John Brunner – Durchstieg ins Irgendwann. Erzählungen

Klassische SF-Ideen gegen den Strich gebürstet

Dieser Band von Science-Fiction-Erzählungen enthält zwei Novellen und einen Kurzroman von John Brunner, die er zuerst in den fünfziger Jahren veröffentlichte und dann 1972 komplett überarbeitete.

1) In „Die Epidemie“ breitet sich eine rätselhafte Seuche rasend schnell in der Welt aus, doch alle Anzeichen sprechen dafür, dass sie absichtlich eingeschleppt und verbreitet wurde – wer ist der Terrorist und was ist sein Motiv?

2) In „Lungenfische“ erreicht das Generationenraumschiff endlich die Welt Tau Ceti II, doch ein unerwarteter Konflikt zwischen den erdgeborenen Auswanderern und den Schiffgeborenen droht, das Unternehmen kurz vorm Ziel scheitern zu lassen.

3) „Die Welt der Telepathen“: Ist es Zufall oder Absicht, dass ein Mann und eine Frau von verschiedenen Enden der Welt nach London kommen, um dort ausgerechnet in einem Hauseingang zusammenzutreffen, der das Tor zu einer anderen Welt verbirgt?


Der Autor

John Kilian Houston Brunner wurde 1934 in Südengland geboren und am Cheltenham College erzogen. Dort interessierte er sich schon früh „brennend“ für Science Fiction, wie er in seiner Selbstdarstellung „The Development of a Science Fiction Writer“ schreibt. Schon am College, mit 17, verfaßte er seinen ersten SF-Roman, eine Abenteuergeschichte, „die heute glücklicherweise vergessen ist“, wie er sagte.

Nach der Ableistung seines Militärdienstes bei der Royal Air Force, der ihn zu einer pazifistisch-antimilitaristischen Grundhaltung bewog, nahm er verschiedene Arbeiten an, um sich „über Wasser zu halten“, wie man so sagt. Darunter war auch eine Stelle in einem Verlag. Schon bald schien sich seine Absicht, Schriftsteller zu werden, zu verwirklichen. Er veröffentlichte Kurzgeschichten in bekannten SF-Magazinen der USA und verkaufte 1958 dort seinen ersten Roman, war aber von der geringen Bezahlung auf diesem Gebiet enttäuscht. Bald erkannte er, dass sich nur Geschichten sicher und lukrativ verkaufen ließen, die vor Abenteuern, Klischees und Heldenbildern nur so strotzten.

Diese nach dem Verlag „Ace Doubles“ genannten Billigromane, in erster Linie „Space Operas“ im Stil der vierziger Jahre, sah Brunner nicht gerne erwähnt. Dennoch stand er zu dieser Art und Weise, sein Geld verdient zu haben, verhalf ihm doch die schriftstellerische Massenproduktion zu einer handwerklichen Fertigkeit auf vielen Gebieten des Schreibens, die er nicht mehr missen wollte.

Brunner veröffentlichte „The Whole Man“ 1958/59 im SF-Magazin „Science Fantasy“. Es war der erste Roman, das Brunners Image als kompetenter Verfasser von Space Operas und Agentenromanen ablöste – der Outer Space wird hier durch Inner Space ersetzt, die konventionelle Erzählweise durch auch typographisch deutlich innovativeres Erzählen von einem subjektiven Standpunkt aus.

Fortan machte Brunner durch menschliche und sozialpolitische Anliegen von sich reden, was 1968 in dem ehrgeizigen Weltpanorama „Morgenwelt“ gipfelte, der die komplexe Welt des Jahres 2010 literarisch mit Hilfe der Darstellungstechnik des Mediums Film porträtierte. Er bediente sich der Technik von John Dos Passos in dessen Amerika-Trilogie. Das hat ihm von SF-Herausgeber und –Autor James Gunn den Vorwurf den Beinahe-Plagiats eingetragen.

