John Dickson Carr – Das verhexte Haus

Carr Verhextes Haus Cover kleinDas geschieht:

Nach einem erfolgreichen Berufsleben plant Fabrikant Martin Clarke, sich in England zur Ruhe setzen. Er will unbedingt ein echtes Spukhaus erwerben und hat Glück: Longwood House, erbaut 1605 in der Grafschaft Essex, gilt als verflucht, nachdem dort 1820 der Arzt und Alchimist Dr. Norbert Longwood unter mysteriösen Umständen zu Tode kam. Ein Jahrhundert später erschlug ein riesiger Kronleuchter einen unglücklichen Diener. Seither steht das Haus leer.

Im Frühsommer des Jahres 1937 zieht Clarke ein und lädt sechs Gäste zu einer „Gespenstergesellschaft“. Der Autor Robert Morrison wird von seiner Braut Tess Fraser begleitet, der Geschäftsmann Archibald Bentley Logan von seiner Gattin Gwyneth. Mit dabei sind außerdem der Architekt Andy Hunter und der Anwalt Julian Enderby.

Die Zusammenkunft steht von Anfang an unter einem Unstern. Tess wird von einer Geisterhand am Fußknöchel berührt, Morrison von Logan in der Nacht mit einem Revolver bedroht: Er hält ihn für den Liebhaber, mit dem Gwyneth ihn seit einiger Zeit betrügt. Am nächsten Morgen stürzt Logan im Arbeitszimmer des Hauses von einer Kugel aus der eigenen Waffe in den Schädel getroffen zu Boden. Außer Gwyneth war nachweislich niemand bei ihm, und sie behauptet, der Revolver sei durch die Luft geschwebt und von einem Unsichtbaren abgefeuert worden.

Inspektor Elliot von Scotland Yard übernimmt den Fall. Begleitet wird er von einem alten Freund, dem berühmten Privatdetektiv Dr. Gideon Fell. Dieser enthüllt schon bald eine Todesfalle, die Logan gestellt wurde. Fingerabdrücke hat der Mörder nicht hinterlassen. Sämtliche Gäste und der Gastgeber sind verdächtig. Zu Elliots Verwunderung interessiert sich Fell dennoch mehr für die Vergangenheit von Longwood House als für die mörderische Gegenwart. Hier liegt der Schlüssel zu einem diabolischen Racheplan, der noch längst nicht zu Ende geführt ist …

Keine/r kann aber eine/r muss es gewesen sein

Der unmögliche Mord im von innen verschlossenen Raum ist eine Herausforderung, der sich Autoren trotz oder gerade wegen der damit verbundenen Einschränkungen immer wieder gestellt haben. Das betreffende Gemach wird aller Einrichtungsmerkmale entkleidet, die der begangenen Untat eine Erklärung liefern könnten. Betont übersichtlich geht es deshalb auch in Martin Clarkes Arbeitszimmer zu, wo seinen Gast das Ende ereilt: Die Flucht ins Übernatürliche ist im „Whodunit“ und erst recht im „Locked Room Mystery“ tabu. Verfasser John Dickson Carr bringt es selbst auf den Punkt, als er seinen Detektiv u. a. so über das Rätsel eines scheinbar aus dem Nichts begangenen Mordes sprechen lässt: „Es wird viel Unsinn geredet über Geheimgänge, Versteckwinkel und unsichtbare Türen. Sehr selten ist es Wahres daran. Zuerst einmal muss ein Mann mit gesundem Menschenverstand sich doch fragen, wozu so etwas in einem Haus überhaupt dienen sollte.“ (S. 91/92)

Damit betont Carr, dass er fair spielen will: Der Leser kennt die Indizien, die ihm peu à peu mitgeteilt werden. Theoretisch bleibt ihm die Chance, mit oder sogar vor Gideon Fell den Fall zu lösen. Praktisch bemüht sich der Autor selbstverständlich, sämtliche Spuren zu verwischen und sein Publikum zu verwirren. Das funktioniert auf natürliche Weise, indem sich die Figuren menschlich geben, d. h. selbst dann lügen oder schweigen, wenn sie die Bluttat nicht begangen haben.

Carr setzt unverdrossen dennoch alles daran, das einsam irgendwo in Küstennähe gelegene Longwood House in ein Gruselschloss zu verwandeln. Dazu gehört eine entsprechende Vorgeschichte voller düsterer, nur angedeuteter Schaurigkeiten. Das Mysterium eines Kronleuchters, der zur Todesfalle wurde, weil ein uralter Mann ihm in die Arme sprang und in allzu heftige Schwingungen brachte, ist eine typische Carr-Flause – bizarr und unheimlich aber dennoch simpel und vor allem diesseitig zu erklären.

Tricks sind gestattet & werden erwartet

Carr liebte das Schaurige, ohne es in seinen Krimis triumphieren zu lassen. In seiner großen Zeit, die etwa bis 1950 währte, oszillierte er mit meisterlichem Geschick zwischen scheinbarem Spuk und krimineller ‚Realität‘. „Das verhexte Haus“ entstand 1940 und damit in der Spätphase des klassischen Rätselkrimis, der Form und Handwerk der ursächlichen Psychologie des Geschehens mindestens gleichrangig an die Seite stellte.

