er war insgesamt fünf Jahre auf Ste. Anne – , müssen wir zum Schluss kommen, dass aus „Marsch“ unversehens V.R.T. geworden ist. Das heißt, derjenige, der auf Ste. Anne starb – wohl an einem infizierten Katzenbiss -, war gar nicht V.R.T., sondern vielmehr John Marsch. V.R.T. hat in einem Akt der Annesen-Mimikry dessen Identität übernommen. Doch zu welchem Zweck?

Mein Eindruck

Wie der gesamte Roman ist auch „V.R.T.“ vielschichtig in seinem ungeordneten Aufbau und erfordert hohe Konzentration beim Lesen. Oftmals hatte ich das Gefühl, dass sich viel mehr abspielt, als ich erfassen konnte, und mehrmaliges Lesen enthüllt neue Geheimnisse, weitere Bezüge und Labyrinthe, aber dennoch herrscht dahinter eine bemerkenswerte Logik und Stringenz.

Wie schon in der ersten Novelle des Zyklus‘ stellt der Autor die Frage nach der Identität des Menschen, nach Menschentum und Menschlichkeit. Er fordert uns heraus, den unterschied zwischen John Marsch und V.R.T. zu erkennen. Auf diese Weise hinterfragen wir unsere eigene Identität, als blickten wir in einen Spiegel. Raffiniert wie der ganze Zyklus.

Der sprachliche Stil ist ausgezeichnet, und viele Kritiker bezeichnen dieses schwierige Werk als den wichtigsten SF-Roman der 1970er Jahre. Aber man sollte sich schon auf ein wenig Gedankenakrobatik einlassen, wenn man sich für dieses Buch interessiert. In der Taschenbuchausgabe der „Heyne Bibliothek der SF-Literatur“ findet der SF-Fan eine ausgefeilte Interpretation und kritische Würdigung aller drei Novellen, angefertigt von Joan Gordon.

7) Kate Wilhelm: Winterlicher Strand (1981)

Lyle Taney ist eine Historikerin mittleren Alters, die, seitdem sie ihren zwölfjährigen Sohn Mike durch Drogen verloren hat, desillusioniert ist. Um der Depression zu entgehen, hat sie sich fünf Jahren lang mit Falken beschäftigt und ein Buch darüber veröffentlicht. Das gefällt allerdings ihrer Fakultät an der Uni nicht gerade, die sie nun „freistellt“. Es ergibt sich, dass ihr Verlag sie um ein Buch über Weißkopfseeadler bittet, und da sich diese am besten in Oregon an der Pazifikküste beobachten lassen, fährt sie dorthin.

Vor ihrer Abreise erhält sie allerdings Besuch von einem Typen namens Hugh Lasater, der sie bittet, während ihres Aufenthaltes an der Küste bei einem einsam lebenden Bewohner vorbeizuschauen, der sich Saul Werther nennt. Der Mann scheine ein Spion oder Agent zu sein, und das einzige, was Lyle zu tun habe, um ihrem Land bzw. ihrer Regierung zu helfen, bestehe darin, einen Fingerabdruck zu besorgen, anhand dessen man Werther identifizieren könne. Das Ansinnen kommt Lyle unmoralisch vor, doch Lasater weiß alles über sie – auch wie prekär ihre Finanzlage nun werden könnte, wo die Uni sie gefeuert habe. Und der Verlag werde erst in Monaten zahlen.

Zwei Wochen vergehen, in denen sie weder ja noch nein sagt, doch es kann nicht mehr lange dauern, bis die Adler eintreffen, um ihr riesiges Nest in den Hügeln an der Küste herzurichten. Ein junger Mann namens Juan, den Lasater als den Koch und Laufburschen von Saul Werther beschrieb, lädt Lyle ein, mit Werther Kaffee zu trinken und bei einem zweiten Treffen zu Abend zu essen. Zu ihrer Überraschung fühlt sich Lyle bei Werther erstaunlich wohl, denn das ist ein Mann mit philosophischen Gedanken, der durchaus in der Lage ist, auch Geschichte, ihr Spezialgebiet, zu diskutieren. Er schreibt selbst an einem Buch.