Es dauerte zwei Jahre, bis 1969 ein weiterer großer sozialkritischer SF-Roman erscheinen konnte: The Jagged Orbit (deutsch 1982 unter dem Titel „Das Gottschalk-Komplott“ bei Moewig und 1993 in einer überarbeiteten Übersetzung auch bei Heyne erschienen). Bildeten in Stand On Zanzibar die Folgen der Überbevölkerung wie etwa Eugenik-Gesetze und weitverbreitete Aggression das handlungsbestimmende Problem, so ist die thematische Basis von The Jagged Orbit die Übermacht der Medien und Großkonzerne sowie psychologische Konflikte, die sich in Rassenhass und vor allem in Paranoia äußern. Die Lektüre dieses Romans wäre heute dringender als je zuvor anzuempfehlen.

Diesen Erfolg bei der Kritik konnte er 1972 mit dem schockierenden Buch „Schafe blicken auf“ wiederholen. Allerdings fanden es die US-Leser nicht so witzig, dass Brunner darin die Vereinigten Staaten abbrennen ließ und boykottierten ihn quasi – was sich verheerend auf seine Finanzlage auswirkte. Gezwungenermaßen kehrte Brunner wieder zu gehobener Massenware zurück.

Nach dem Tod seiner Frau Marjorie 1986 kam Brunner nicht wieder so recht auf die Beine, da ihm in ihr eine große Stütze fehlte. Er heiratete zwar noch eine junge Chinesin und veröffentlichte den satirischen Roman Muddle Earth (der von Heyne als „Chaos Erde“ veröffentlicht wurde), doch zur Fertigstellung seines letzten großen Romanprojekts ist es nicht mehr gekommen Er starb 1995 auf einem Science Fiction Kongress, vielleicht an dem besten für ihn vorstellbaren Ort.

Die Erzählungen

1) Die Epidemie (Host Age, 1956)

Dr. Cecil Clifford arbeitet in einem Klinikum im Westen Londons, als die Seuche ausbricht und seine Krankenzimmer füllt. Verzweifelt versucht er alles, um den Erreger zu bekämpfen, doch dieser ist so ungeheuer schnell mutierend, dass die Krankheit mal wie eine Gruppe, mal wie eine Hirnhautentzündung, mal wie sonstwas aussieht. Es scheint Kraut dagegen gewachsen zu sein. Einer seiner Patienten ist Astronaut.

Dieser Buehl meint, die Seuche ja wohl schlecht von den Sternen gefallen sein, nein, jeder Meteor wäre in der Atmosphäre verglüht. Aber wie wär’s mit einer Fortbewegung nach Weissmanns Methode? Man zwingt zwei Räume, die eigentlich weit auseinanderliegen, nahe zusammen – ein kleiner Schritt und schon ist man fort. Clifford schüttelt den Kopf. Buehl hat auch keine Erklärung für die Personen, die ohne Identität in London auftauchen.

Sein Freund Ron ruft, der pharmazeutischer Forscher ist. Kent Pharmaceuticals ist eines der Institute, das an der Erzeugung eines Serums gegen die Seuche arbeitet. Als er Rons Firma besucht, kommt ein älterer Mann mit militärischer Haltung heraus und geht zu einem ungewöhnlichen Sportwagen. Später erfährt er, dass sich dieser Mann „Borghum“ nennt und gerade Rons Firma besichtigt hat. Rons Labor scheint vor einem Durchbruch zu stehen.

Als er am nächsten Morgen erwacht, klingelt ihn Ron aus dem Bett: Ins Labor wurde eingebrochen! Alles ist verwüstet und die gesamte Forschungsreihe zerstört. Die Arbeit von Monaten ist vernichtet. Als er den Tatort besichtigt, ist wieder die Londoner Polizei da. Clifford hat ein paar mehr Ideen als die Schnüffler. Eine der Fußspuren ist besonders rätselhaft: Sie verläuft erst in sich zurück – um dann abrupt zu enden. Als er den Tipp gibt, mal diesen „Borghum“ zu überprüfen, führt auch das zu nichts: Borghum hat ein bombenfestes Alibi, in einer Kneipe hundert Meilen entfernt. Doch als Rons Computertechniker mit den Polizeidaten alle Seuchenursprünge nach hinten extrapoliert, um ihren Ausgangspunkt zu finden, liegt dieser schon wieder bei Borghum: in dessen Haus. Kann ja wohl kein Zufall sein, oder?

