Joanna Russ – Alyx. Zukunftsroman

Eine Diebin als Vorbild und Vollstrecker

Winzig, aber zäh ist Alyx, die junge Trans-Temp-Agentin. Aus der griechischen Antike geholt, evakuiert die Berufsmörderin eine Gruppe Touristen auf der Siedlerwelt Paradies. Es sind nur 100 Kilometer zu Fuß, aber die haben es in sich. Doch schlimmer als der Krieg und die Winteröde dort sind diese modernen Schützlinge selbst. Alyx aber steht ihre Frau. (erweiterte Verlagsinfo)

Die Autorin

Die Nebula-Preisträgerin Joanna Russ gilt als eine führenden Science Fiction Autorinnen; ihre Romane haben ihr internationalen Erfolg gebracht. Sie gilt neben der SF-Herausgeberin Judith Merril als eine der ersten und wichtigsten Kämpferinnen für die Gleichberechtigung der Frau in der Science Fiction. Sie hat an mehreren amerikanischen Universitäten gelehrt.

Nach „Picnic on Paradise“ (1968, dt. als „Alyx“ bei Knaur erschienen) erschien mit „The Female Man“ 1975 ihr zweiter wichtiger Roman: eine Utopie der Frauen. Fortan galt sie als führende Feministin des Genres. Die Keimzelle von „Planet der Frauen“, die Novelle „When it changed“, wurde 1972 mit dem Nebula Award ausgezeichnet und fehlt in keiner Anthologie zur SF von Frauen. Der Roman „Zwei von ihnen“ erschien bei Heyne.

Handlung

Die Trans-Temporale Agentur, eine Militärbehörde, hat Alyx, eine Berufsmörderin, aus der griechischen Antike geholt, damit sie eine Gruppe von Touristen auf der Siedlerwelt Paradies an einen sicheren Ort evakuiert. Es sind nur 100 Kilometer zu Fuß, doch der Krieg und die Winterkälte machen den Marsch nicht zu einem Zuckerschlecken. Nur wenige werden ihn überleben.

Schlimmer als die winterlichen Wetter- und Bodenverhältnisse auf Paradise sind die sogenannten „Touristen“. Sie nehmen die zierliche Frau, die nur 1,50 Meter misst, nicht ernst, schon gar nicht der ernsthafte Leutnant, der Alyx instruiert. Alle Gegenstände aus Metall müssen wegen der Fähigkeit des Feindes, Metall zu orten, abgegeben werden, Im Nu ist Alyx drei Messer los (behält aber zwei versteckt an den Unterarmen). Zwei Nonnen in der Gruppe scheiden wohl als Kämpfer aus. Iris entpuppt sich als die Tochter von Maudey, was für Verstimmung sorgt.

Dann gibt es noch Raydos, einen Politiker, und einen jungen Mister X, der vom Leutnant mitgebracht wird. Ein weiterer Typ nennt sich Maschine, eine Art Outlaw. Schließlich ist da noch Gunnar, ein nordischer Riesenmensch – zumindest in den Augen eines so kleinen Menschen wie Alyx. Glücklicherweise sprechen alle die gleiche Sprache. Aber das hilft wenig, wenn Alyx von ihren Schützlingen nicht anerkannt wird. Bis dies passiert, müssen ein paar schreckliche Dinge passieren.

Nach Basislager B

Das Basislager B zu erreichen, ist schon ein problem. Und einmal im Blickfeld erscheint Basislager B als friedliches und einladendes Habitat. Doch hat der erste der Touristen einen bestimmten Abstand unterschritten, wird er auch schon von einem Kraftfeld niedergestreckt und gegrillt. Alyx kann jedoch nur Roboter und Maschinen entdecken, aber keine Menschenseele. Iris hat den rettenden Einfall, wie sich Alyx als Angehörige der herrschenden Menschen identifizieren kann: Sie muss mit den Fingern Zahlen anzeigen. Eine dieser Zahlen ist in Iris‘ Haut tätowiert. Es funktioniert. Endlich können sich Alyx und die Touristen mit Proviant versorgen. Die Stimmung hebt sich deutlich, und Alyx bekommt von Maschine einen unzweideutigen Antrag.

Zum Pol

Doch auch dieses Lager bietet keinen Schutz. Es ist niemand da, der sie abholen kann und keine Kommunikationsmöglichkeit, um Hilfe herbeizurufen. Die zweite Etappe ihrer Reise muss sie zur Kontrollstation von Trans-Temp führen, die am Nordpol liegt. Naturgemäß wird das Wetter noch schlechter und vereiste Flächen erschweren das Weiterkommen. Der Angriff eines Kriegers, der in einem durchsichtigen Einmannboot auftaucht, wirkt auch nicht gerade förderlich. Auch ihm ist kein Triumph beschieden.

