John Dickson Carr – Das umgekehrte Kreuz

Carr Kreuz Cover Ullstein 1973 kleinDas geschieht:

Die alte, selbstgerechte und vor allem reiche Mrs. Mildred Taylor hat das Zeitliche gesegnet. Ursache waren weder ihr Übergewicht oder ihr Hang, Pillen wie Bonbons zu vertilgen, sondern eine gewaltige Überdosis des Giftes Antimon, mit dem Mildreds Verdauungssalz ausgetauscht wurde. Der Verdacht fällt auf Joyce Ellis, Mildreds vielgeplagte Gesellschafterin, mit der sich ihre Herrin am Vortag heftig gestritten hatte; Mildred drohte sogar, Joyce aus ihrem Testament zu streichen.

Hier sieht die Polizei den Auslöser der bösen Tat und verhaftet Joyce, die am Galgen zu enden droht. Da sich Charles Denham, Mildreds Anwalt, für die junge Frau interessiert, bittet er seinen Freund, den Star-Verteidiger Patrick Butler, um Hilfe. Der sagt zu, obwohl er persönlich von der Schuld der Angeklagten überzeugt ist – eine Herausforderung, die ihn anstachelt, sie im Rahmen einer aufsehenerregenden Gerichtsverhandlung freizubekommen.

Noch am Tag des Freispruchs wird Denham abermals bei Butler vorstellig: Lucia Renshaw, Mildred Taylors Nichte, soll ihren ehebrecherischen Gatten Richard umgebracht haben, weil dieser einer Scheidung nicht zustimmen wollte. Wiederum kam Antimon zum Einsatz, doch dieses Mal ist Butler von der Unschuld seiner Klientin überzeugt, in die er sich auf den ersten Blick verliebt hat.

An diesem Punkt mischt sich Dr. Gideon Fell, der berühmte Privatermittler, in den Fall ein. Er sieht zumindest den Mord an Richard Renshaw als Steinchen eines bizarren Mord-Mosaiks: In den vergangenen drei Monaten sind neun Menschen durch Gift umgekommen! Fell sieht einen Serienkiller am Werk, der Mordlust und Geldgier auf geschickte Weise zu kombinieren weiß. Gemeinsam mit Butler begibt er sich auf die Suche nach dem oder der Unbekannten, doch wie es seine Art ist, sagt er seinem Mitstreiter längst nicht alles und bringt diesen in Lebensgefahr …

Zeiten ändern sich

Mit dem Zweiten Weltkrieg neigte sich die Ära des klassischen Rätselkrimis dem Ende zu. Zwar verschwand er niemals, aber er rückte in den Hintergrund. Bereits in den 1930er Jahren hatte der „Hard-Boiled“-Krimi das Element der oft wenig romantischen Realität in den Kriminalroman gebracht. Der Krieg und die damit einhergehenden Umwälzungen förderten die Desillusionierung. Der „schwarze“ Krimi der Nachkriegszeit vertrat eine beinahe zynische Weltsicht. Verrat, Gier, Bosheit um der Bosheit willen: Mit der „Whodunit“-Gemütlichkeit hatten diese Geschichten nichts mehr am Hut.

John Dickson Carr war 1949 einerseits ein Großmeister des Krimi-Rätsels. Ihm verdankte das Genre einige seiner abenteuerlichsten, wunderbarsten und spannendsten Plots. Anderseits war Carr als Autor ein buchmarktorientierter Profi sowie noch jung genug, etwas Neues auszuprobieren. „Das umgekehrte Kreuz“ dokumentiert, wie dieser Versuch gleichermaßen gelang wie missglückte.

Im Fernsehen wird eine neue Serie oft im Rahmen einer bereits ausgestrahlten Reihe ausprobiert. So etwas nennt man „Backdoor-Pilot“. Der Zweck besteht darin, einen zuschauerbeliebten Rahmen zu nutzen, um Interesse für einen ‚Ableger‘ zu wecken. Möglicherweise plante Carr mit „Das umgekehrte Kreuz“ Ähnliches. Er stellte dem etablierten Dr. Gideon Fell eine gleichwertige Figur an die Seite. Das war neu: Selbst wenn Fell sich oft rar machte und erst in der zweiten Handlungshälfte in Erscheinung trat, war er bisher der Platzhirsch am Tatort. Das änderte sich nun deutlich.