Nach Rons Selbstmord übernimmt Clifford quasi die Ermittlung in dieser Sache. Denn inzwischen hat die Seuche auch die USA erreicht. Eine US-Medizinerin will ein fliegendes Labor schicken, um den Briten zu helfen, doch das Flugzeug gerät beim Landeanflug in Flammen. Der einzige Überlebende des Infernos will kurz zuvor einen „dunklen Mann“ an Bord gesehen haben, doch dieser ist im Wrack nicht zu finden.

Der Verlust des fliegenden Labors ist ein schwerer Schlag, doch als wieder ein Mann ohne Identität auftaucht, setzt Clifford alle Hebel in Bewegung, um diesen gefangenzusetzen und am Leben zu erhalten. Der Kerl will sich nämlich umbringen. Mit wenigen Fitzelchen Gestammels erhält Clifford eine Ahnung von den Dimensionen der Vorgänge: Der Mann kommt von Tau Ceti, einer der nächsten Sonnen. Doch warum brachte er sich um? Wovor hatte er Angst?

Clifford bleibt nur ein Ausweg: Er und die Cops müssen diesem mysteriösen „Borghum“ eine wasserdichte Falle stellen…

Mein Eindruck

Die rund 50-seitige Novelle entpuppte sich zu meiner Überraschung als ein kleiner Medizinthriller, in dem sich eine Space Opera verbirgt. Diese wird natürlich erst dann offenbart, als der geheimnisvolle Mr. Borghum seine Aussage macht, die zugleich seine allerletzte ist. Wie Clifford schon vermutet hat, steckt eine Fortbewegung durch eine Art Dimensionstor dahinter, wodurch eine Zeitreise möglich ist (die genaue Logik für diese Kombination steht allerdings auf wachligen Füßen).

Borghum führte eine Invasion in England an, um eine Seuche einzuschleppen. Seine Gründe für diesen terroristischen Akt sind jedoch denkbar exotisch: Es handelt sich nämlich bei dieser Infizierung um eine Art Impfung, um so die menschliche Rasse der ZUKUNFT immun gegen die Viren der feindlichen Dorini zu machen. Die Dorini befinden sich in einem Jahrzehnte dauernden Krieg gegen die Menschen, und Borghum ist einer der militärischen Anführer der Menschheit. Auch dies hat Clifford vermutet. Nun sind nur noch ein paar kleine Unklarheiten zu klären.

Die große Ironie bei dieser Sache besteht nun darin, dass die Epidemie des einen (nämlich Cliffords & Co.) die Impfung des anderen (nämlich Borghums) ist. Tragisch wird die ganze Aktion durch die unzähligen Opfer auf beiden Seiten. Denn es gibt ja nicht bloß Seuchenopfer, sondern auch Borghums Abgesandte, die als Selbstmordattentäter ihr Leben geben, um die Mission auszuführen. All diese Begriffe sind uns heutzutage nur allzu vertraut. Anno 1955 dürften sie direkt aus der Mao-Bibel stammen, denn Terrorismus war so gut wie unbekannt.

2) Die Lungenfische (Lungfish, 1957)

Das Generationenraumschiff fliegt bereits 37 Jahre durchs All zur Sonne Tau Ceti, denn deren zweiter Planet ist wider Erwarten eine fruchtbare Welt, die der Menschheit eine neue Heimat bietet. Frank Yerring ist der Chefökologe und mit Missvergnügen registriert er, dass seine Algenplantagen, die sämtliche Nahrung und Sauerstoff erzeugen, von einer tödlichen Mutation betroffen sind. Noch einen Monat, dann ist der Exitus nahe.

Doch wie er in der neuesten Besprechung erfährt, steht die Ankunft in nur 15 tagen bevor! Also alles kein Problem, sofern das Schiff Vorräte von der neuen Welt an Bord schaffen kann. Allerdings gibt es Widerstand gegen die Beschlüsse des Schiffsrates. Dieser ist in zwei Parteien gespalten: Frank Yerring gehört zu den rund 100 Erdgeborenen, doch die restlichen 2000 Personen an Bord wurde auf dem Schiff geboren und kennen keine andere Umwelt. Sie verhalten sich unemotional und zurückhaltend. Und sie beobachten die alten Knacker der Erdgeborenen auf Schritt und Tritt…

