Joan D. Vinge – Bernsteinaugen und Zinnsoldaten. SF-Erzählungen

Klassische Frauen-Science-Fiction

Diese Story-Sammlung enthält die berühmtesten Erzählungen der HUGO-Preisträgerin Joan D. Vinge. Dazu gehören die zwei Titelstories „Bernsteinaugen“, mit der sie 1978 den HUGO Award errang, und „Der Zinnsoldat“ sowie „Das Kristallschiff“. Zu jeder Geschichte und zum gesamten Band liefert die Autorin jeweils ein Nachwort mit, das den jeweiligen Hintergrund zur Entstehung erläutert.


Die Autorin

Joan Carol D(ennison) Vinge (geb. 1948 – ) wurde in Baltimore mit indianischer Abstammung geboren, errang einen akademischen Grad in Anthropologie und verfasste einige Entwürfe für Geschichten. Als sie ihren Mann, den SF-Schriftsteller Vernor Vinge, geheiratet hatte, ermutigte dieser sie dazu, alle ihre Entwürfe aus der Schublade zu holen und die besten Texte zu vollständigen Erzählungen auszuarbeiten und den einschlägigen Magazinen anzubieten. Die näheren Details erläutert sie in ihrem Nachwort zu „Bernsteinaugen und Zinnsoldaten“. Die Herausgeber der Magazine entdeckten ein großes Erzähltalent. Schon 1979 und 1980 errang sie zwei HUGO Awards, der Rest ist Geschichte.

Reihen

1) Heaven Chronicles

1. The Outcasts of Heavens Belt (1978, dt. bei Moewig)
2. Legacy (1980)
„Der Medienmann“ (1976)
„Das Kind der Priesterin“ (1975)
Heaven Chronicles (Sammelband) (1991)

2) Zyklus „Die Schneekönigin“

1 Die Schneekönigin (1980, HUGO Award, Heyne )
2 Die Spur der Schneekönigin (1984)
3 Die Sommerkönigin: Der Wandel der Welt (1992, Heyne )
4 Die Sommerkönigin: Die Abkehr der Welt (1992, Heyne )
5. Tangled Up in Blue (2000)

3) Cat-Trilogie

1. Psion (1982, siehe meinen Bericht)
2. Catspaw (1988, „Katzenpfote“, Heyne)
3. Dreamfall (1996)

Romane zu Filmen

Return of the Jedi: The Storybook Based on the Movie (1983)
Tarzan, King of the Apes (1983)
The Dune Storybook (1984)
Ladyhawke (1985)
Mad Max Beyond Thunderdome (1985)
Return to Oz (1985)
Santa Claus the Movie (1985)
Willow (1988) (mit George Lucas)
Lost in Space (1998)

Story-Sammlungen

Fireship (1978)
Eyes of Amber: And Other Stories (1979)
Phoenix in the Ashes (1985)

1) Bernsteinaugen (Eyes of Amber, 1977, HUGO Award 1978)

Die Meuchelmörderin T’uupieh folgt einer Einladung von Lord Chwiul. Am Eingang des Anwesens schaltet sie den Torwächter aus und dringt weiter vor, bis sie endlich den Gastgeber erreicht. Wie sie selbst gehört er der geflügelten Vampir-Spezies an, die diese Eiswelt bewohnt. Zum Glück ist jetzt Frühjahr und die Temperaturen sind im Plus-Bereich. Was mag er wohl von ihr wollen, fragt sie sich. Der Dämon, den sie in einem Lumpensack bei sich trägt, wird sie vor jedem Angriff schützen.

Lord Chwiul hat einen ungewöhnlichen Auftrag. Er will, dass T’uupieh seinen Bruder und dessen Familie beseitigt. Chwiuls Bruder Klovhiri hat T’uupiehs Schwester Ahtseet geheiratet, die Verräterin, und dadurch T’uupiehs Familie enteignet. Nur zu gerne würde T’uupieh die beiden ins Jenseits befördern. Aber der Mord solle wie ein Unfall aussehen, verlangt Chwiul, daher müsse Klovhiris Familie erst hier im Anwesen übernachten, bevor sie tags darauf über den Ammoniaksee zurückkehrt. Auf dem Eis würde ihr dann ein bedauerliches Unglück zustoßen. Alles klar? Der Preis ist ein Tausch: Chwiuls Palast im Austausch für das Land, das er seinem verblichenen Bruder abnehmen werde. Gebongt!