Neuer Held für neue Zeit

Patrick Butler war ein zeitgemäßer Charakter: jung, dynamisch und auch moralisch so flexibel, wie es die neue Zeit erforderte. Butler ist ein Frauenheld, der ganz sicher nicht daran denkt, seinen weiblichen Begleitern umgehend die Ehe anzudienen; umgekehrt sind diese Frauen nicht mehr ganz so passiv und fügsam wie in früheren Carr-Werken, in denen sie vor allem gerettet werden mussten.

Dank des jüngeren Helden geht es mehrfach sogar dramatisch zur Sache: Butler muss sich aus einem gaunerverseuchten Nachtclub freikämpfen, es gibt Verfolgungsjagden, und das ebenfalls actionbetonte Finale findet in einer brennenden Kapelle statt. Für solche handfeste ‚Action‘ war Dr. Fell viel zu alt und zu unbeweglich.

Schließlich macht Butler aus seinem Herzen keine Mördergrube. Er stößt die würdigen Repräsentanten älterer Generationen für ihre ranzig gewordenen Gewohnheiten und Ansichten gern vor die Köpfe. Außerdem empfindet Butler seinen Beruf als Verteidiger nicht als Verpflichtung, dem Recht zu dienen, sondern als sportliche Herausforderung. Eindeutig schuldige Klienten sind ihm gerade lieb, denn sie stacheln seinen enormen Ehrgeiz an. Er bekommt sie frei, ohne sich über die moralische Seite seines Tuns Gedanken zu machen. Notfalls biegt er das Gesetz, manipuliert Aussagen oder manövriert unsichere Zeugen aus. Der Sieg ist Butlers Lebenselixier.

Raum für den alten Meister

In dieser Hinsicht gibt es eine Übereinstimmung mit Dr. Fell. Dieser sinniert an einer Stelle selbst laut darüber nach, dass er notfalls Indizien so arrangiert, dass sie den von ihm gewünschten Effekt zeitigen. Allerdings trickst Fell aus moralischen Gründen: Ihm geht es stets um die Gerechtigkeit, die – Patrick Butler beweist es – mit dem niedergeschriebenen Recht nicht immer korrespondiert und zu kurz kommt. Fell urteilt archaisch, und ihm ist der Aspekt der Rache keineswegs unbekannt. Dieser Charakterzug macht ihn gefährlich, wo Butler sich nur an seinem taktischen Geschick erfreut. Er will Lucia Renshaw aus persönlichen Motiven helfen, Fell dagegen einen Fall lösen. Auch er hält Lucia für unschuldig. Wäre sie es nicht, hätte er kein Problem damit, sie an den Galgen zu bringen – es wäre wahrlich nicht der erste Schurke, den er dorthin schickt!

Über zwei Drittel der Handlung behält Carr sehr gut die Balance zwischen Fell und Butler, zwischen Krimi-Klassik und Moderne. Dann jedoch verlässt ihn entweder sein Mut oder sein Einfallsreichtum. Die Geschichte macht eine Rolle rückwärts in die Zeit, verliert die Bodenhaftung und verwandelt sich in ein Schauermärchen, denn plötzlich geht es um die Machenschaften eines serienmörderischen Satanisten-Zirkels!

Das war keine gute Idee und sorgt für Verwunderung. Carr liebte alte Burgen und einsame Landsitze, denen er gern mit gruseligen Anekdoten düstere Vergangenheiten schuf. Nie ließ er jedoch den Kriminalfall ins Übernatürliche abgleiten, so unheimlich es in stürmischen Nächten auch umgehen mochte. Selbst die in Kollegenkreise sehr beliebten Geheimtüren oder -gänge verschmähte Carr spätestens dann, wenn die finale Auflösung anstand: Menschen begehen Verbrechen, und sie bedienen sich dabei diesseitiger Methoden.

Das Problem der Übertreibung

„Satanisten“ gibt es zwar, doch sie sind realiter weder so gut organisiert noch so böse (oder helle), wie Carr es hier postuliert. Der von ihm enthüllte Zirkel zerbricht jenen Ernst, den selbst ein Rätselkrimi benötigt, um seine Wirkung zu entfalten. Carr steht zudem vor dem Problem, die Verworfenheit dieser Organisation nur andeuten zu können: Deutliche Worte waren in der zeitgenössischen Unterhaltungsliteratur unmöglich. Schon die Erwähnung einer nackten Frau als ‚lebendiger Altar‘, zur Sprache gebracht durch Dr. Fell, lässt die Zuhörer empört einen Themawechsel verlangen.