Frank Yerring wird von der Ratsältesten der Erdgeborenen, Magda Gomez, zurückgehalten. Der innerste Rat erhält jetzt, in diesem historischen Moment, neue Anweisungen. Diese wurden vom Erbauer des Schiffs und dem Organisator der Reise, dem Japaner Yoseida, in einem Tresor hinterlegt. Als Frank in seiner Kabine die Unterschrift unter den Befehlen erblickt, ist er überzeugt, dass die Befehle gut und richtig seien. Sie sehen das Aussetzen der Schiffgeborenen auf der fremden Welt vor. Es handle sich um eine Art Geburt und was geboren werden müsse, sei dazu zu zwingen.

Nicht ahnend, dass sein Plan bereits durchschaut wurde, beginnt Frank, den Algen eine Droge beizumischen, die die Schiffgeborenen gefügig machen soll. Weitere Maßnahmen sollen sie psychologisch dazu bringen, das Schiff verlassen zu wollen. Doch der Chefpsychologe Tsien hat eines nicht bedacht: Dass dieses Spiel längst durchschaut ist und sabotiert wurde. Doch was haben die Schiffgeborenen mit den überflüssigen Erdgebeorenen vor, die sie nicht auf den Weiterflug mitnehmen können?

Mein Eindruck

Das Motiv der Generationenraumschiffe hat eine ehrwürdige Tradition, denn schon Robert Heinlein setzte diese Idee Anfang der 1940er Jahre in zwei Novellen um, die in „Die lange Reise“ (Heyne) zusammengefasst wurden. Auch Welt ohne Horizont (1957) von Wolfgang Jeschke steht in dieser amerikanischen Tradition. Jeschke schrieb in seiner Anmerkung zu seiner Erzählungen (in „Der Zeiter“, Shayol-Verlag), dass es Mitte der 1950er Jahre eine Mode in der SF-Szene gab, über solche langen Reisen zu schreiben. Der Grund war vermutlich der, dass erstens die modischen Mutanten ausgedient hatten, weil der Atomkrieg noch immer nicht eingetreten war, man aber durch eine Jahrzehnte oder Jahrhunderte lange Reise dennoch evolutionäre Mutationen am Menschen aufzeigen konnte.

Brunner wendet keine genetische, sondern eine psychologische Evolution auf die Schiffgeborenen an. Die künstliche Umwelt bewirkt die gleichen Effekte, wie es ein entsprechend langer Bunkeraufenthalt nach einem Atomkrieg (vgl. dazu Philip Dick) täte: Die neuen Menschen trauen sich gar nicht mehr an die Oberfläche bzw. auf eine neue Welt, weil sie dadurch einen agoraphobischen Schock erleiden würden: Sie haben schlicht Platzangst. Dieser Schock widerfährt Frank Yerrings Sohn Felipe, der in einen Schreikrampf ausbricht, als er einen Himmel ohne Dach erblickt.

Diese psychologische Wirkung ist durchaus nachzuvollziehen. Aber die Sache funktioniert auch umgekehrt. Auch Erdgeborenen wurden konditioniert, und zwar schon vor ihrer Abreise. Wie Frank Yerring zu seiner nicht geringen Erbitterung erfahren muss, stehen er und alle Erdgeborenen unter dem posthypnotischen Befehl des Organisators der Reise, Yoseida. Deshalb verspürt er keinerlei Bedenken, dessen schriftliche Anweisungen für die Landung auf der neuen Welt auszuführen. Wir haben uns das schon fast gedacht, denn Frank erlebt mehrfach kleine Aussetzer seiner Wahrnehmung. Wodurch könnten sie verursacht worden sein?

Unterm Strich bleibt die Erkenntniss, dass die Ziele, Hoffnungen und Erwartungen der Erdgeborenen in keinster Weise mit denen der Schiffgeborenen übereinstimmen müssen. Letztere haben keine Sehnsucht nach fester Erde, nach frischem Wind oder gar – horribile dictu – einem offenen Himmel über sich. Ganz im Gegenteil: Ihre künstliche Umwelt reicht ihnen völlig, denn die können sie kontrollieren. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann fliegen sie noch heute in „kosmische Weiten, die noch kein Mensch zuvor gesehen hat“, um aus „Raumschiff Enterprise“ zu zitieren.

