John Christopher – Das Tal des Lebens. Zukunftsroman

Hungerkatastrophe mit Hoffnungsschimmer

„Hunger bedroht die Welt… Ein Virus, das sämtliche Gras- und Getreidesaaten vernichtet, breitet sich, vom Fernen Osten kommend, unaufhaltsam über immer größere Gebiete der Erde aus. Wissenschaftler und Techniker stehen der Getreideseuche hilflos gegenüber. Jedes Gegenmittel versagt, die weltweite Katastrophe lässt sich nicht aufhalten.

Hunger regiert. Alle moralischen Schranken fallen. Raub, Mord und Vergewaltigung sind an der Tagesordnung. In diesem Chaos gibt es für nur wenige die letzte Zuflucht – das Tal des Lebens.“ (Verlagsinfo)

Das Buch aus dem Jahr 1956 erschien zuerst 1959 in deutscher Übersetzung im Gebrüder Weiss Verlag Berlin, und ein Exemplar dieser Hardcover-Ausgabe ist heute wohl mehrere hundert Euro wert. Die gekürzte Taschenbuchausgabe erschien zuerst 1971.

Der Autor

Christopher Samuel Youd wurde 1922 im englischen Lancashire während eines Schneesturms geboren. 1932 zog er mit seinen Eltern nach Hampshire. Schon in der Schule war er begeistert von Science-Fiction und als Jugendlicher veröffentlichte er bereits ein kleines Fanmagazin mit dem Namen „The Fantast“. Seine Lieblingsautoren waren Aldous Huxley und Arthur C. Clarke. Im Alter von 16 Jahren verließ er die Schule und arbeitete für die Stadtverwaltung.

Von 1941 bis 1946 diente Samuel Youd in den Fernmeldetruppen der britischen Armee. Nach dem Krieg erhielt er ein Stipendium der Rockefeller Foundation für angehende Autoren, deren Karriere durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen worden war. Dies ermöglichte ihm, seinen ersten Roman „The Winter Swa“n fertigzustellen. Das 1949 erschienene Buch war kein Science-Fiction-Werk.

Für den frisch verheirateten Familienvater reichte das Geld, das er als Autor verdiente, nicht aus. Er nahm eine Stelle im Auskunftsbüro eines Diamantenhändlers an. Schreiben konnte er nur noch in seiner Freizeit.

1954 erschien mit „The Twenty Second Century“, einer Sammlung von Kurzgeschichten, sein erstes Science-Fiction-Buch. Der erste Science-Fiction-Roman erschien 1955 unter dem Titel The Year of the Comet und hatte großen Erfolg, der bereits ein Jahr später von The Death of Grass (dt. Das Tal des Lebens) noch übertroffen wurde. „The Death of Gras“s wurde 1970 unter dem Titel der amerikanischen Ausgabe (No Blade of Grass) verfilmt. Der Film blieb erfolglos und wurde von der Kritik allgemein als sehr schlechte Umsetzung bezeichnet.

Seine Karriere erreichte 1966 einen entscheidenden Wendepunkt: Samuel Youd war mit seiner Situation unzufrieden und suchte eine neue Herausforderung. Sein Verleger schlug ihm vor, ein Science-Fiction-Buch für Kinder zu schreiben. Youd war nicht begeistert von der Idee, entschied sich aber nach einiger Überlegung dazu, The White Mountains zu schreiben – der erste Teil einer Trilogie, die unter dem Titel The Tripods (deutscher Titel: Die dreibeinigen Monster) zum weltweiten Erfolg wurde. Erschienen sind die Bücher unter dem Pseudonym John Christopher.

Nach langem Leidensweg verstarb John Christopher am 3. Februar 2012 in Bath an einer Blasenkrebserkrankung.

Handlung

Die beiden Brüder David und John Custance besuchen ihren Großvater Beverley in Cumberland. Er hat ein Gehöft in einem kleinen Tal, das von steilen Hängen umgeben ist, vom Fluss Lepe durchflossen und von einer schmalen Talenge abgeschlossen und geschützt wird. David fühlt sich hier gleich wie zu Hause, was seinen Großvater sehr glücklich, denn er sucht einen Nachfolger. John hingegen ist ein Erkunder und Forscher, der auch gleich bei der ersten Tour an die schmale Talenge ins Wasser fällt. Auf diese Weise kommt er einem Geheimnis des Flusslaufs auf die Spur.

