K. W. Jeter – Dr. Adder. Zukunftsroman

Gruß vom Blade Runner: Endzeit in Los Angeles

Los Angeles in naher Zukunft: Als Anführer der Moralpolizei lullt der reaktionäre Fernsehprediger John Mox die verarmten Massen mit seinen Predigten ein, doch der wahre Herrscher der Stadt ist der charismatische Dr. Adder, der jeden Wunsch erfüllt: einen neuen Körper, durch plastische Chirurgie modifizierte Geschlechtsorgane, halluzinogene Drogen – und das macht ihn zum Todfeind von Mox, der einen gnadenlosen Feldzug gegen ihn beginnt.

Der Autor

K. W. Jeter, 1950 geboren, wird zu den herausragenden zeitgenössischen Autoren der SF in den USA gezählt. Schon der 1965 veröffentlichte Roman „Seeklight“ ließ sein großes Talent erkennen. Es folgten u. a. „The Dreamfields“ (1976) und „Morlock Night“ (1979), eine gelungene Fortsetzung von H. G. Wells‘ berühmtem Roman „Die Zeitmaschine“ (1895).

Bekannt wurde Jeter nicht zuletzt durch seine Fortsetzungen von Philip K. Dicks verfilmtem Roman „Blade Runner“ (1982ff).

Der Roman „Dr. Adder“ entstand 1972 und wurde auch Philip K. Dick zu lesen gegeben, der begeistert war. Dicks Meinung findet sich im Buch als Nachwort. Doch das Buch fand wegen seines provokanten Inhalts erst 1984 einen Verleger. Damals brach die Cyberpunk-Bewegung, angeführt von William Gibsons fulminantem SF-Roman „Neuromancer“ mit aller Macht über die restliche Science-Fiction herein. Die Ironie dabei: „Dr. Adder“ nimmt den Cyberpunk und dessen Grundformel „high tech and low life“ um zehn Jahre vorweg. Inzwischen wurde erkannt, dass „Dr. Adder“ ein Meilenstein in der Entwicklung dieses Literaturgenres darstellt.

Handlung

E. Allen Limmit ist ein unschuldiger Bursche wie du und ich, der es auch in der großen Stadt schaffen will. Mit einem Aktenkoffer voller Geheimnisse kommt Limmit von der Phoenix Eierfarm in New Mexico, wo er Chef des örtlichen firmeneigenen Bordells war. Ein Privatjet der Company bringt ihn in die Rattenstadt, wie sie sich selbst nennt. L. A. wird geteilt vom „Interface“, einer riesigen Autobahn.

Jenseits des Interface liegt das heruntergekommene Viertel der Kaschemmen und Hurenhäuser, der Drogenhöhlen – und die Zentrale von Dr. Adder. Zu ihm will Limmit, um ihm den Inhalts seines mysteriösen Aktenkoffers anzubieten. Doch stets ist Adders Tor verschlossen, und so beschließt Limmit, erst einmal Erkundigungen einzuziehen, wie man hineingelangt.

Schon bald fallen ihm die Spuren von Adders Wirken auf. In den Straßen stehen die Huren, die sich Arme oder Beine amputieren ließen. Dass sie gepierct sind, versteht sich von selbst. Als sich Limmit selbst eine junge Prostituierte aufs Zimmer bestellt, schreckt ihn der modifizierte Zustand ihres Schoßes ab. Auch an ihr hat Dr. Adder ganze Arbeit geleistet.

In einer Bar am Rand der bewohnten Viertel – wer weiß, was jenseits davon liegen mag – klärt ihn einer der letzten ehrlichen Soziologen darüber auf, was es mit Adders Gegenspieler John Mox auf sich hat. Mox ist der Fernsehprediger, der für die Aufrechterhaltung – oder die Wiedereinführung, je nach Standpunkt – eines rigiden Moralkodex eintritt und dem die ungebildeten Massen wie einem Drogendealer zuhören, wenn er im TV seine Predigten hält. Seine in graue Mäntel gehüllten MoPos – Moralpolizisten – streifen durch die Viertel und sind auf die Produkte von Dr. Adder nicht gut zu sprechen.

In dieser gespannten Lage bildet Limmit den Funken an der Zündschnur. Das Dumme ist nur, dass er nichts davon ahnt. Er will sich von Dr. Adder anstellen lassen, um ein Auskommen zu haben. Geld, das er beispielsweise für die Nutte Mary Gorgon braucht, die bei ihm übernachtet. Er kennt Mary noch aus der Zeit, als er bei der Army war und sie bei einer Rebellengruppe. Nun, er überlebte deren Angriff und zog mit Mary durch die Staaten, bis er in Phoenix hängen blieb. (Phoenix und Hühner – eine gute Kombination.)