3) Die Welt der Telepathen (No Other Gods But Me, 1956/66)

Der Amerikaner Colin Hooper will in London eigentlich nur spazierengehen, als ihn ein Platzregen dazu zwingt, in einem Türeingang Zuflucht vor der Nässe zu suchen. Aber der Eingang ist bereits von einer Frau besetzt. Als er sich eine Zigarette anzündet, bemerkt er ihr Gesicht – und starrt sie fassungslos an: Er hat sie vor wenigen Wochen in Australien gesehen! Damals hatte er nach der Trennung von seiner großen Liebe einen Nervenzusammenbruch und sah Gespenster. Ist sie auch so eines?

Aber nein, Vanessa Sheriff ist tatsächlich Australierin, eine Schauspielerin, die allerdings gerade arbeitslos ist. Sie ist ihm sympathisch, und er fragt sich gerade, ob er mit ihr den angebrochenen Abend verbringen könnte, als die Tür hinter ihnen aufgeht. Ein Mann mit einer tiefen Stimme lädt sie ein, in seinem Laden Zuflucht vor dem Regen zu suchen. Als sie zögernd eintreten, verblüffen die riesigen Perspektiven Colin wie Vanessa. Es ist, als beträte man eine riesige Halle. Eine breite Wand zieht ihre Blicke magisch an, denn darin bewegen sich jetzt Spiralen vom Rand ins Zentrum, immer wieder, bis der Geist darin ertrinkt…

Colin erwacht auf hartem Boden neben Vanessa. Wie kamen sie hierher? Dieses Hier ist nur eine Art Abstellkammer, doch die unverschlossene Tür führt direkt auf jene Gasse, die sie verlassen hatten. Als ein Bobby sie misstrauisch anstarrt, spielen sie Liebespaar. Er erwähnt, dass es zehn vor drei mitten in der Nacht sei und sie eigentlich ein Dach überm Kopf haben müssten. Colin erkennt bestürzt, dass er mit Vanessa sechs Stunden lang weg war – aber wo?

Nach einer schönen gemeinsamen Liebesnacht, die Colins Seele reinigt, taucht ein schräger Vogel an der Tür von Vanessas Wohnung auf. Es ist nicht Larry Adderly, dem die Wohnung eigentlich gehört, sondern ein völlig Fremder, der aber dennoch ihre Namen kennt. Und dieser Kolok warnt sie eindringlich, nicht zusammenzubleiben und zu verschwinden. Das wär ja noch schöner! Jetzt, wo sie sich gerade gefunden haben! Sie werfen ihn raus.

New York

Sechs Wochen später ist Colin in New York City und lauscht den Folkmusikern auf dem Washington Square. Fassungslos bemerkt er Vanessa – was macht sie hier? Nun, sie zumindest freut sich über das Wiedersehen. Sie habe den Filmregisseur Larry Adderly geheiratet und ihn auf seiner Reise hierher begleitet. Larry sei ein hohes Tier bei der mystischen Vereinigung der „Verkünder der Natürlichen Wahrheit“ und bereite hier eine Großversammlung vor. Die Gesellschaft verkünde die Glorie des menschlichen Geistes und das Kommen des Vollkommenen Menschen, erzählt Vanessa. Colin ist weniger überrascht als vielmehr sarkastisch amüsiert.

Nach einer weiteren Begegnung mit dem warnenden Mr. Kolok landen sie unversehens vor dem Hauptquartier von Larrys Gesellschaft, der sie auch gleich freundlich einlädt, der Versammlung beizuwohnen. Colin ist zu erschüttert von Koloks Warnungen und den schattenhaften Wesen, die er um diesen Typen herum gesehen zu haben glaubt, um sich der Einladung widersetzen zu können. Ein Fehler, wie sich herausstellt.

Larry zerrt sie in eine Art Gottesdienst, bei dem die Versammelten auf eine weitere rotierende Oberfläche starren, deren Muster sie hypnotisieren. Wenig später glaubt Colin, durch Millionen Sternenfelder zu schweben, doch dann wacht er unvermittelt neben einer hypnotisierten Vanessa auf – und erblickt abermals Kolok. Der bedeutet ihm, schnellstens von hier zu verschwinden und Vanessa mitzuunehmen, bevor jemand sie daran hindern könne.