Nach dem dritten Abend bei Saul fühlt sich Lyle jedoch sehr krank, gerade so, als hätte sie Grippe. Sie vergisst die Dinge, die an diesem Abend passiert sind, so etwa Werthers Schultermassage und den leckeren Dessertwein. Und ihre teure Kameraausrüstung. Als der ungeduldig gewordene Lasater bei ihr aufkreuzt und auf Ergebnisse dringt, fasst sie einen verzweifelten Entschluss. Sie will sich der Entscheidung für oder gegen Werther entziehen. Das ist ein Schachzug, den weder Lasater noch Werther vorausgesehen haben. Während es zwischen Juan und Lasater zunehmend zu Spannungen kommt, fällt Lyle in einem Versteck in ein fiebriges Delirium, in dem sie schreckliche Träume heimsuchen.

Als sie daraus zurückkehrt, hat sich die Welt verändert. Aber auch Lyle ist nicht mehr dieselbe …

Mein Eindruck

Ich bewundere die 1928 geborene Erzählerin Kate Wilhelm immer mehr. Ihr Stil ist ruhig und dennoch dynamisch, ihre Beschreibungen selbstsicher und dennoch einnehmend, so dass wir stets an dem Schicksal der Figuren Anteil nehmen und uns fragen, wie die Geschichte wohl ausgehen wird. Und „Winterlicher Strand“, das voller wunderbarer Bilder und Metaphern ist, bildet dabei keine Ausnahme.

Wilhelm hat sich schon mehrfach mit den Folgen der Gentechnik, der neuesten Biologie- und Virenforschung befasst, so etwa in „Der Clewiston-Test“ (1976, dt. bei Heyne). Wissenschaftler sind ihr geläufig, ebenso moderne Konzepte wie etwa Immunität, ewige Jugend oder Cloning. „Winterlicher Strand“ stellt uns Unsterbliche vor.

Saul Werther, so glaubt der „Berater“ Lasater herausgefunden zu haben, ist ein deutscher Jude, der in den 1920er Jahren einem Biologieprofessor namens Hermann Franck assistierte, bis die Nazis begannen, sowohl Juden allgemein als auch jüdische Wissenschaftler im speziellen zu drangsalieren und zu vertreiben. Die „Arisierung“ der Wissenschaft begann schon Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre. David und Daniel, einem jüdischen Zwillingspaar, gelang es, die Nazis zu täuschen und den durch Francks Virenkulturen unsterblich gemachten David außer Landes zu schmuggeln.

Daniel und Davids Eltern wurden in den KZs ermordet, doch David, so erzählt es Juan der erstaunten Lyle, hatte nun die Aufgabe, die Bürde der Unsterblichkeit zu schultern. Sollte er damit die Menschheit beglücken und weitere Nazis ermöglichen, oder sollte er eine Elite ethisch empfindender und denkender Menschen auswählen und formen? Juan berichtet, dass sich David, der heutige Saul Werther, für Letzteres entschied. Und Lyle sei nun eine von IHNEN, ob sie nun wolle oder nicht.

Das alles kümmert Lasater und seine Agenten nicht, die nur ihr Pfund Fleisch haben wollen. Ja, Lasater geht sogar soweit, einem seiner Agenten, einem Frauenschänder, Lyle zur Beute anzubieten. Solange der Mord nur Saul Werther aus seinem Versteck hervorlockt. Lyles Schicksal ist ebenso sehr in der Schwebe wie das der Adler, die sie beobachtet hat.

Zahlreiche Illustrationen von Olga Rinne werten die leicht verständliche, sowohl poetische als auch zupackende Geschichte zusätzlich auf. Diese Novelle ist 1986 fürs deutsche Fernsehen mit Ruth Maria Kubitschek verfilmt worden: Der Titel lautet „Dem Tod auf der Spur“ (Info: http://www.ziegler-film.com/produktionen/erotic-tales/produktion/dem-tod-auf-der-spur.html).

