Joanna Cannan – … im Preis einbegriffen

Cannan Preis Cover kleinDas geschieht:

Auf Aston Park residieren seit Jahrhunderten die d’Estrays, ohne sich dabei je besonders hervorgetan zu haben. Auch die aktuelle Generation ist intellektuell eher einfach gestrickt, sehr von sich eingenommen, verknöchert und folgerichtig im 20. Jahrhundert denkbar fehl am Platz. Deshalb stand Sir Charles bereits am Rande des Bankrotts, als er in zweiter Ehe Barbara ehelichte, eine deutlich jüngere, verwitwete Schriftstellerin, die in Frankreich ein fröhliches Leben mit Töchterlein Lisa und vielen leichtfertigen Freunden führte, bevor sie in einem Anfall mütterlicher Sorge eine ehrbare Lady wurde.

Doch Hugo und vor allem Patricia, Charles‘ bereits erwachsene Kinder, konnten „Bunny“, wie selbst Lisa die Mutter nennt, niemals leiden. Charles selbst erwies sich als alternder, in seinen Ansichten und Gewohnheiten gefangener Dummkopf, der nicht einmal anerkennen kann, dass seine tatkräftige Gattin Aston Park in ein florierendes Hotel verwandelt hat.

Die Liebe zwischen Charles und Bunny ist längst erloschen, als Elizabeth Hudson, die als zahlender Gast in Aston Park residiert, tot in ihrem Bett gefunden wird. Man hat dem Abend-Whisky der allseits unbeliebten Dame ein wirkungsstarkes Pflanzengift beigemischt. Dies ruft Scotland Yard bzw. Inspektor Ronald Price auf den Plan. Dessen Ermittlung kommt schlecht voran, da handfeste Indizien rar bleiben. Stattdessen lässt sich Price von Vorurteilen leiten. Er findet die lässige, ‚französische‘ Bunny sehr verdächtig, zumal diese aus ihrer Abneigung gegen Elizabeth Hudson nie einen Hehl gemacht hat.

Nicht einmal Charles stellt sich auf Bunnys Seite, und seine Kinder ergreifen gern die Chance, der ungeliebten Stiefmutter am Zeug zu flicken. Die Betriebsblindheit des Inspektors macht sich der tatsächliche Mörder zunutze. Bald sinkt ein weiterer Gast vergiftet zu Boden. Price intensiviert seine Bemühungen, Bunny oder ihre Tochter als Täter zu überführen. Der Mörder greift auch diese Anregung gern auf: Wäre es nicht das ideale Geständnis, würde Bunny Selbstmord begehen und ein Geständnis als Abschiedsbrief hinterlassen …?

Das Problem notwendiger Veränderungen

Spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg endete die traditionelle, d. h. angeblich von Gott gegebene und durch entsprechende Gesetze abgesicherte Privilegierung des britischen Adels. Seinen Mitgliedern blieben Stand und bestimmte Vorrechte, doch von nun an mussten sie sich der für sie unerfreulichen Erkenntnis stellen, dass Eigentum verpflichtet – beispielsweise und ganz besonders zur Zahlung von Steuern.

Von dieser lästigen Pflicht waren sie lange weitgehend befreit geblieben. Das gesparte Geld war u. a. in Bau und Einrichtung prachtvoller Landsitze geflossen, die ihren Eigentümern nun wie Mühlsteine an den Hälsen hingen: Sie mussten nicht nur stattliche Grundsteuern zahlen, sondern die repräsentativen Bauten auch aus eigener Tasche unterhalten.

