Jeschke, Wolfgang (Hrsg.) – Heyne Science Fiction Jahresband 1999

Classic SF mit Humor: Haut den Dino auf die Rübe!

Der Heyne SF-Jahresband 1999 bietet Science Fiction auf höchstem Niveau, sowohl was Ideen, als auch Sprache und Stil anbelangt. Ein guter, anspruchsvoller Einstieg in das Genre. Bemerkenswert: Der Jahresband 1999 enthält fünf Novellen mit Umfängen zwischen 69 und 95 Seiten. Unter diesen Erzählungen ragt die erste in mehrfacher Hinsicht heraus: „Die Dechronisation von Sam Magruder“ von George Gaylord Simpson. Dafür hat kein Geringerer als Arthur C. Clarke das Vorwort verfasst.

Der Herausgeber

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science Fiction Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“. Er starb 2015.

Die Erzählungen

1) George Gaylord Simpson: „Die Dechronisation von Sam Magruder“

„Die Dechronisation von Sam Magruder“ wurde von George Gaylord Simpson verfasst, einem der führenden Paläontologen des 20. Jahrhunderts. Er war eine Koryphäe in Sachen Dinosaurier. Kaum ist sein Zeitreisender Sam Magruder in der Kreidezeit – ohne jede Hoffnung auf Rückkehr – gestrandet, begutachtet er daher auch schon die beherrschende Tierart: Dinosaurier in allen Größen und Farben, mit denen er seine liebe Not hat. Natürlich sind seine Beobachtungen Sprachrohr seines Schöpfers Simpson. Magruder, der sich als eine Art Robinson Crusoe durchschlägt, überliefert seine Geschichte der Nachwelt 80 Mio. Jahre später per Hardcopy: als Ausgrabungsstück. –

Bemerkenswert, dass Herausgeber Jeschke den Wissenschaftler Stephen Jay Gould für das Nachwort gewinnen konnte und – man lese und staune – Arthur C. Clarke für das Vorwort. Die Story selbst ist recht lebendig und farbig erzählt.

2) Alan Brennert: „Das Refugium“

Der Autor schildert in seiner Novelle das Leben in einer winzigen Enklave, nachdem eine globale ökologische Katastrophe, verursacht durch Bakterien im Wasser, fast die gesamte Menschheit dahingerafft hat. Im eingeschneiten Florida gerät Ray Bava in einen kleinen Kreis von Leuten, die überleben konnten. Es entspinnt sich ein psychosoziales Drama, in dessen Verlauf Ray sich in die hübsche Gina verliebt, aber unter den Bann des Machtmenschen Valle gerät. Ray hat einen Blackout – und erwacht in der Klinik für Kälteschlaf. War alles Erinnerung oder Traum?

Wie auch immer: Ray findet heraus, dass es eine Gina und einen Valle wirklich gab, sie aber nun ebenfalls in der Kryogenik-Klinik untergebracht sind. Als sich Ray wieder einfrieren lässt, begegnet er Valle und Gina wieder, doch kann er diesmal den Kampf für sich entscheiden – so scheint es zumindest…

3) Michael Bishop: „Cri de coeur“

Drei Kolonistenschiffe sind unterwegs zu ihrer Siedlungswelt im System Epsilon Eridani. Nach über 100 Jahren erreichen sie endlich ihr Zielsystem, doch schon wird die erste Arche durch Steintrümmer zerstört. Der Erzähler, ein Geologe, hat einen Sohn, Dean, der unter dem Down-Syndrom (Mongolismus) leidet. Diese Andersartigkeit erweist sich als Fluch und Segen zugleich: Er wird stark von seinen Gefühlen bestimmt. Und als sich die Möchtegernsiedler vor die Wahl gestellt sehen, entweder bei der auserwählten Welt noch weitere 100 Jahre auf bessere Bedingungen zu warten oder lieber 50 Jahre weiter zur nächsten Welt zu fliegen, da spielt Dean das Zünglein an der Waage: Er will weiterfliegen, denn an Bord des Schiffes gefällt es ihm am besten. Deans Stimme ist der „cri de coeur“ des Titels.

Die stimmungsvoll erzählte Handlung nimmt das ur-amerikanische Thema der „Eroberung“ neuer Welten auf, doch mit einem philosophischen Touch. Sehr schön sind die zahlreichen Gedichte.