Alyx nimmt Maschines Antrag, „eine Nummer zu schieben“, an und erlebt eine ihrer kurzweiligsten Nächte. Natürlich können alle anderen mithören, was die beiden in den Schlafsäcken treiben. Das könnte der Grund sein, warum Gunnar es ungerührt zulässt, dass Maschine in eine Art Gletscherspalte stürzt. Sein Fehlverhalten wird für Gunnar tödliche Konsequenzen haben…

Mein Eindruck

Alyx ist eine der frühesten feministischen Figuren, die man in der Science Fiction findet. Sie lebte, wie wir häppchenweise mitgeteilt bekommen, als Diebin und Attentäterin in der phönizischen Hafenstadt Tyrus auf. Mit 17 Jahren hat sie schon ihr erstes Kind und gibt es weg. Kurz vor ihrem Zeittransfer durch Trans-Temp lief sie ihrem Mann und weiteren zwei Kindern davon, beraubte den Fürsten von Tyrus, wurde erwischt und zum Tod durch Ersäufen verurteilt.

Sie wird in das Hafenbecken geworfen, mit einem Steinklotz am Bein. Gerade als ihr unter Wasser die Luft ausgeht, holt das Kraftfeld von Trans-Temp heraus. Das nur die Tatsache, dass sie bereits halb tot war, den Erhalt ihres Bewusstseins erlaubt habe, hat sich die Autorin ebenso aus den Fingern gesaugt wie alles andere. Aber Alyx hat immer noch ihre fünf Messer dabei. Drei davon muss sie im Lager A abgeben, bleiben noch zwei. Die wird sie noch brauchen.

Drogen

Diese Frau soll dem Leser und den anderen Figuren also als moralischer Kompass dienen? Höchst unwahrscheinlich, würde man erwarten, aber da kennt der Leser noch nicht die Eigenarten der „Touristen“. Unter diesen herrscht eine Art Drogenkultur. Die beiden „himmlischen Schwestern“ sind Anhänger einer Kirche der holistischen Harmonie, die vor allem durch eine euphorisierende Droge erreicht werden kann. Für die beiden Nonnen ist die Verabreichung der Harmonie-Droge eine heilige Pflicht. Sie sind entsetzt, als Alyx das Zeug kategorisch ablehnt.

Alyx sieht die Notwendigkeit, nicht nur Maudyn, sondern auch deren Tochter Iris auf Entzug zu setzen. Die Folgen sind, wie bei jedem „kalten Entzug“ furchtbar für die Opfer. (Auch John Lennon machte einen „kalten Entzug“ und das anschließende Album erzählt in schier unerträglicher Deutlichkeit von seinen Qualen.) Maudyn stirbt, und Iris erwischt es um ein Haar ebenfalls. Hier kritisiert die Autorin die Drogenkultur, die in ihrem eigenen Land USA anno 1967/68 in der Jugendkultur herrschte. Die nachfolgenden Kapitel illustrieren die Folgen dieses Verhaltens.

Liebe und Sex

Der junge Mann, der kein einziges Haar am leib mehr hat, nennt sich „Maschine“. Er hält an der Realität fest und nimmt keine Drogen, doch dass auch mit ihm etwas nicht stimmt, ist offenkundig. Er fasst seinen Körper als Maschine auf, daher sein Spitzname. Ihm fällt sofort auf, dass auch Alyx‘ Körper bestens funktioniert und zu seinem kompatibel ist. Er macht ihr einen Liebesantrag.

Ob wohl sie weiß, dass es unklug ist, sich mit einem Klienten einzulassen, setzt sie seinem Werben doch zuwenig Widerstand entgegen, um ihn abwimmeln zu können. So kommt es zu zwei der schrägsten und lustigsten Liebesszenen, die ich je in der phantastischen Literatur gefunden habe (von einer Szene bei Robert Holdstock mal abgesehen). Als Maschine in die Gletscherspalte stürzt, trifft sie dieser Verlust daher unerwartet hart. Entsprechend, äh, „einschneidend“ fallen ihre Reaktionen aus.

Das Prinzip Verantwortung

Die Kirche der ganzheitlichen Harmonie hält für jeden Einzelnen die Seligkeit in Form einer Pille bereit: Es ist ein künstliches „Paradies“ (der Planet ist in Wahrheit eine Befindlichkeit). Der Haken bei dieser individuellen Seligkeit, die vor allem Selbst-Liebe fördert, ist, dass sie keinerlei Bewusstsein für die Harmonie in einer Gruppe fördert, ja, es sogar unterbindet. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, lautet die unausgesprochene Devise, jeder dieser Lotosesser (vgl. Homers „Odyssee“) kümmert sich um seinen eigenen Kram – solange er oder sie diese Glückspille nimmt.

Alyx hält sich nicht an diese Regel und findet vieles im Argen. Die Folgen des Drogenentzugs wurden bereits oben erwähnt. Als sich einer nach dem anderen fehlverhält, sind es vor allem die Männer, die den Preis bezahlen müssen. Sei es aus Überheblichkeit, Vorfreude oder schlicht Pflichtvergessenheit – sie zahlen alle einen Preis: das Leben.