Terraner

Der „Dämon“ ist in Wahrheit eine intelligente Sonde von Erde. Ein Team von Kommunikationswissenschaftlern arbeitet an der Erforschung der fremden Spezies, die auf dem großen Saturnmond Titan lebt. Dort ist es zwar ganz schön kalt, aber dafür basiert ihre Biologie auf ganz anderen Grundstoffen wie etwa Ammoniak und Zyanid. Shannon Wyler ist für die Erforschung und Verwendung der Sprache der Aliens zuständig, unterstützt von seiner Mutter und der Teamleiterin Garda. Doch Projektleiter ist Reed, der ein echtes PR- und Verkaufsgenie ist. Er dringt darauf, die Aliens an die Presse „verfüttern“, zumindest diesen Mordanschlag. Die Pressevertreter werden sabbern, wenn „Robin Hood“ zuschlägt! So wird T’uupieh von ihm genannt.

Shannon, dem Linguisten und Musiker, ist diese PR-Masche zutiefst zuwider. Wozu ist das Ganze gut, wenn man damit nichts Gutes erreicht, fragt er. Als Beispiel nennt er die Vereitelung des Anschlags, indem er den Sinn der Meuchelmörderin ändert. Schließlich war ihre Schwester Ahtseet ihre Jugendfreundin. Doch das Gespräch des „Dämons“ mit „Robin Hood“ fruchtet nichts, wie sich herausstellt. Shannon will am liebsten kündigen. Aber Shannons Mutter hat eine Idee, wie man die Situation noch retten könnte.

Vor Ort

T’uupieh erfährt erstaunt den Namen des Dämons: „Shang’ang!“ Das ist eine große Sache, denn in einer Kultur, die an Hexerei und Dämonen glaubt, verleihen Namen Macht. Doch dann tauchen erst die Karawane ihrer Schwester und schließlich Lord Chwiul auf. Doch von dem eigentlich Ziel, nämlich Klovhiri, ist nichts zu sehen. Da brüllt der Dämon: „Verrat!“, dass alle es weithin hören können. T’uupieh erkennt sofort, was Chwiul plant: die Auslöschung ihrer Sippe, damit er mit seinem Bruder allein herrschen kann. Da hat er sich aber verrechnet…

Mein Eindruck

Dies sei eine Art Aschenputtelgeschichte, erklärt die Autorin in ihrem Nachwort, und in ihrem Mittelpunkt stehe Kommunikation. Das ist schon richtig, aber die Frage ist, wozu diese Kommunikation dienen kann, wenn jede Botschaft jeweils zwei Stunden für Senden und Empfangen benötigt. Jede Botschaft muss also entweder sehr wichtig sein, um Wirkung zu entfalten, oder – mit viel Vorausschau – entsprechend getaktet sein, so dass die Antwort schneller als in zwei Stunden erfolgt.

Der Bedeutung einer langsamen Antwort angemessen ist das, was Shannon vorhat: Er will eine professionelle Mörderin von ihrem Mordauftrag abbringen. Es hilft nichts, ihr zu sagen, der „Mensch“ sei grundsätzlich gut und sie habe ihre Schwester ja eigentlich gern. Der Lohn des Auftrags ist viel zu verlockend. Außerdem: Wer sagt denn, dass die moralischen Maßstäbe des Menschen auch für die Leute auf dem Titan gelten sollen und können? Als Indianerin spricht die Autorin aus eigener Erfahrung: Die Maßstäbe, die für Europäer gelten, müssen keineswegs auch für Indianer gelten.

Die Taktung der finalen Botschaft ist natürlich besonders knifflig, denn die Menschen auf der Erde, die sie senden, wissen ja nicht, wann die Botschaft zu einem passenden Zeitpunkt eintreffen wird. Oder doch? Sie benötigen nur ein wenig Vorwissen, das auf T’uupiehs Hinweisen zum Ablauf des Anschlags beruht, um ihre Botschaften in den richtigen Momenten eintreffen zu lassen, nicht alle auf einmal, sondern in Teilstücken. Das ist ganz schön clever gemacht.