Nie gelingt es Carr, die Aspekte des Satanismus‘ mit den mörderischen Aktivitäten des Zirkels in Einklang zu bringen. Deshalb wirken die schließlich demaskierten Teufelsanhänger eher lächerlich als gefährlich oder gar abgrundtief böse. Unfreiwillig konterkariert Carr selbst dieses Wunschbild, indem er beispielsweise einen satanistischen Buchhalter die Untaten der Gruppe sorgfältig dokumentieren lässt.

Das Finale ist zwar turbulent aber trotzdem lau: In der brennenden Teufels-Kapelle rauft Butler mit einem Schergen der höllischen Brut, während Fell und seine Begleiter ahnungslos im Freien warten. Die Hauptfigur einer eingeführten Serie lässt man nicht so dumm dastehen. Da hilft es nicht, dass Dr. Fell nachträglich ausführlich erklären darf, was eigentlich geschehen ist. Der eigentliche Schaden ist ohnehin angerichtet: Der Plot eines Rätselkrimis darf und sollte kurios und kompliziert sein, aber er muss in eine ‚realistische‘ Handlung eingebettet werden!

Falls Carr an eine Übergabe des Staffelholzes gedacht hatte, besann er sich klugerweise eines Besseren und gab dem altmodischen aber profilstarken Fell den Vorzug vor dem jungen aber beim Publikum wohl nicht sehr gut ankommenden Butler. Ganz von ihm lassen wollte Carr aber nicht und ließ ihn 1956 in „Patrick Butler for the Defense“ (dt. „Der Zauberer“) noch einmal auftreten.

Autor

John Dickson Carr (1906-1977), der so wunderbare englische Kriminalromane schrieb, wurde im US-Staat Pennsylvania geboren. Europa hatte es ihm sofort angetan, als er 1927 als Student nach Paris kam. Carrs lebenslange Faszination richtete sich auf alte Städte, verfallene Schlösser, verwunschene Plätze. Die fand er nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland und Großbritannien, die von ihm eifrig bereist wurden.

1933 siedelte sich Carr in England an, wo er bis 1965 blieb. Volker Neuhaus weist in seinem Nachwort zur „Die schottische Selbstmordserie“ (DuMont’s Kriminal-Bibliothek Bd. 1018) darauf hin, dass seine Kriminalromane so lebendig und scharf konturiert wirken, weil hier ein Fremder seine neue Heimat erst entdecken musste und ihm dabei Dinge auffielen, die den Einheimischen längst zur Selbstverständlichkeit geworden waren.

Carr fand schnell die Resonanz, die sich ein Schriftsteller wünscht. Ihm kam dabei zugute, dass er nicht nur gut, sondern auch schnell arbeitete. Obwohl ihm kein ausgesprochen langes Leben vergönnt war, verfasste Carr ungefähr 90 Romane – übrigens nicht nur Thriller. Seine Biografie des Sherlock-Holmes-Vaters Arthur Conan Doyle wurde 1950 sogar mit einem Preis ausgezeichnet. Da hatte man ihn bereits in den erlesenen „Detection Club“ zu London aufgenommen, wo er an der Seite von Agatha Christie, G. K. Chesterton (der übrigens das Vorbild für Gideon Fell wurde) oder Dorothy L. Sayers thronte. 1970 zeichneten die „Mystery Writers of America“ Carr mit einem „Grand Master“ aus; die höchste Auszeichnung, die in der angelsächsischen Krimiwelt vergeben wird.

Zu John Dickson Carrs Leben und Werk gibt es eine Unzahl oft sehr schöner und informativer Websites; an dieser Stelle sei daher nur auf verwiesen, die dem Rezensenten ganz besonders gut gefallen hat: www.jdcarr.com

Taschenbuch: 192 Seiten
Originaltitel: Below Suspicion (New York : Harper & Brothers 1949/London : Hamish Hamilton 1950)
Übersetzung: N. N.
www.fischerverlage.de

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