Doch ihrer Flucht ist kein Glück beschieden. Die Odyssee hat gerade erst begonnen…

Mein Eindruck

Die Gesellschaft, die die „Verkünder der Natürlichen Wahrheit“ herbeiführen wollen, existiert in einem Paralleluniversum bereits. Der Autor stellt nämlich die Frage, wie eine Gesellschaft wohl aussähe, in der leistungsfähige Telepathen die Macht übernommen hätten. Colin unhd Vanessa finden die Antwort allzu rasch heraus, zu ihrem Leidwesen: Der mächtigste Telepath ist zugleich auch der brutalste und gewissenloseste von ihnen. Er nennt sich Telthis und verbrennt vor ihren entsetzten Augen einen seiner Soldaten. Nur zu Demonstrationszwecken, versteht sich. Der Autor weist somit die modischen Telepathen-Geschichten der SF als realitätsfremden Humbug zurück: Telepathen wären eine Bedrohung unserer Welt.

Der Tyrann gebietet über weniger mächtige Telepathen, die als „Adepten“ eine herrschende Schicht bilden. Zusammen beuten beide die völlig entrechtete Landbevölkerung aus, die ihnen Tribut entrichten muss. Colin und Vanessa sehen sie als Träger dieser Begabung als Bedrohung an und sollen sterben. Nun schicken sich Telthis und seine Adepten an, eine weitere Welt – unsere – zu erobern, um auch diese entsprechend auszuquetschen. Larry und ein telepathischer Meister haben die Sekte als fünfte Kolonne auf das Kommen des „Vollkommenen Menschen“ vorbereitet. Dreimal darf man raten, um wen es sich dabei handelt.

Der Autor betrachtet auch solche Sekten kritisch, wenn sie blindlings eine verborgene Wahrheit verkünden, Gehirnwäsche betreiben und Gehorsam verlangen. Wir wissen ja, was 1973 in Jonestown passiert ist: Eine ganze Sekte musste auf Geheiß ihres Führers Selbstmord begehen. Das Erscheinen des „Gottes“ Telthis handhabt der Autor jedoch höchst ironisch, und das Erscheinen des Tyrannen zeitigt unerwartete Folgen.

Der Autor verdammt Telepathie nicht in Bausch und Bogen als Bedrohung. Sie ist dies nur, wenn sie der Machtausübung und Unterdrückung dient. Sie kann aber auch eine Chance darstellen, so etwa für den verkrüppelten und blinden Jungen Ischimu. Mithilfe der Telekinese ist er trotz seiner fehlenden Beine in der Lage, sich rasch schwebend fortzubewegen – und andere dabei mitzunehmen. Doch in unserer Welt – für jede Welt gelten andere Gesetze – funktioniert seine Kraft nicht, so dass sich Colin und Vanessa fortan um ihn kümmern müssen, bis sie eigene Kinder haben.

Die Übersetzung

Auf Seite 75 wird der Leser durch eine krasse Verstümmelung verwirrt. Statt „Siegel“ heißt es nämlich „Signal“. Ein Briefkuvert wird geöffnet. „…als er das SIGNAL untersuchte, zeigte es keine Beschädigungen, und er war beruhigt.“

Fehlende Kommasetzung kann den heutigen Leser ebenfalls verwirren, so etwa auf Seite 104: „…in ein völlig fremdes Haus gebeten zu werden, von jemandem, der sich nicht sehen läßt, war doch wohl etwas mehr (,) als mit dem Wort ‚Zufall’ bezeichnet werden konnte.“

Im Eifer des Gefechts kann es schon mal vorkommen, dass der Satzbau durcheinander gerät. So auf Seite 151 unten, wo es heißt: „Aber obgleich er die Welt regiert, es ist (!) eine arme und primitive Welt, verglichen mit der unsrigen!“ So einen Satz kann man vielleicht SAGEN, aber nicht SCHREIBEN. Korrekt hieße es: „Aber obgleich er die Welt regiert, IST ES eine arme und primitive Welt…“

Deshalb ist man schon froh, wenn man wie auf Seite 118 ganz gewöhnliche Tippfehler wie „wogmöglich“ vorfindet.