Adder fragt natürlich, was Limmit ihm zu bieten habe, was die anderen nicht haben. Limmit öffnet den Koffer, den er seit seiner Ankunft wie seinen Augapfel hütet. Darin befindet sich ein unlizenzierter Laserhandschuh, eine bionische Waffe, die eigentlich der CIA gehört und längst verboten ist. Woher er die wohl hat? Von dem Typen, der ihn hergeflogen hat. Und woher hat dieser die Waffe? Da muss Limmit passen.

Adder will die Waffe. Er lässt sich von der entsprechenden Produktionsgesellschaft, die alle Dinge in L. A. herstellt, eine Lizenz zum Führen dieser Waffe ausstellen. Nun ist es offiziell, und höchstwahrscheinlich weiß Mox über den Vorgang Bescheid. Da sich nun aber, ähnlich wie bei den Atomwaffen, das Kräftegleichgewicht verschoben hat, provoziert dies den Erstschlag seitens Mox: Der Angriff auf Adders Rattenstadt beginnt mit einem Blutbad unter den Huren, Junkies und Zuhältern. Das eigentliche Ziel ist jedoch Adder selbst. Er glaubt, er könne auf seinem Motorrad davonkommen, doch da irrt er sich …

Limmit entkommt den Häschern mit Mary, doch um wirklich in Sicherheit zu gelangen, muss er in den Untergrund von L. A.: in den Sumpf. Und dort herrschen nur die Gesetze des Überlebens …

Mein Eindruck

„Blade Runner“ lässt schön grüßen, sollte man meinen, aber da ist noch viel mehr. Dr. Adder lässt sich durch die bionische Waffe zum Vorläufer eines Terminators machen (siehe das erstklassige Titelbild). Man weiß nicht mehr, ob an dem Menschen eine Waffe hängt oder ob es sich umgekehrt verhält. Replikanten und Klone gibt es (noch) keine, aber dafür chirurgisch umgemodelte Huren und Freier, die mit ihren modifizierten Geschlechtsteilen alle Phantasien erfüllen.

Die Modifikationen in der Rattenstadt bleiben natürlich nicht auf der körperlichen Ebene stehen, sondern erstrecken sich auch auf die Psyche. So wie John Mox allabendlich Gehirnwäsche betreibt, so kann auch Dr. Adder mit einer Droge namens ADR, die nach ihm oder nach der er benannt ist, die Psyche eines Menschen verändern. Die Wirkung geht sehr weit hinunter in die untersten Regionen des menschlichen Gehirns. Dort unten herrschen die Instinkte des Reptiliengehirns, das nur die einfachsten Instinkte und Empfindungen wie Hunger oder Aggression kennt.

Limmit ist selbst Zeuge, wie der Doktor ADR bei einer jungen Frau verabreicht, die zu den Junkie-Zombies gehören möchte. Sie hat zwar kein Ich-Bewusstsein, kann aber großartig ficken und Lust empfinden. (Später wird eine Szene gezeigt, wie dies vonstatten geht.) Nun fragt man sich, wozu ADR gut sein soll. Die Antwort ist etwas metaphysisch, aber typische Science-Fiction: Man kann dadurch telepathisch mit einem anderen Geist verbunden werden UND – das ist der Knackpunkt – seinen eigenen Geist in das Universum der Elektronen schicken. Das ist der wahre Cyberspace-Zugang, und das bereits zwölf Jahre vor „Neuromancer“!

Nun wird auch klar, dass der Showdown zwischen Dr. Adder und John Mox nicht auf der physischen, sondern auf der elektronischen Ebene stattfinden kann bzw. muss. Auch Mox existiert nicht körperlich, sondern nur noch als elektronische Aufzeichnung, die allabendlich versendet wird. Was passiert nun konkret, wenn sich zwei elektronische Titanen die Energien um die Ohren hauen? Selber lesen oder der Vorstellungskraft die Zügel schießen lassen, wie es Karl May immer so schön umschrieb.