25 Jahre später

John besucht David auf dessen Gehöft und ist überrascht, dass David immer noch nicht geheiratet hat. John selbst hat Ann zu seiner Frau gemacht und mit ihr zwei Kinder, Davey und Mary. Natürlich hört David Radio und dadurch auf dem laufenden, was in der Welt passiert. In China hat das neuartige Chung-Li-Virus viele Pflanzen befallen, die Reisernte vernichtet und so eine Hungersnot ausgelöst. Dieser sind inzwischen 200 Mio. Menschen zum Opfer gefallen. Doch wie erhofft, hat die Wissenschaft ein Gegenmittel gefunden. Isotop-717 hat vier der fünf Typen des Virus unschädlich gemacht.

Leider hat sich herausgestellt, dass Typ 5 wesentlich aggressiver als ist: Es befällt sämtliche Grünpflanzen, also auch Futterpflanzen für die Tiere. Typ 5 ist offenbar nicht aufzuhalten – und ist bereits in England angekommen. David berichtet nun, dass er trotz des Verbots der Regierung Kartoffeln und Rüben anbauen wird. er lädt Johns Familie ein, bei ihm Zuflucht zu suchen. Denn er werde das Tal sobald wie nötig abriegeln.

Johns alter Schulfreund Roger Buckley, selbst mit einer Familie versehen, ist der Pressesprecher eines Ministeriums. Trotz seiner zynischen Art verspricht er John, ihn auf dem laufenden zu halten. Denn die Regierung ist mehr an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung interessiert, als daran, die schreckliche Wahrheit zu verbreiten: Dass es gegen Typ-5 kein wirksames Gegenmittel gibt. Roger bittet John, auf die Reise zu Davids Tal mitkommen zu dürfen, sollte es nötig sein. John willigt natürlich ein. Ann kann nicht glauben, dass die Dinge sich dramatisch entwickeln werden, denn bislang hat die Wissenschaft immer Hilfe gebracht.

Flucht in die Berge

Doch nicht diesmal. Schon am nächsten Tag, als die kleine Gruppe nach Norden ins Tal aufzubrechen versuchen, haben Militärtruppen Straßensperren errichtet. Der Grund leuchtet John nicht ein, aber ihm wird klar, dass er nur unter Waffengewalt an den Soldaten vorbeikommen wird. Und wer weiß, welche Leute auf dem Lande warten. Er will ein Gewehr bei einem Waffenhändler kaufen, doch Mr. Pirrie will mitsamt seiner Frau Millicent lieber mitkommen – mitsamt dem kompletten Arsenal. Weil er außerdem ein sehr guter Schütze ist, wie er sagt, darf er sich Johns Gruppe anschließen. Zusammen gelingt es ihnen, die Straßensperre zu durchbrechen und das offene Land zu erreichen.

Weil sie aber damit rechnen, dass die Regierung sämtliche Autobahnen, die nach Norden führen, sperren und überwachen lässt, weichen sie auf die Neben- und Landstraßen aus. Rauch steigt aus einem Dorf nach dem anderen auf, während sie sich den Pennines nähern, wo die Passhöhe liegt, durch sie nach Cumbria gelangen wollen. In einem Haus oder Hofanwesen wollen sie um Proviant bitten, doch die meisten sind bereits geplündert. Und Leichen belegen, dass hier keine Bettler am Werk waren, sondern bewaffnete Banditen. Mehr als einmal muss Pirrie seine Schießkünste unter Beweis stellen.

Doch einmal werden sie überlistet. Ann und ihre Tochter Mary werden von einem Banditen entführt. Nach ihrer Befreiung, die den Banditen das Leben kostet, ist Mary unerklärlich verändert. Ann will nicht mit der Sprache herausrücken, denn über so etwas Intimes spricht man nicht. Als sie einer entgegenkommenden Gruppe von Flüchtlingen begegnen, kommt es zum Streit mit deren Anführer. Pirrie erschießt ihn kurzerhand. Die Überleben bitten Johns Gruppe, sich ihr anschließen zu dürfen. Nach einer Diskussion dürfen sie mit, vorausgesetzt, sie erkennen John als unangefochtenen Führer an. Ann erkennt ihren Mann kaum wieder. Dieser wird von Millicent Pirrie bewundert und umgarnt. Pirrie erschießt auch sie.

Doch dann scheint sie das Glück zu verlassen. Während Pirrie mit einer jungen Geliebten auf amourösen Abwegen unterwegs ist, wird Johns stark erweiterte Gruppe von bewaffneten Männern entwaffnet und ausgeplündert. Schon werden die jungen Frauen aussortiert, um sie als Sklavinnen mitzunehmen. Wo ist Pirrie, wenn man ihn braucht?