Unterm Strich

Es ist den drei Geschichten anzumerken, dass ihre Ideen aus den fünfziger Jahren stammen, wenn auch der Autor später mehrfach an ihrem Erzählstil feilte. Zeitreise, eine Epidemie von den Sternen, Mutanten, ein Generationenraumschiff und schließlich mächtige Telepathen – all dies sind Ideen, die damls in Mode waren, aber heutzutage kaum mehr aufgegriffen werden.

Das soll aber nicht heißen, dass die Geschichten nicht unterhaltsam wären. Ganz im Gegenteil: Ganz besonders die erste Novelle ist ein wissenschaftlicher Thriller mit einer SF-Wendung, wie sie Brunner später mehrfach schrieb, so etwa in „Warnung an die Welt“, „Mehr Dinge zwischen Himmel und Erde“ sowie „Der Infinitiv von Go“. Selbst den Gedanken einer galaxisweit verbreiteten Epidemie hat er in „Das öde Land“ erneut aufgegriffen. Dabei scheut er sich nicht, Science-Fiction-Elemente mit Fantasy-Schauplätzen zu kombinieren. Eine „primitive“, mittelalterlich wirkende Gesellschaft hat vielleicht nur vergessen, dass sie vor Jahrhunderten über großartige Technik verfügte.

Auch die mehrfach bei Brunner wiederkehrende Idee der Dimensionstore taucht mehrfach auf, so etwa in „Die Epidemie“ und „Die Welt der Telepathen“. Dass bei diesem Autor mal Raumschiffe auftauchen und den Schauplatz darstellen, ist eher die Ausnahme als die Regel. Das macht seine SF so britisch. Raumschiffe sind ungeheuer teuer, was auf Kosten der irdischen Ressourcen und Ökologie geht. Und sie sind viel zu langsam, um die rasche Kolonisierung des Kosmos zu erlauben. Dimensionstore hingegen erlauben eine Reaktionsgeschwindigkeit, die der der irdischen Gesellschaft entspricht, mit allen Folgen, die das mit sich bringt.

Was in diesen frühen Novellen fehlt, sind hingegen die für Brunner charakteristischen Dialoge, die der Erkenntnisfindung dienen. In „Die Epidemie“ hält Borghum einen Monolog, der eher den Antworten in einem Verhör entspricht. In „Die Lungenfische“ – ein Symbol für die Übergangsphasen der Evolution – gibt es solche Dialoge gar nicht, sondern ebenfalls nur einen erklärenden Monolog. Im Kurzroman „Die Welt der Telepathen“ finden wir zahlreiche schöne Dialoge, doch die Erklärung aller Rätsel ist wieder mal ein Monolog, den diesmal Kolok hält. Schön fand ich hier, dass Colins Charakter sich weiterentwickelt, als er die Wahrheit über seine Albträume erfährt.

Für den SF-Sammler ergibt sich also insgesamt ein positives Gesamtergebnis. Die Stories sind so gut überarbeitet worden, dass sie ihre eigentliche Entstehungszeit nicht mehr verraten, sieht man von den Grundideen ab. Und im Kern finden sich bereits etliche von Brunners Markenzeichen wieder, so etwa die Dimensionstore, die eingehende Beschäftigung mit der Wissenschaft (daher auch der Begriff „SCIENCE Fiction“) und das Interesse an nicht kriegerischen Lösungen für Konflikte.

Ich war von diesem Erzählband deshalb positiv überrascht. Das einzige Manko bildete die stiefmütterliche Behandlung des Buches durch den Verlag. Da wird Brunner doch im Klappentext tatsächlich noch als AMERIKANISCHER Autor bezeichnet! Und auch das hohe Aufkommen an Druckfehlern sowie der fehlende Urhebernachweis für das schöne Titelbild trüben das positive Bild, das der Inhalt vermittelt.

Taschenbuch: 187 Seiten
Originaltitel: Entry to Elsewhen, 1972;
Aus dem Englischen von Walter Brumm
ISBN-13: 9783453303171

www.heyne.de

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