2) Die Katze locken (To Bell the Cat)

Auf einem fremden Planeten untersucht die Expedition des Forschers Hubert Orr insbesondere eine große Höhle, die mit extrem radioaktivem Gestein sowie mit seltsamen, kleinen Fremdwesen gefüllt ist. Orr, sein stotternder Handlanger Piper Alvarian Jary und die sechs Wächter müssen Schutzanzüge tragen. Die Wächter blicken auf Jary herab, mit Ausnahme der Kriegerin Xena, als Jary zusammen mit Orr die Höhle betritt. Orr will den Ursprung der Aliens finden, und Jary trägt eine Art Botanisiertrommel voller Aliens an seiner Hüfte.

Deshalb macht sich Orr große Sorgen, als ein Erdbeben die Höhle erschüttert und Jary an den Rand einer Bodenöffnung stürzt. Orr lässt ihn mit einem Seil verbinden, damit Jary die Tiefe unter der Öffnung untersuchen kann. Jary landet in einem kochenden See und versinkt im Schlamm. Gekocht zu werden ist nicht seine Vorstellung von einem guten Tod und er ruft um Hilfe. Das Hilfsseil ist zu kurz. Die kleinen Aliens in seiner Botanisiertrommel sind in der gleichen Lage wie er, aber sie sind, bedingt durch die Evolution unter Radioaktivität, wesentlich anpassungsfähiger. Er ist es aber auch.

Denn in seiner Welt, dem terranischen Imperium, ist Jary ein Ausgestoßener, von Milliarden Menschen verurteilt und verbannt, weil er auf einigen Welten Konzentrationslager eingerichtet hatte. Diese Schuld hängt ihm seitdem überall an, wohin er seinen Fuß setzt. Deshalb auch dieser Scheißjob bei Prof. Orr, der ihn wie Dreck behandelt. Als er merkt, dass die kleinen Höhlenbewohner (Trogs) intelligente Aktionen an den Tag legen, verweigert er Orr den Gehorsam: Er wird ihm keine Exemplare mehr liefern, sondern überlaufen…

Mein Eindruck

Der Titel der Story bezieht sich darauf, dass Mäuse einer Katze, ihrem Todfeind, eine Schelle umhängen, die sie dann davor warnt, wenn sich die Katze nähert. Auf die Geschichte gemünzt, wandelt die Autorin die Interaktion zwischen den Mäusen, nämlich den kleinen Trogs, und ihrem vermeintlichen Jäger, nämlich Jary, so ab, dass die an den Tag gelegte Intelligenz der Trogs – von denen es zwei Fraktionen gibt – den „Jäger“ Jary dazu bringt, seine Jagd einzustellen und sich ihnen in friedlicher Absicht anzuschließen. Sein Hauptmotiv besteht allerdings darin, jener Schuld zu entgehen, die man ihm immer wieder unter die Nase reibt und mit deren Hilfe man ihn zu einem Sklaven machen will.

3) Blick aus der Höhe (View From a Height, 1979)

Emmylou Stewart ist seit 20 Jahren unterwegs im Weltraum, begleitet nur von ihrem Ara-Papagei Ozymandias alias Ozzy. Sie fliegt ihr einsames Sternenobservatorium zum Nordpol des Sonnensystems und darüber hinaus, nur alle zwölf Tage unterbrochen von einer Antwort, die Harry Weems, ihr NASA-Betreuer, ihr schickt. Sechs Lichttage ist sie schon von Zuhause entfernt, und sie hat Heimweh.

Manchmal kriegt Emmylou auch einen Wutanfall. So etwa jetzt, als Harry ihr mitteilt, dass es für ihren Zustand endlich eine Heilmethode gebe. Ihr „Zustand“ ist der des völligen Fehlens einer Immunabwehr. Schon von klein auf musste sie in einer durchsichtigen Blase leben, und nicht mal Daddy und Mami durften sie richtig in den Arm nehmen. Später ging das dann auch nicht mit ihrem Freund Jeffrey, der Astronaut werden wollte. Die Astronauten, ging Emmylou auf, waren genauso wie sie: eingehüllt in eine Blase. Dort draußen im Weltraum konnte sie wie die anderen sein, und alle waren gleich.

Die NASA schmeißt eine Feier zu Ehren der Überquerung der 1000-AE-Linie. 1000 AE oder Astronomische Einheiten entsprechen 150 Milliarden Kilometern – oder eben sechs Lichttagen. Emmylou, der Sturkopf, feiert nicht, sondern bringt ihre fliegende Arche auf Vordermann, repariert das aus Unachtsamkeit geschrottete Teleskop und dergleichen. Auf zur 2000-AE-Marke!