Unterm Strich

Dies ist der letzte SF-Jahresband, der sich an sogenannte Science-Fiction-Fans richtet. Der Band für 1984 ist, wie der Herausgeber ausführt, schon stärker auf die allgemein interessierte Leserschaft ausgerichtet. Die Gründe dafür, kann man dort nachlesen. Einer davon ist jedoch, dass sich die preisgünstigen und allgemein verständlichen Jahresbände einer steigenden Beliebtheit erfreuten. Zu den heutigen Bedingungen wären sie gar nicht mehr zu akzeptablen Preisen zu produzieren.

Der Jahresband 1983 beginnt mit zwei starken klassischen Erzählungen aus dem „Golden Zeitalter der SF“, nämlich den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Asimovs „Einbruch der Nacht“ gehörte für mich schon immer zu den absoluten Top Ten unter den SF-Storys, und Heinleins „Katastrophen kommen vor“ könnte genauso gut auch heute spielen, etwa in Fukushima. Bierces Erzählung ist sozusagen Proto-SF und eher für Sammler von großem Interesse.

Aber Jeschke greift auch andere Themen auf. In „Die Glockenbäume“ führt das in den frühen siebziger Jahren aufkommende ökologische Denken zu einer neuen Weltsicht der Hauptfigur. Vielleicht verdanken die Autoren auch Tolkiens Werk einen neuen Blick auf Bäume und Wald, besonders aber auf deren Bewohner. Die Sozialromantik ist hier nie allzu weit.

Die Novelle des Literaturnobelpreisträgers William Golding zeigt, was gewesen wäre, hätten die Alexandriner, die ja schon die Dampfmaschine erfanden, bei den Römern Anklang gefunden und ihre Erfindung weiträumig einführen können. Dem stand jedoch die Gesellschaft entgegen, was wieder mal belegt, dass erst die Gesellschaft für eine Innovation reif sein muss, bevor sie sich dadurch verändern lässt. Sonst ergeht es dem Erfinder schlecht.

Die letzten beiden Novellen gehören zu den schönsten, die in den siebziger und achtziger Jahren veröffentlicht wurden. Gene Wolfe führt uns hinaus in die geheimnisvolle und rätselhafte Weite des Velds auf dem Planeten Sainte Anne, wo der Forschungsreisende, der hinausgeht, nicht der gleiche ist, der zurückkehrt. Folglich wird er auf der Nachbarwelt als Spion verhaftet und eingebuchtet. Das Thema ist hier klar Identität und Menschsein, das Eigene und das Fremde. Hier lautet die Parole für den Leser „Mitdenken!“.

Das gilt auch für „Winterlicher Strand“ von Kate Wilhelm, die zu meinen Lieblingsautorinnen zählt (neben ursula Le Guin). Eine Historikerin, die sich für unpolitisch hält, sieht sich durch ihren unethischen Einsatz als Spionin zu einer moralischen Entscheidung gezwungen. Ihr User Lasater dachte, Frauen seien prinzipiell unfähig zu ethischen Entscheidungen, weil diese zu abstrakt seien. Weit gefehlt!

Illustriert ist der Band ebenfalls, und das ist keineswegs selbstverständlich, denn auch Zeichner wollen für ihre Arbeit bezahlt sein. Die Qualität und vor allem der Stil der Zeichnungen sind sehr unterschiedlich; er reicht vom realistischen bis zum angedeuteten, semi-abstrakten. Das Werk dieser Zeichner findet man überall in den SF-Bänden, die Jeschke Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre zu verantworten hatte. Solche Bände sind heute gesuchte Sammlerstücke, denn Zeichnungen gibt es bekanntlich nur noch in Kinderbüchern.

Alles in allem also ein Jahresband, der sich lohnt – nicht nur für Sammler, sondern auch für SF-Einsteiger und sogar für Mainstream-Leser.

Taschenbuch: 527 Seiten
Aus dem Englischen übertragen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453308947
www.heyne.de