Jim Crace – Der siebte Kontinent. Erzählungen

Ironische Erkundung des Fabellands

Bei Reisen auf den „Siebten Kontinent“ der Phantasie halten seltsame neue Orte Abenteuer für den Kopf sowie Wissen und Unterhaltung bereit. Dies ist die Erklärung für den seltsamen Titel, den Jim Craces Sammlung von sieben Erzählungen trägt. Meines Wissens war dies das erste Buch, das von ihm in Deutschland veröffentlicht wurde. Ich hörte diese wunderbaren Fabeln selbst, als der Autor zusammen mit Brian W. Aldiss am 2.2.1989 in Reutlingen las.

„Es sind sehr knappe, lakonische Geschichten, raffiniert erzählt, zart und hintergründig. Verhaltenes Gelächter und eine vage Melancholie sind ihre Grundstimmung.“ (Verlagsinfo)

Der Autor

Jim Crace, 1946 in London geboren, bereiste als Englischlehrer und Journalist die ganze Welt. 1989 arbeitete er als freier Journalist und Autor für Zeitungen und Zeitschriften wie „Times Literary Supplement“, „Sunday Telegraph“ und „Radio Times“ sowie für den Rundfunk. 1974 veröffentlichte er seine erste Geschichte. Mit dem Erzählband „Der siebte Kontinent“ (bei Klett-Cotta 1988) gelang ihm 1986 ein spektakulärer, für einen Erstling ungewöhnlicher Erfolg. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Guardian Fiction Award, dem Whitbread First Novel Award und dem David Higham Award. (erweiterte Verlagsinfo)

Jim Crace hat mittlerweile bereits über ein halbes Dutzend Romane und Storybände veröffentlicht, und doch ist er hierzulande immer noch relativ unbekannt bei uns. Das ist sehr schade, denn seine Vorstellungskraft und seine Aussagen sind außergewöhnlich und verdienen unsere Aufmerksamkeit.

Weitere Übersetzungen

Stadt der Küsse (2004) ISBN 3896672606
Satans Speisekammer (OT The Devil’s Larder, 2001), 2002; ISBN 3813502015
Ein Mann, eine Frau und der Tod (2000), ISBN 3813501744
Die Versuchung in der Wüste (1998) ISBN 3896670743

Complete Works

• Continent (seven stories) (1986)
• The Gift of Stones (1988)
• Arcadia (1992)
• Signals of Distress (1994)
• The Slow Digestions of the Night (short stories) (1995)
• Quarantine (1997)
• Being Dead (1999)
• The Devil’s Larder (64 short pieces) (2001)
• Six (2003) (published in the US as Genesis)
• The Pesthouse (2007)
• On Heat (2008)
• All That Follows (2010)
• Harvest (2013)
• The Melody (2018)

Inhalte

1 Der Schädel redet
2 Die Welt, mit einem Auge betrachtet
3 Berg und Tal
4 Das geheime Leben
5 Die Laster und die Tugenden
6 Elektrizität
7 Die Aussicht vom Silberberg

„Der Erzähler gleicht einem Reisenden, der Eindrücke aus der Fremde für die Freunde und Kommilitonen zu Hause gesammelt hat.“ (Verlagsinfo) Dem band ist ein Zitat von Pycletius vorangestellt: „Dort – noch weiter – liegt ein siebter Kontinent, bewohnt von sieben Völkern, beherrscht von sieben Meistern, umschlossen von sieben Meeren. Und sein Geschäft ist der Handel und der Aberglaube.“

Crace kartografiert den fiktiven siebten Süd-Kontinent, den kein Globus zeigt. Er schildert in kurzen Sätzen lakonisch Ereignisse im Orient, in Afrika usw. – Gegenden, wo sich der sogenannte Fortschritt, mit seinem Glauben an Vernunft und Technik, noch mit Mythen, Aberglauben und Magie, kurz: mit dem alten Wissen der Überlieferung herumschlagen muss.

Die erste Episode „Der Schädel redet“ mag für alle stehen. Lowdo, Sohn eines reichen Bauern, verkauft das blässliche Sekret von Zwitterkälbern mit gutem Profit als Aphrodisiakum. Der Reichtum ermöglicht ein Studium in New York City. Als diplomierter Ökonom kehrt er heim und versucht zunächst, das erworbene Wissen im väterlichen Betrieb anzuwenden. Doch seine auf modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden Rationalisierungen scheitern auf der ganzen Linie am tiefverwurzelten Aberglauben des Dorfes. Als macht sich Lowdo diese Erfahrung zu eigen und exportiert das angebliche Aphrodisiakum im großen Stil – zum Beispiel nach New York City.

Diese Geschichte vom Geschäft mit den zwitterhaften Mondenzageln, deren Same gegen Impotenz und andere Gebrechen helfen soll, ist mit trockenem Humor, viel versteckter Ironie und hintergründig raffiniert erzählt. Crace macht so die Phantastik der Realität umso deutlicher.

Zu „Elektrizität“ wurde der Autor durch einen Aufenthalt in Botswana inspiriert, wie er in Reutlingen erzählte. Er badete in orangefarbenem Badewasser, das Badezimmer wurde von einer Kerze erleuchtet, und er trank einen Whisky. Diese Umgebung war offensichtlich inkompatibel mit der Einführung der Elektrizität – daher die Kerze usw.

Mein Eindruck

Anders als etwa Tappan Wright in „Islandia“ (1942) oder das neuere „Darwinia“ (ca. 1997) ergeht sich Crace nicht in voluminösen Beschreibungen von Land und Leuten seines fiktiven Kontinents, sondern verschafft kleine Einblicke in die geistige Kultur der jeweiligen Völkerschaften, indem er bezeichnende Kurzgeschichten davon erzählt. Diese drehen sich, wie gesagt, um Handel und Aberglauben , vielleicht mit einem kritischen Ansatz, der durch die Ironisierung umgesetzt wird. Leser, die sich für fremde Kulturen interessieren, werden hierzu am ehesten leichten Zugang finden.

„Zwar liegt der siebte Kontinent auf keinem bekannten Breiten- oder Längengrad, aber gerade deshalb ist er überall: seine Landschaften, die ländlichen wie die urbanen, sind gleichzeitig mythisch und real, glaubwürdig und phantastisch. Es sind Topografien der menschlichen Seele. Technik und Aberglaube, gesunder Menschenverstand und Magie, Wissenschaft und Natur – dies sind Gegensätze, die längst noch nicht ausgeglichen sind.

Mit listiger Ironie deutet der Erzähler an, dass die vitalen und ursprünglichen Kräfte der Natur in Wahrheit mächtiger sind; unsere modernen rationalistischen Errungenschaften können nur dann ihren Zweck erfüllen, wenn sie abgestimmt werden auf jene mythischen, wilden Mächte, die wir noch in der Seele tragen.“ (Verlagsinfo)

Die Übersetzung durch Joachim Kalka ist wie schon bei „Das Ende der steinernen Welt“ vorzüglich und ohne Fehler.

Hardcover : 175 Seiten
Originaltitel: Continent, 1986
Aus dem Englischen von Joachim Kalka.
ISBN-13: 9783608955453

www.klett-cotta.de

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