Mein Eindruck

SF und Anthropologie treffen hier einander mal wieder, denn schließlich ist die mit vielen Preisen ausgezeichnete Autorin Joan D. Vinge (die offenbar immer noch den Nachnamen ihres ERSTEN Mannes trägt, weil der eben sehr bekannt ist) von Haus aus Anthropologin. Sie zeigt in ihrer vielfach abgedruckten Erzählung mit viel Einfühlungsvermögen, wie auch eine Frau die Grenze des Lebensraums der Menschheit nach draußen verschieben kann – etwas, was bis dato das Vorrecht von rechten Kerlen gewesen war.

Die Autorin muss eine Antwort auf die Frage finden, welche Art von Frau eine solche Reise ohne Wiederkehr antreten könnte. Die Antwort ist einfach: eine Frau, die schon immer abgesondert in einer keimfreien Blase gelebt hat. Sie kann sich von einem Ort lösen, an dem sie immer eine Fremde gewesen wäre, nur um einen Ort zu erkunden, an dem sie die erste ist. Ihr Blickpunkt wandelt sich vom Individuellen zum Universellen. Sie hat das Privileg, das Sonnensystem, ja, das Universum allgemein aus einer Höhe zu erblicken, die unverstellt von Wolken und Streulichtern ist. Es ist ein Weg zur Erkenntnis und Transzendenz.

4) Der Medienmann (Media Man, 1976)

Die Geschichte spielt im System der Sonne Himmel, die von vier Planeten und einem Asteroidengürtel umkreist wird. Nach einem verheerenden Bürgerkrieg, in dem etwa 100 Mio. Bewohner umkamen, existieren nur noch wenige Inseln menschlichen Lebens. Unter diesen ist das Handelsimperium der Demarchos, die „Demarchy“. Sie ist die mächtigste Firma, denn sie hält den Handel zwischen den Rohstofflieferanten und den Verbrauchern und Fabrikanten in Schwung.

Als auf dem Planeten 2 ein Prospektor mit seinem defekten Raumschiff abstürzt und um Hilfe funkt, ist daher nur der alte Demarchos in der Lage, eine Expedition loszuschicken, die den Prospektor vor dem sicheren Tod bewahren soll. Dieser hat angeblich eine Menge Vorkriegs-Software entdeckt, die viel wert wäre. Allerdings hat die Demarchy ein Image-Problem, und um dieses zu beheben, braucht sie gute Publicity: Die Rettungsmission bietet einen willkommenen Anlass dafür. Die Wahl des Reporters, der mitfliegen soll, fällt auf Chaim Dartagnan, wegen seines roten Haars Red genannt. Er hat sich intensiv bei der Demarchy eingeschleimt.

Es wird ein interessanter Flug vom Asteroiden Mekka City zu Planet 2, denn erstens wird das Schiff von einer Frau gesteuert, ein extrem seltenes Wesen, und zweitens fliegt der Sohn von Demarchos, der 50-jährige Sabu Siamang, mit, und der ist nicht bloß ein Großkotz und Chauvi, sondern nach Angaben der Pilotin Mythili auch ein „Sadist“. Das ist ein guter Aufhänger für eine intensivere Recherche, findet Red. Der Reporter und die Pilotin kommen sich menschlich näher, aber Siamang funkt immer wieder dazwischen, als ahne er, dass die Pilotin ihn hasst.

Planet 2

Sekka-Olefin ist überglücklich über die Ankunft seiner Retter und lädt sie an Bord seines defekten Schiffes „Esso-Biene“ zu einem Umtrunk ein (die Pilotin bleibt an Bord). Aber Siamang hat anderes im Sinn, nämlich das Geschäftliche. Er gibt Sekka-Olefin zwar den Ersatz-Chip zwecks Reparatur, aber gleichzeitig will er auch die alleinigen Verwertungsrechte für die Software, die Sekka ihm angeboten hat. Sekka hat es sich anders überlegt und will die Software auf einer Auktion versteigern. Siamang zieht sich zwecks Beratungen zurück, doch Red kann sehen, dass er wütend ist.