Der Anbruch neuer Zeiten überforderte manches Adelsgeschlecht, das sich bisher feudal und ganz selbstverständlich auf den Schultern von Dienstboten und Untertanen über den schnöden Lebensalltag hatten tragen lassen. Auch diese für jene, die an ihrer Spitze standen, angenehme Hierarchie begann sich aufzulösen: „Natürlich, in den alten Zeiten durften die unteren Bediensteten erst sprechen, wenn die höhere Dienerschaft sich zurückgezogen hatte, aber [wir] beschlossen, dass wir uns … dem Zeitgeist anpassen sollten.“ (S. 162) So spricht Hausmädchen Beatrice und macht damit deutlich, dass auch Aston Park in der Gegenwart angekommen ist.

Dem Hausherren und seinen Kindern ist dies höchst unangenehm. Charles d’Estray ist ein unbelehrbarer Vertreter der Vergangenheit. Geld hat man, ein Gentleman arbeitet nicht. Frauen kennen ihren Platz, Gefühle werden unter Kontrolle gehalten. In einem Anfall ungewöhnlicher und rasch bereuter Lebensfreude hat Sir Charles seine „Bunny“ geheiratet und damit die Neuzeit endgültig in sein Haus gelassen.

Ermittlungen und Vorurteile

Bunny ignoriert die vornehme Dekadenz der d’Estrays und bringt das Haus in Ordnung. Sie übersieht, dass Charles dadurch zwar nicht den Familiensitz aber sein Gesicht verliert. Schon seine erste Gattin hatte irgendwann die Nase voll von ihm und ist gegangen. Gelernt hat Charles daraus überhaupt nichts.

Die ausgefeilte und ungewöhnlich kritische Figurenzeichnung lässt den Krimi-Strang des Geschehens – obwohl genretypisch sauber ausgearbeitet – immer wieder in den Hintergrund geraten. Joanna Cannan sorgt für ein unterhaltsames Gegengewicht. Sie bricht mit der vor allem im Rätselkrimi der alten Schule üblichen Gewohnheit, Charaktere auf Äußerlichkeiten und Manierismen herunterzubrechen: Pfarrer sind stets zerstreut, alte Soldaten knorrig und wortkarg, junge Ladys hübsch und heiratswillig, Butler alt und würdig, Köchinnen gemütlich dick und dumm.

Nicht einmal der Ermittler bleibt ungeschoren: Ronald Price ist in seinem ersten Fall – vier weitere folgten – auf seine Weise ebenso in alten Denkmustern gefangen wie die d’Estrays. Er gehört zu einer jüngeren Generation, die sich von der Verpflichtung frei fühlt, sich an überkommene Regeln zu halten, ohne zu merken, dass er sich erstens selbst täuscht und zweitens nur Vorurteile an deren Stellen setzt. Für Price ist Bunny d’Estray bereits durch Herkunft und Geschichte vorverurteilt. Tatsächlich ist sie frei. Price merkt es und weiß, dass ihm diese Freiheit verwehrt bleiben wird. Deshalb verfolgt er Bunny und später sogar deren Tochter mit einem durchaus persönlichen Groll.

Der Platz im Leben

Interessanterweise lässt Cannan nicht zu, dass sich der Leser automatisch mit der geplagten Bunny identifiziert. Schon der alberne Spitzname steht dem im Weg. Darüber hinaus zeichnet Cannan Bunny als in der Tat flatterhafte Frau, ohne ihr daraus jedoch wie Gatte Charles einen Strick zu drehen. Bunny ist womöglich ein wenig zu frei und weder fähig noch willens, sich in Aston House einzufügen.

Freilich sorgen nicht nur die anspruchsvollen Gäste, sondern vor allem die feindseligen Stiefkinder für eine gute Entschuldigung. Hugo d’Estray kann und will nicht denken, sondern Füchse jagen. Patricia gehört zu jenen unangenehmen Zeitgenossen, die erlittene Demütigungen nicht überwinden, sondern sie speichern und an ihren Mitmenschen auslassen.