Die Autorin sitzt hier über die Männer zu Gericht: Sie lässt Alyx entweder als Zeugin zusehen, wie die Männer draufgehen, oder lässt sie selbst den Scharfrichter spielen. Der Leser hätte Fehlverhalten wohl kaum bei Gunnar, dem sympathischen Bergsteiger und Amateurforscher, vermutet, aber dessen unverantwortliches Handeln zeitigt für ihn eine tödliche Strafe. Es ist eine höchst blutige Szene, wie man sie in der amerikanischen SF selten findet, und fast niemals mit einer Frau im Mittelpunkt (jedenfalls bis zu den Romanen von C.J. Cherryh, etwa „Yeager“).

Die Übersetzung

S. 17: „an törichten Geschichten festhalten, wo es durch[?] nur einen Agenten gibt…“: Das Wörtchen „durch“ scheint seine bessere Hälfte verloren zu haben, beispielsweise „durch-weg“.

S. 22: „wo sich die Wilden blau bemalten und Steine aus (?) Heiligtümer verehrten…“ Statt „aus“ sollte es besser „als“ heißen. Denn dann kann man sich diese Heiligtümer ohne Mühe als „Stonehenge“ oder Menhire vorstellen.

S. 101: Was ist wohl von diesem Satz zu halten? „…denn der Kamin [Felsspalte] war zum Abstürzen zu breit“. Wenn die Spalte zu breit ist, um sich an den Rändern festhalten zu können, dann stürzt der Bergsteiger unweigerlich ab. Korrekt wäre daher vielmehr das Wort „Abstützen“ anstelle von „Abstürzen“, damit der Satz einen Sinn ergibt und erfüllt.

Unterm Strich

„Picnic on Paradise“ lautet der Titel dieses Debütromans der bekannten feministischen Autorin, Kritikerin und Dozentin Joanna Russ. Nun, es wird weder ein Picknick, auf das sich diese Gruppe begibt, noch wird der Planet Paradise seinem euphemistischen Namen gerecht, denn unwirtlicher und abweisender kann man sich eine fremde Polarlandschaft kaum vorstellen. Das legt die Vermutung nahe, dass dieser Ort kein mehr oder weniger realistisch geschilderter Platz, sondern ein mentaler Zustand ist, eine gesellschaftliche Befindlichkeit: eine Seelenlandschaft.

Das Gericht

Das wird durch die Mitglieder der „Picknick“-gruppe bestätigt. Sie erinnern an Chaucers Pilger, die nach Canterbury wallfahren: Jeder einzelne ist anders und steht für eine Lebenshaltung. Diese wird von Alyx auf den Prüfstand gestellt und beurteilt. Wer gegen Alyx‘ Führung und Vorgaben verstößt, muss die Konsequenzen tragen, mitunter sogar am eigenen Leib. Sie ist Zeugin, Schöffin und Scharfrichterin in Personalunion.

Die Verurteilten

Da die Schützlinge für Teile der zeitgenössischen Gesellschaft stehen – Kirche, Regierung, Wissenschaft usw. – kritisiert die Autorin hier ihr eigenes Land. Es befand sich 1968 in einer schweren inneren Krise, die man auch als außerparlamentarischen Bürgerkrieg ansehen könnte. Kirchliche Liebe ist sowohl eine Droge („Opium fürs Volk“) als auch eine Pille, deren Einnahme obligatorisch ist. Klar, dass Alyx mit dem einzigen Mann schläft, der diese Droge nicht nimmt. Als dieser Liebhaber Opfer der Verantwortungslosigkeit in der Gruppe wird, ist ihre Vergeltung von der Konsequenz einer griechischen Tragödie gekennzeichnet. Man denke etwa an Medea.

Frauen als Heldinnen

Wie bereits in ihren anderen feministischen Romanen stellt Joanna Russ Überlegungen über die Situation der Frau an. Immerhin überleben ja vier von fünf Frauen in der Gruppe, Alyx eingeschlossen. Das ist gute Quote. Von den Männern überlebt bis auf Raydos keiner, und der ist blind. Bei dieser Abstimmung nach Füßen schneiden die Frauen also besser ab. Der letzte Satz gibt einen Hinweis auf den Grund. Wenn das Große Trans-Temporale Korps aus Helden und Heldinnen besteht, ist das einzig Trans-Temporale nicht von ihrer Einstellung zu trennen, und diese Einstellung ist identisch mit Alyx‘ „einzigartigen und sonderbaren Fähigkeiten“ zu trennen.

Die Lektüre

Ich habe die Lektüre der rund 120 Seiten in nur einem Tag bewältigt, denn es gibt keine Seite und keinen Satz, die den Leser nicht erstaunen, amüsieren oder fesseln würden. Daher kann ich dem SF-Veteranen Fritz Leiber nur Recht geben, der auf dem Backcover sagt: „Der einzige SF-Roman der letzten zehn Jahre, den ich las, ohne ihn aus der Hand zu legen.“

Taschenbuch: 123 Seiten
O-Titel: Picnic on Paradise, 1968;
Aus dem US-Englischen von Thomas Ziegler;
ISBN-13: ‎ 9783426057575

https://www.droemer-knaur.de/

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