Als er mit Sekka-Olefin allein ist, macht dieser ihm das Angebot, eine Medienkampagne zu leiten. Die Aussage: Planet 2 mag zwar kalt, windig und ungastlich sein, aber seine Luft ist wenigstens atembar. Das würde der todgeweihten kümmerlichen Restmenschheit eine zweite Chance eröffnen, ihre Zukunft zu gestalten. Bevor Red sich entscheiden kann, kehrt Siamang zurück. Er komplimentiert Red hinaus, anschließend hört Red zu (und nimmt auf), wie sich Siamang und Sekka-Olefin streiten. Dann tritt eine unheilvolle Stille ein…

Mein Eindruck

In dem nun folgenden Drama muss sich der Reporter zwischen verschiedenen Seiten entscheiden. Vorerst gibt er Siamang Signale, er wäre zu allem bereit, auch zum Leugnen dieses offensichtlichen Mordes. Das würde eine Verhinderung von Sekka-Olefins Zukunftsvision bedeuten. Zweitens muss er sich für oder gegen Mythili entscheiden, denn sie ist für Siamang nur eine lästige Mitwissen. Durch eine List gelingt es Red, sie noch auf dem Planeten aus dem Schiff zu befördern. Er weiß als einziger, dass sie eine minimale Überlebenschance hat: Sie kann die Luft des Planeten atmen und hat ein repariertes Schiff, mit dem sie diesen verlassen kann. Der Rest darf nicht verraten werden.

Diese dramatische und sehr zufriedenstellende Story spielt in Vinges Future History um „Heaven Belt“ (s.o.). Sie erinnerte mich sofort an die aufständische Gürtler in den Romanen von James S.A. Corey EXPANSE-Universum. Die Fortsetzung trägt den Titel „Fool’s Gold“ (Narrengold), abgedruckt in der Anthologie „Kopernikus 1“, herausgegeben von Hans-Joachim Alpers.

5) Das Kristallschiff (The Crystal Ship, 1976)

Das Kristallschiff umkreist die verlassene Siedlerwelt seit fünf Jahrhunderten, doch nur noch rund 50 Menschen sind an Bord. Mit Hilfe der Droge Chitta, die von dieser Welt importiert wird, träumen sie zu den Klängen der Komponistin Mirro. Tarawassie ist eine der Schiffsbewohnerinnen, und so wird sie Zeugin von Andars Freitod. Andar, der immer so unzufrieden und ärgerlich war, zeigt nun auf seinem Antlitz ein entspanntes Lächeln. Er hat sich an die „Sternenquelle“ begeben und sie gebeten, sein Leben anzunehmen, und die Sternenquelle hat ihm seinen Wunsch erfüllt. „Es gibt einen Himmel, das ist der Tod“, rief er. Doch was ist diese rätselhafte Sternenquelle, fragt sich Tarawassie.

Sie macht das Angebot, Andars sterbliche Überreste hinab zur Siedlerwelt zu bringen, denn bei der Gelegenheit kann sie auch ihre kranke Mutter besuchen. Als sie ihrer Mutter von Andars Freitod erzählt, verlangt diese, dass auch sie an Bord des Kristallschiffs gebrachte werde, um dort in der Sternenquelle ihr Leben zu beschließen. Ja, die Worte Andars stimmen. Ihre Mutter stirbt friedlich und sanft. Doch als sich Tarawassie selbst diesen sanften Tod geben will, sträubt sich etwas in ihr. Auch Mirro hat keine Antwort, und die Träume bieten keinen Trost. Woher also hatte Andar seine Erkenntnis?

Da die Antwort auf der Siedlerwelt liegen muss, begibt sich Tarawassie dorthin. Die degenerierten Eingeborenen stellen die Droge her und spenden rohes Fleisch als Gabe. In der von den Siedlern verlassenen Stadt hausen nur Tiere, doch als Tarawassie von einem Turm stürzt, findet sie auch einen Eingeborenen, der ganz anders. Er versteht und spricht ihre Sprache rudimentär, macht Feuer und nennt sich den letzten der Sternenmänner. Sein Name sei Mondschatten. Einige Male habe er „Gelbhaar“ Andar dabei begleitet, wie dieser eine unterirdische Bunkeranlage betrat und dort gespeicherte Informationen abrief: Sprach- und Bildaufzeichnungen.