Mein Eindruck

Die Engländer sind Spezialisten für Katastrophen. Man denke nur an H.G. Wells und seine Vorgänger sowie an Nachfolger wie John Wyndham. Sie alle warnten vor Fehlentwicklungen wie etwa Klimawandel („Der Krake erwacht“), vor Invasionen („The Battle of Dorking“, „Krieg der Welten“) oder verstanden es, eine Katastrophe als Metapher für eine Fehlentwicklung zu verwenden. Das tat H.G. Wells mit „Krieg der Welten“, in dem man nur die Marsianer durch die britischen Kolonialherren zu ersetzen braucht, um die Handlung zu entschlüsseln.

Nun also Hunger. Es fing – mal wieder – in China an, dass sich das Virus, das die Blattpflanzen angreift, entstand und sich ausbreitete. Typ-5, quasi die Omikron-Mutante, lässt dem Menschen keine Chance mehr. Demzufolge ist allen in England und seinen Inseln klar, dass sehr viele Menschen, denen das Getreide fehlt, verhungern werden. Nun gilt nur noch das Faustrecht, es sei denn, das Militär errichtet umgehend eine Diktatur. In zahlreichen Details zeichnet der Roman die rasche Entwicklung nach. Dazu gehört beispielsweise, dass die Regierung die Bevölkerung anlügt und zur Ruhe aufruft, während sie heimlich bereits den Exodus und die Diktatur plant.

Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer und die Hoffnung das letzte. Deshalb versuchen John Custance, seine Familie und die sich anschließenden Paare und Gruppen dem Untergang der Welt zu entgehen und im titelgebenden Tal eine Zuflucht zu finden und es zu verteidigen. Doch der Leser ahnt schon, dass es nicht so leicht sein wird, diesen Israelitenstamm ins Gelobte Land zu führen. Tatsächlich ist der schmale Zugang versperrt und von Banditen verteidigt, die jeden abknallen, der ihnen nicht fernbleibt. Doch John erinnert sich an sein Jugendabenteuer im wilden Flusses. Damit gelingt es ihm schließlich, die Verteidiger zu überwinden.

Viel Action

Die Handlung mag durchaus actionreich sein und dürfte selbst ungeduldige Leser zufriedenstellen. Doch das ist nicht der Grund, warum die Kritiker, Zunftkollegen (Brian Aldiss & Co.) und Leser anno 1956 so begeistert auf dieses Buch reagiert haben. Wieder mal geht England – das „grüne und angenehme Land“ (William Blake) – unter, doch die Methode seiner Verteidigung erscheint uns Heutigen doch etwas dubios. Die Zeit mag ja die Gegenwart sein, doch die Handlungsweisen entsprechen dem Mittelalter. Umherstreifende Marodeure nehmen sich, was schwächer ist als sie selbst: Lebensmittel, Land, Frauen usw.

Es muss einen Anführer der Guten geben, und diesen Moses-Posten reklamiert John für sich. Ann wundert sich sehr, wie sehr sich ihr Mann verändert und wagt es als gleichberechtigte Partner, Zweifel an der Notwendigkeit dieses Status anzumelden. Diese Frage sollte sich auch der Leser immer wieder stellen: Ist Autorität nötiger als einvernehmliche Demokratie? Nun, die demokratisch gewählte Regierung belügt und verschaukelt die Bevölkerung: Sie bereitet eine Militärdiktatur vor. Die Demokratie ist damit diskreditiert.

Wohlwollende Tyrannei

Die Frage, ob es wohlwollende Tyrannei einer Autoritätsperson geben sollte, wird ebenfalls bald beantwortet. Es ist der despotische Anführer einer großen Flüchtlingsgruppe, den Pirrie niederschießt, der keinen Widerspruch duldet. John genehmigt diese Tötung und verteidigt sie gegenüber der erschütterten Ann. Doch John führt kein einziges Mal die nicht zu leugnende Tatsache als Argument an, dass Ann den Entführer und Vergewaltiger ihrer Tochter Mary selbst mit mehreren Schüssen ins jenseits befördert hat. Dieses Argument zu verwenden, hieße, Ann mundtot zu machen. Und das erlaubt der Autor seinen beiden Hauptfiguren nicht.

Die letzte Nagelprobe auf die Frage nach dem nötigen Maß an Autorität, um überleben zu können, liefert David Custance, Johns Bruder. Er ist bekanntlich Bauer, nicht Soldat oder Ingenieur. Da es ihm an waffenmäßiger Widerstandskraft gefehlt hat, war es den Banditen leichtgefallen, ihn – und eventuelle Knechte – zu überwältigen. Es sieht also ganz so aus, als ob nicht nur Waffen nötig seien, um zu überleben, sondern auch der Wille, sie zu benutzen – und so auch andere dazu zu bringen, Waffen einzusetzen.