4) Ayerdhal: Mozart revividus

Ein französischer Autor mit dem Pseudonym „Ayerdhal“ hat mit der Novelle „Mozart revividus“ ein lebendiges Drama über die Bedingungen genialer Kunst im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit durch Klonen geschrieben. Eine Nobelpreisträgerin der Physik mit dem unseligen Namen Lya Salieri (Salieri war in dem Film „Amadeus“ der Widersacher Mozarts) erschafft im 31. Jahrhundert den Komponisten neu, komplett mit Körper und Geistesinhalten. Durch diesen Akt erhebt sie sich zu seiner Schöpferin, der er fortan in Hassliebe verbunden ist. Als die Regierung die Technik dieser Kloning-Technik haben will, tötet sie sich – scheinbar. Nachdem „Madé“ die höchsten Auszeichnungen für seine Kunst erhalten hat, taucht sie wieder auf – und tötet ihn: In ihm sei ein anderer versteckt, den sie nun benötige. Doch dem abgemeldeten Genie bleibt ein letzter Akt der Rache.

Die existenzialistische Novelle – übrigens hervorragend übersetzt – glänzt durch tiefe philosophische und menschliche Einsichten sowie durch geschliffene Sprache. Leider nervt der Autor stellenweise durch hohes, wenn nicht gar zu hohes Pathos.

5) Robert Sheckley „Im Labyrinth des Minotaurus“

Die satirische Story von SF-Altmeister liest sich wie Terry Pratchett im modernen Amerika, aber mit dem Personal der klassischen Antike. Frauenheld und Monsterkiller Theseus übernimmt den Auftrag, das Monster Minotaurus im Labyrinth zu killen. Das Problem dabei ist, dass Theseus nicht besonders helle und das Labyrinth so groß ist, dass es das ganze Universum in allen vier Richtungen des Raumes und der Zeit umfasst. Schuld daran ist mal wieder der verrückte Erfinder Dädalus!

Der Autor, der am Schluss der Story gar persönlich auftaucht, erlaubt sich etliche kauzige Späße in der Art von Kurt Vonnegut in seinem Quasi-Roman „Zeitbeben“. Wie auch immer, dieser vergnügliche Irrsinn ist kurzweilig zu lesen.

Unterm Strich

Ein jahresband ist „ein Dank des Verlags an seine Leser“, also eie Zusatzleistung, bei der der Verlag draufzahlt. Das mag erklären, dass der Herausgeber den Inhalt auf nur fünf – zugegeben längere – Erzählungen reduziert hat. Wenigere Texte bedeuten weniger Übersetzer und Redakteure, daher also auch weniger Aufwand. Jetzt müssen auch große Namen ziehen – im Unterschied etwa zu den Story-Reader-Anthologien, wo zahlreiche deutschsprachige AutorInnen vertreten sind. Da sind Namen wie Clarke, Bishop und Sheckley zu finden, die das Herz von SF-Kennern höher schlagen lassen.

Doch an Qualität haben die Beiträge nichts eingebüßt; sie sind anspruchsvoll wie eh und je. Klassiker wie am Anfang der Reihe, deren Band im Folgejahr 2000 erschien, gibt’s nicht mehr. Neuheit muss punkten, zusammen mit Ideen, gutem Stil und v.a. mit Humor. Den findet man v.a. in der Novelle von Sheckley. Der Band bietet reichlich Abwechslung und Gelegenheit für Entdeckungen. Am besten gefiel mir natürlich die Sheckley-Story.

Mit 20 D-Mark ist dieser Jahresband nahezu viermal teurer als der erste von 1980. Daran lässt sich die Inflarationsrate bei den Preise im Druck – und Verlagsgewerbe deutlich ablesen. Anno 200 wurde die Reihe eingestellt, denn Jeschke ging anno 2001 in den Ruhestand. Klassiker wählte er für seine drei Anthologien „Ikarus 2001“, „Ikarus 2002“ und vor allem für „Fernes Licht“ aus; siehe dazu meine Berichte.

Taschenbuch: 477 Seiten
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern.
ISBN-13: 9783453148994

www.heyne.de

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