Nur Tarawassie hat mit ihren Fingerabdrücken den Zugang, der von der automatischen Anlage akzeptiert wird. Das erste Erlebnis mit der Anlage ist überwältigend und beschwört viele Fragen herauf. Hat Andar hier das Geheimnis dert „Sternenquelle“ gefunden? Sie findet die Antwort auf dieses Rätsel in Mondschattens Kopf. Er ist Telepath und verfügt über die Erinnerungen jener Generationen von Eingeborenen, die vor 500 Jahren erstmals den Zorn der erobernden Siedler zu spüren bekamen. Diese Erinnerungen kann er über Körperkontakt auch Tarawassie zugänglich machen.

So erfährt sie, dass die Apparate, die mittlerweile nur noch als „Sternenquellen“ bekannt sind, Transmittertore von der Alten Erde sind. Doch sie zu benutzt, hat einen Haken: Wer hindurchgeht, muss seine körperliche Hülle zurücklassen, transferiert wird nur das Bewusstsein. Und weil seit Jahrhunderten niemand mehr von der Erde gekommen ist und auch kein Schiff mit Versorgungsmitteln gekommen, scheiterten die Siedler dieser Welt. Was, wenn jemand den erneuten Kontaktversuch mit der Erde wagen würde? Dann hätte diese Welt vielleicht eine zweite Chance.

Zusammen entwickeln Mondschatten und Tarawassie eine Vision von einer künftigen Welt, in der Eingeborene und Sternenmenschen friedlich miteinander am Wiederaufbau wirken würden. Doch als sie mit dieser Vorstellung zum Schamanen der Eingeborenen gehen, erklärt dieser Mondschattens Ideen für böse und löscht alle seine Erinnerungen. Über diese verfügt nun nur noch Tarawassie. Doch was soll und kann sie damit anfangen, ohne sich darin wie in einem Chitta-Traum zu verlieren. Mit seinen letzten Worten schickt Mondschatten sie auf ein Himmelfahrtskommando…

Mein Eindruck

Wie der Leser bereits ahnt, kam die Idee zu dieser Geschichte der Autorin, nachdem sie den gleichnamigen Song von „The Doors“ gehört hatte. Es geht um die Kluft zwischen Realität und Illusion, welche, wie bei einem Hippie zu erwarten, drogeninduziert ist. Indem die Frau in der Zeit zurückgeht, als diese Welt von Siedlern erobert wurde und die Eingeborenen gewaltsam weichen mussten, erkennt sie eine Sackgasse, die schon vor 500 Jahren anfing sich zu entwickeln: Die Siedler waren abgeschnitten von ihrer Ursprungswelt, konnten sich aber den Eingeborenen nicht anpassen.

Die Autorin ist Indianerin und sie weiß, wovon sie schreibt. So wie ihr Volk einst von den Europäern dezimiert und von seinem Land verdrängt wurde, so erging es auch Tarawassies Siedlerwelt, mit einem Unterschied: Weil sich die Eingeborenen zurückzogen, entging sie der Auslöschung. Die traf vielmehr die Siedler, mit Mondschatten als letztem Mohikaner. Eine Kombination dieser restlichen „Sternenmenschen“ mit den einheimischen Kith wäre die letzte Möglichkeit für Fortbestand.

Weil sich aber die Kith diesem Weg zu einer neuen Zivilisation verweigern, ist es der Frau, die über die Erinnerungen und Lehren der Vergangenheit verfügt, überlassen, den letzten konsequenten Schritt zu gehen. Sie muss durch den Transmitter, ihren Körper aufgeben und hoffen, die nächste Welt zu erreichen, um dort ihre Botschaft zu verbreiten. Der Schluss stimmt mit einer zarten Andeutung des Erfolgs optimistisch: Es werden die Frauen sein, die den Unterschied ausmachen, um die Zivilisation vor dem Untergang zu bewahren. Wenn sie bereit sind, den Preis dafür zu zahlen.