Die Übersetzung

Die Übersetzung aus dem Jahr 1959 ist stilistisch völlig veraltet. Sie hätte genauso gut gleich nach dem Ende des Krieges verfasst worden sein können, vgl. S. 94. Wahrscheinlich wurde sie auch gekürzt.

S. 80a: „Ich mache den Schluss, Charlie.“ Es gibt keinen Charlie in Johns Gruppe.

S. 80b: „der Garagenbesitzer“: Anno 1959 hießen Tankstellen und Autowerkstätten noch „Garagen“. Gemeint ist also ein Tankstellenpächter.

S. 94: “ Sie hatten in einer Zeit der Gesittung gelebt, deren Normen fast 4000 Jahre zurückverfolgt werden konnten.“ Der Ausdruck „Gesittung“ ist heute in Vergessenheit geraten. Was vor 4000 Jahren gewesen soll, wissen wohl nur die Ägypter und Sumerer.

Unterm Strich

Ich habe den Roman in wenigen Stunden gelesen. Die Handlung ist trotz der veralteten Sprache leicht zu verstehen, und sie folgt einer inneren Logik: Die Aktionen müssen immer gewalttätiger werden, weil der Widerstand, der den Flüchtlingen vor dem titelgebenden Tal entgegengebracht wird, heftiger wird. Dort findet denn auch das Finale statt, über das hier nicht mehr verraten werden darf.

Idylle

Manche Kritiker fanden, dass die mehrmalige Beschwörung des „grünen und angenehmen Landes“, das einst William Blake (in „Jerusalem“) besang, eine romantische Sehnsucht nach einer bukolischen Idylle bekunde. Ich denke, dass diese Beschreibung nur den geringsten Teil des Erzählung ausmacht. Vielmehr hat mich der Roman an John Seymours prophetisches Werk „Die Lerchen singen so schön“ (das nie in UK erschien) erinnert. Darin geht es ebenfalls ziemlich militärisch und actionreich zur Sache.

Am Schluss behalten bei Seymour, dem Verfechter der ökologischen Autarkie, die gut organisierten Milizen der Bürger gegenüber den Soldaten und den Banditen die Oberhand und gründen eine neue Art der Zivilisation, die auf Kooperation und Teilen basiert. Und sie haben viel größere Chancen: Sie haben Frauen, die an ihrer Seite kämpfen und Kinder zur Welt bringen. Im letzten Absatz des Romans steht das Signalwort „Familie“.

Der Kodex

Dass es die Aufgabe der Männer ist, diese Familien zu schützen, wird selten gesagt, ist aber die Botschaft in allen Kämpfen. Das verbotene Wort „Vergewaltigung“ wird umständlich umschrieben, aber Johns Tochter Mary erleidet offenkundig dieses Schicksal. John ist deshalb entschlossen, alle Frauen in seiner anschwellenden Flüchtlingsgruppe zu verteidigen. Er hat einen Ehrenkodex, doch der verhindert, dass er zu einem Despoten wird. Auf diesem schmalen Grat zwischen Ehre und Brutalität wandeln alle Männer, die der Autor auf die probe stellt. Pirrie besteht die finale Probe nicht…

Jezebel

Dass die Probe auch für Frauenfiguren gilt, liegt auf der Hand. Ann muss auf die harte Tour lernen, worin ihr Beitrag besteht. Sie ist das Alphaweibchen in Johns Gruppe. Als Millicent Pirrie ihr diese Rolle streitig macht, indem sie sich dem Alphamännchen John verführerisch anbietet, nimmt das ein böses Ende für sie. Ist das gerechtfertigt, mag sich der Leser und die Leserin fragen. Es kommt auf die Umstände an. Millicent hat das Recht jeder Frau, sich den kräftigsten Mann für ihren Nachwuchs zu erwählen. Diese Wahl muss sie verteidigen. Ihr derzeitiger Mann ist not amused.

Die Warnung

Den Chung-Li-Virus mit dem Covid-19-Virus gleichzusetzen, liegt nahe. Die Warnung ist die Grundlage, und wenn das Covid-19-Virus sämtliche Haustiere angreift und tötet, wird es eng für die Menschen. Analog dazu wird es für die Chung-Li-Opfer eng: Die Haustiere haben kein Futter mehr und verhungern, und wenn Menschen von den verbliebenen Pflanzen leben wollen, müssen sie auf Kartoffeln und Hülsenfrüchte (Erbsen usw.) zurückgreifen. In unserer Zeit fehlt also nicht mehr viel, um auch uns die Lebensgrundlage zu entziehen. Aber wie gesagt: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Taschenbuch: 175 Seiten
Originaltitel: The Death of Grass (UK) / No Blade of Grass (USA), 1956.
Aus dem Englischen von Gerhard Thebs.

www.heyne.de

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