Joanna Cannan stand dem restriktiven britischen Erziehungssystem zeitlebens kritisch gegenüber. Zwar war und blieb sie zeitlebens verheiratet. Dennoch lassen sich Parallelen zwischen der Autorin und der Figur Bunny d’Estray feststellen. Dies spiegelt vor allem das ungewöhnlich enge, beinahe freundschaftliche Verhältnis zwischen Mutter und (leiblicher) Tochter wider. Auch Cannan ermutigte ihre Töchter, sich nicht dem traditionellen Rollenverständnis zu fügen, woran sich die drei „Pullein-Thompson-Sisters“ (allerdings auch ihr Bruder) hielten.

Der Fall kommt nicht zu kurz

Die verstorbene Elizabeth Hudson war zwar ein Biest, stand aber gleichzeitig mit beiden Beinen in einem Leben, das sie in vollen Zügen genoss. Solche Ambivalenz ist typisch für Cannans Figuren. Der Purist mag sie für allzu realistisch halten und die übliche „Whodunit“-Märchenwelt vermissen. Allerdings dürfte er diese Haltung spätestens im letzten Drittel überdenken: Nun zeigt Cannan, dass sie auch das Krimi-Handwerk vorzüglich beherrscht. Die Auflösung ist spannend und bietet die erhofften Überraschungen: Der Täter gehört selbstverständlich zum Haushalt, doch der Mordplan ist gleichermaßen simpel wie diabolisch komplex, weshalb auch der kriminalistisch vorgebildete Leser dem Unhold die Maske nicht vor der Autorin vom Gesicht reißen dürfte.

Das Krimi-Element ist solide aber mindestens ebenso unterhaltsam und zudem gereift statt gealtert ist das mit ironischen Spitzen gespickte Porträt einer Gesellschaft im Umbruch. „Murder Included“ – den schwerfälligen deutschen Titel vergessen wir zum Wohle des Werkes lieber – erweist sich damit als interessante Wiederentdeckung.

Autorin

Joanna Cannan wurde 1898 geboren. Vater Charles arbeitete für die Oxford University Press, Gilbert Cannan, ein Cousin der Mutter, war Schriftsteller, Joannas ältere Schwester May galt als begabte Dichterin. Auf diese Weise genetisch vorbelastet, begann auch Joanna früh zu schreiben. Allerdings diente sie im I. Weltkrieg als Krankenschwester. In Oxford betreute sie Verwundete von der Front. Dabei lernte sie Captain Harold J. Pullein-Thompson kennen. Beide heirateten 1918.

Da Harolds Gesundheit im Krieg dauerhaft Schaden genommen hatte, war Joanna für den Unterhalt der bald wachsenden Familie zuständig. In den folgenden Jahrzehnten veröffentlichte sie mindestens ein Buch pro Jahr. Diese Werke erschienen unter ihrem Mädchennamen. Cannan konzentrierte sich auf Kinderbücher, in denen Ponys und Pferde eine wichtige Rolle spielten. Diese Romane machten die Autorin berühmt; sie werden in England noch heute aufgelegt. Gleich drei ihrer Töchter – Josephine sowie die Zwillinge Diana und Christine Pullein-Thompson – traten in die Fußstapfen der Mutter und schrieben selbst zahlreiche Kinderbücher. (Heute setzt Enkelin Charlotte Popescu diese Familientradition fort.) Sohn Denis verfasste erfolgreiche Theaterstücke und Drehbücher.

Erst Ende der 1930er Jahren begann Cannan Kriminalromane zu schreiben, wobei sie mit der ab 1950 erscheinenden Serie um Scotland-Yard-Inspektor Ronald Price deutlich gesellschaftskritischer und ‚moderner‘ wurde. Zumindest in England fanden diese Romane ihr Publikum. In den 1950er Jahren erkrankte Cannan an Tuberkulose. 1957 starb Ehemann Harold. Vier Jahre später erlag Joanna Cannan ihrer Krankheit.

Taschenbuch: 192 Seiten
Originaltitel: Murder Included (London : Victor Gollancz 1950)
Übersetzung: Charlotte Richter
www.ullsteinbuchverlage.de

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