Der Kurzroman ist wegen des verschachtelten Mittelteils, der auf mehreren Zeitebenen spielt, nicht einfach zu lesen. Aber wer sich die Mühe macht, wird mit einer sehr positiven Vision belohnt. Ein kleines Gedicht von einem Briten namens Russel Grattan spielt eine wichtige Rolle, um Tarawassies rasche Entwicklung und die Erkenntnis ihrer Aufgabe zu beschreiben:

„Wer will vergehen? Wer wieder erstehen?
Wer besiegt den Drachen und taucht in den Dunklen Schlund?
Still und lautlos gibt er sich dem Ozean hin.“

Der „dunkle Schlund“ ist der Transmitter, die Sternenquelle, und der Ozean ist das Sternenmeer. Nun muss Tarawassie herausfinden, wer der Drache ist und wie man ihn besiegt.

6) Der Zinnsoldat (The Tin Soldier, ca. 1973)

Maris hat nach seiner Zeit als Soldat auf dem Mars eine Kneipe aufgemacht, die sich bei Raumfahrerinnen einiger Beliebtheit erfreut. Nur Frauen sind für die Raumfahrt zwischen den Sternen geeignet, heißt es. Im „Alten Zinnsoldaten“ gibt’s immer gut gemixte Drinks und Lover, die eine Lady abschleppen kann, um sich zu vergnügen.

Eines Tages lernt er so Brandy kennen, das mit 18 Jahren jüngste Besatzungsmitglied eines Raumfrachters, der zu den Plejaden pendelt. Brandy muss sich erst daran gewöhnen, dass Maris nicht ganz menschlich ist, sondern zur Hälfte eine Maschine, mit Prothesen aus Plastik und Metall, ein Cyborg. Aber er ist nett genug, dass sie mit ihm eine Nacht verbringt.

Dann vergehen aufgrund der Zeitdehnung auf den Interstellarfügen fast 20 Jahre, bis sie zurückkehrt. Er sieht keinen Tag älter aus, stellt sie bewundernd fest. Nach einer Liebesnacht fliegt sie wieder davon, um wieder nach knapp 20 Jahren zurückzukehren. Diesmal ist zur Liebe die Sehnsucht hinzugekommen. Sie schreibt Gedichte. Liebesgedichte.

Sie zeigt ihm ihr Raumschiff. Das führt sofort zu Ärger mit den anderen Raumfahrerinnen, doch Brandy behauptet sich. Das Schiff verfügt über eine weibliche KI, die offenbar auf Männer schlecht zu sprechen ist. Schleunigst verlässt das Paar das Schiff. Brandy kennt das alte Erdmärchen vom tapferen Zinnsoldaten und der Ballerina, die seine Liebe verschmähte. So will sie nicht sein.

Vom nächsten Raumflug erhält Maris schlechte Nachrichten: Die KI sei im Anflug auf eine Welt ausgerastet und habe das Schiff beschädigt, Brandy sei umgekommen. Maris ist sehr traurig. Er lauscht auf jedes Wort über das verschollene Schiff und wird unachtsam. Zum Glück spaziert schließlich Brandy doch noch zur Tür seiner Bar herein. Maris fällt ein Wackerstein vom Herzen, doch wie kann es möglich sein…?

Mein Eindruck

Ihre Leser haben Joan D. Vinges Debüt-Erzählung „Der alte Zinnsoldat“ immer wieder zu ihrer besten Story gewählt, und das mit Recht. Obwohl der Kern der Handlung auf das titelgebende Märchen von Hans Christian Andersen zurückgeht, macht die Autorin viel mehr daraus. Sie stellt mithilfe der Zeitdehnung, die bei beinahe lichtschnellen Flügen unweigerlich eintritt (siehe Einstein), die DAUER der Liebe auf die Probe. Und als Brandy mit einem Körper zurückkehrt, der nicht mehr ganz menschlich ist, stellt sie die KÖRPERLICHKEIT und MENSCHLICHKEIT der Liebe auf die Probe.

Hier braucht sich also der alte Soldat nicht wie sein märchenhaftes Vorbild ins Feuer zu stürzen, um seiner Angebeteten nahe zu sein. Es ist eher andersherum: Es ist die Ballerina, die sich verändert. Statt hochnäsig Liebe, wo sie angeboten wird, abzuweisen, nimmt sie sie an. „Liebe wandelt sich nicht, wo sie Wandel findet“, heißt es bei Shakespeare. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben die beiden noch heute zusammen in ihrer Bar und schauen den startenden Raumschiffen zu.