Da hätten wir nun alles beisammen, was im Cyberpunk gut und teuer ist. Fehlt eigentlich nur noch guter Sex. Eigentlich überflüssig zu erwähnen, aber es gibt auch explizite Sexszenen, denn der Autor nimmt kein Blatt vor den Mund (was wahrscheinlich mit ein Grund ist, warum kein Verlag den Roman drucken wollte). Heute ist man inzwischen wieder so weit, diese frühe Cyberpunk-Leistung zu würdigen. Cyberpunk begann nicht erst mit Gibsons „Neuromancer“ im Jahr 1984. Cyberpunk gab es vor dem Etikett, so etwa bei John Shirley in dessen fulminantem Roman [„Stadt geht los“ 1786 und noch bei Bruce Bethke, der den Begriff 1983 als Titel für seine gleichnamige Story in „Amazing Stories“ verwendete. Der Herausgeber Gardner Dozois bezeichnete damit eine literarische Gruppe oder Bewegung, die ab 1981/82 publizierte. Jeter jedoch ist eigentlich nur am Rande des Cyberpunk angesiedelt. So taucht er beispielsweise nicht in Sterlings exemplarischer Anthologie „Mirrorshades / Spiegelschatten“ (1986) auf.

Im Grunde spielen SF-Ideen nur eine begleitende, ornamentale Rolle in dem Roman. Daraus erklärt sich, warum Adder dem Laserhandschuh keinerlei Fetischfunktion zubilligt, wie es vielleicht ein Revolverheld in einem Western mit seiner Winchester tun würde. Die Waffe kann etwas für ihn erreichen – okay und fertig. Auch mit ADR will Adder nicht die Barrieren der Welt einreißen, wie es Philip K. Dick, der den Roman jahrelag befürwortete (siehe sein Nachwort), getan hätte.

Was den Roman mehr auszeichnet und ihn zum Teil von Cyberpunk macht, ist die Endzeitgesellschaft, die keinerlei Perspektiven mehr besitzt. An der Oberflächen leben nur noch Bigotte, Zombies und Killer, darunter, im Sumpf, leben Ratten, Jäger und Gejagte. Das ist das Endstadium einer Kultur. Widerstand gegen die Zustände erfolgt nur in Form von Einzelakten wie dem Abknallen eines MoPos oder in subversiven Radiobotschaften eines mysteriosen Typen namens KCID. (Er ist der allwissende Hipster, wie er in Brunners [„Morgenwelt“ 1274 auftritt.) Mehr ist da nicht. Limmit denkt – wen wundert’s – daran, wieder zurück auf die Hühnerfarm zu gehen. Denn hier in L. A. gibt es zwar wieder Freiheit, nach dem Showdown, aber keine Perspektiven. Manege frei für den nächsten Diktator.

Die „Encyclopedia of Science Fiction“ (1992) schreibt, dass „Dr. Adder“ zu einer thematisch lose verbundenen Trilogie gehöre, die Jeter 1985 mit „Glass Hammer“ und 1987 mit „Death Arms“ fortgesetzt habe. Vielleicht sehen wir diese Romane noch bei Edition Phantasia erscheinen.

Die Übersetzung

… von Sara Schade ist sehr gut gelungen, insofern, als sich die Prosa leicht und flüssig liest und doch der ursprüngliche Stil unverfälscht geblieben ist. Ich habe lediglich drei Formulierungsfehler gefunden – die Druckfehler rechne ich schon gar nicht mehr. Diese Fehler finden sich auf den Seiten 120, 165 und 188. Es wäre müßig, sie aufzuzählen, und welchen Leser sie interessieren, der wird sie in seinem Exemplar auch zu finden wissen.

Unterm Strich

Wie gesagt, lässt sich „Dr. Adder“ leicht und flüssig lesen. Der unvorbereitete Leser oder derjenige, für den Cyberpunk ein absolutes Fremdwort ist, dürfte etliche Male geistig ins Stolpern kommen, den so etwas wie Schamgefühl in Sexdingen scheint Jeter nicht zu kennen. Dafür kommen uns Kyborgwaffen wie der Laserhandschuh oder psychedelische Drogen wie ADR doch richtig heimelig vor. Cyberwaffen sind Inventar zahlreicher Games, Psychodrogen sind jedes Philip K. Dick-Lesers täglich‘ Brot.

Wenn das Cyberpunk-Ambiente heute schon so vertraut ist, dann lässt es sich auch wieder objektivieren und verwässern, so dass es uns nicht mehr schreckt. Etwas anderes sind hingegen die genitalen Modifikationen. Sie fallen in einen tabuisierten Darstellungsbereich, haben daher ihre anstößige Wirkung auf das Publikum noch nicht verloren und bleiben demzufolge ironischerweise am längsten in Erinnerung. Ob das Jeter gefallen würde? Wahrscheinlich würde er sich darüber fröhlich die Hände reiben.

Originaltitel: Dr. Adder, 1972/1984
256 Seiten
Aus dem US-Englischen von Sara Schade

http://www.edition-phantasia.de/

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