Die Übersetzung

S. 9: „während sie die Membranen ihrer Schwin[ung]en ausbreitete…“: „ung“ ist überflüssig.

S. 10: “ sie sah die etwas ausgefahrenen scharfen Fänge.“ Gemeint sind Reißzähne.

S. 36: „[w]rang er jedes Tröpfchen Pathos und Schau aus der Sache heraus.“ Das W fehlt.

S. 50: „bevor die Thermung ihn wieder losließ“: Gemeint ist die warme Aufwärtsströmung.

S. 56: „Un[e]menschlichkeit“: Das E ist überflüssig.

S. 66: „wie das Fleisch von seinen Knochen faulte und sein Kör[p]er vor seinen Augen verfiel…“: Das P fehlt.

S. 123: „Ab meiner Stelle Dünger kippen?“ Richtig wäre: „An meiner Stelle Dünger kippen.“ Was aber immer noch wenig verständlich ist.

S. 130: „sah den dunklen, anheimel[de]nden Eingang…“: Die Silbe „de“ ist überflüssig.

S. 144: „die Augen des Aggressivlings“: Gemeint ist wohl ein Aggressor.

S. 156: „Er zog sich aus, ging (…) zur Dusche, dichtete sie ab und stellte das Wasser ab.“ Nein, im Gegenteil: Er stellte es an!

S. 196: „Ich brauche dich, um dich (?) zu lehren, wie dieser Ort arbeitet.“ Da dies Tarawassie, die Fremde, zu Mondschatten, dem Einheimischen sagt, muss das entscheidende Wort „dich“ ganz anders heißen, nämlich „mich“.

S. 204: „von den beeinflussenden Attituden zu trennen.“ Hier war der Übersetzer zu faul, das englische Original zu übersetzen. Gemeint sind „Attitüden“, also Geisteshaltungen und Verhaltensmuster.

S. 224: „Mondschatten erhob sich, aufwallende Gefühle verzeichneten (?) die harten Linien seines Gesichts.“ Statt „verzeichneten“ sollte es wohl besser „verzerrten“ heißen.

S. 226: „…sein Pelz zeigte ein[e] silbernes Weiß.“ Das E ist überflüssig.

Unterm Strich

Die ersten Erzählungen dieses Bandes beruhen auf dem Anthropologie-Hintergrund der Autorin und sind relativ exotisch. „Bernsteinaugen“ wirkt recht japanisch, wohingegen mich „Die Katze locken“ überhaupt nicht beeindrucken konnte. Doch schon mit „Mediaman“ und „Kristallschiff“ steht die Zukunft der Menschheit als solcher auf dem Spiel. Während „Kristallschiff“ in der Mitte ganz schön knifflig ist, bildet diese Novelle doch das thematische Schwergewicht dieses Bandes, und den sollte man sich nicht entgehen lassen. In beiden Geschichten ist es die Frau, die den Wandel einleitet.

„Medienmann“ gehört zu einem großen Hintergrund, der sich aber in der Story nur schemenhaft erkennen lässt. bemerkenswert ist hingegen die Rolle der Frau. Die Pilotin Mythili dreht die Einstellung des Medienmannes Red um. Er revanchiert sich, indem er ihr zum Überleben verhilft. Zusammen können sie später dem Demarchos-Konzern das Handwerk legen. Die beiden bilden das erste Paar in dieser Sammlung, obwohl von Liebe kaum die Rede sein kann.

Die romantische Liebe in ihrer beständigsten Form bildet den Kern der feinen abschließenden Novelle, die nicht nur für mich zur besten Geschichte der Autorin gehört. Das alte Andersen-Märchen über den standhaften Zinnsoldaten findet hier eine überraschende, aber überzeugende Wendung, für die der Begriff „Zeitdehnung“ noch viel zu blass wirkt.

Diese starke Zusammenstellung der frühesten Erzählungen der Autorin zeigt weibliche Figuren, die für die Menschheit und deren Zukunft wichtig werden. Sie deswegen gleich „feministisch“ zu nennen, würde allerdings zu weit gehen. Die weibliche Sicht auf die Welt zu zeigen, beruht auf dem Erfolg und Einfluss von zentralen Autorinnen wie Ursula K. Le Guin, Kate Wilhelm und Joanna Russ. Es ist kein Fehler, auch diese Autorinnen zu kennen.

Für die zahlreichen Druckfehler und die fehlenden bibliografischen Angaben gibt es Punktabzug. Alle Jahreszahlen stammen von mir.

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