Deshalb ist die Umständlichkeit eines Mordplans, der wesentlich unkomplizierter in die Tat umzusetzen wäre, kein Hindernis. Das spielerische Element wird von der Leserschaft erwartet und kann gar nicht kurios genug ausfallen, solange es logisch nachvollziehbar bleibt. In diesem Punkt wird der Leser freilich auf eine harte Probe gestellt. Was sich Carr einfallen lässt, um einen ‚schwebenden‘ Revolver ohne stützende Geisterhand zu realisieren, beugt die Naturgesetze mächtig, damit der Trick funktioniert.

Auch das geht in Ordnung, weil es Teil des Geschäfts ist, das Autor und Leser abgeschlossen haben: Ersterer soll letzteren unterhaltsam verwirren. In diesem Punkt muss sich Carr keine Vorwürfe machen. Er kann es sich deshalb erlauben, das Geschehen ironisch zu brechen, um beispielsweise kleine Spitzen gegen beliebte Krimi-Klischees abzufeuern: „Ich habe mich immer über die Detektivgeschichten gewundert, in denen der Erzähler stets und überall dabei ist. Ohne ersichtlichen Grund hält er sich stets dort auf, wo etwas los ist, und die Polizeibeamten dulden stillschweigend seine Anwesenheit. Meine Verwunderung bestand zu Recht, denn in der Wirklichkeit geht es anders zu. Gerade als Julian Enderby sich anschickte, eine interessante Eröffnung zu machen, wurde ich aus dem Zimmer geschickt.“ (S. 111) Der Leser durchschaut den Trick – er wurde gerade auf die Folter gespannt – und ist dennoch oder gerade deshalb amüsiert!

Der Staub der Geschichte

Problematischer ist die Figurenzeichnung, denn auf ihr haftet der Staub, den der Leser sonst um der Stimmung willen sogar schätzt, nicht nur dick sondern erstickend. Wie bei Carr üblich, bleiben die Männer weitgehend verschont, obwohl um der scheinbaren Ehre willen heute absurd wirkender Aufwand getrieben wird. Ich-Erzähler Robert Morrison leistet seinen Job und berichtet, was in Longwood House geschieht. Ansonsten ist er ein Mann ohne besondere Eigenschaften, die er in seiner Funktion auch nicht benötigt.

Für die Auffälligkeiten ist Gideon Fell zuständig, obwohl sich dieser heuer erstaunlich zurückhält. Er poltert und prustet weniger lautstark als sonst durch die Handlung. Nur sein Hang zur Heimlichtuerei ist ungebrochen. Den benötigt Fell auch deshalb, weil er abermals nicht widerstehen kann, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen.

Den Frauen bleibt die Rolle des patenten „Mädchens“, in die hier Tess Fraser schlüpft, bzw. die der nervenschwachen Schönheit, die vor der Realität behütet, d. h. geheiratet und mit Samthandschuhen angefasst werden muss, weil sie sonst in Tränen ausbricht, in Ohnmacht fällt und auch sonst dem Leser der Jetztzeit ordentlich auf den Wecker fällt.

Als weiteres deutliches Zeichen für das Alter dieser Geschichte gilt, dass der aus dem Gewalttod entstehende Skandal von den Betroffenen mehr gefürchtet wird als der eigentliche Mordverdacht: Selbst der Ruf eines nachweislich Unschuldigen konnte 1939 auf diese Weise befleckt und zerstört werden. Diskretion ist deshalb wichtiger als die Wahrheit. Um diese triumphieren lassen, gibt es Gideon Fell, der hinter den Kulissen skrupelarm dafür sorgt, dass die neugierige Öffentlichkeit ahnungslos bleibt. Wo sogar er hilflos bleibt, springt in der Regel das Schicksal ein, das dem straffrei entkommenen Bösewicht notfalls mit einem Blitzstrahl fällt oder anderweitig (hier ist es ein Nazi-Torpedo) zur Rechenschaft zieht.

Obwohl „Das verhexte Haus“ nicht zu den ganz großen Carr-Kriminalromanen gehört, bleibt der Inhalt unterhaltsam genug, um den Wunsch nach einer Neuausgabe aufkeimen zu lassen. Für ein viele Jahrzehnte altes Buch ist das kein schlechtes Urteil. Aber „Das verhexte Haus“ ist überhaupt nur zweimal erschienen. Immerhin hat es den Anschein, dass die Ullstein-Ausgabe – vor diesem Verlag muss der Freund alter Krimis viel zu oft gewarnt werden! – nicht oder nur wenig gekürzt wurde. Das ist wichtig, weil selbst antiquarisch kaum eine Chance besteht, jenseits absurder Horror-Preise an die deutschsprachige Erstausgabe von 1943 (!) zu kommen.

Autor

John Dickson Carr (1906-1977), der so wunderbare englische Kriminalromane schrieb, wurde im US-Staat Pennsylvania geboren. Europa hatte es ihm sofort angetan, als er 1927 als Student nach Paris kam. Carrs lebenslange Faszination richtete sich auf alte Städte, verfallene Schlösser, verwunschene Plätze. Die fand er nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland und Großbritannien, die von ihm eifrig bereist wurden.

1933 siedelte sich Carr in England an, wo er bis 1965 blieb. Volker Neuhaus weist in seinem Nachwort zur „Die schottische Selbstmordserie“ (DuMont’s Kriminal-Bibliothek Bd. 1018) darauf hin, dass seine Kriminalromane so lebendig und scharf konturiert wirken, weil hier ein Fremder seine neue Heimat erst entdecken musste und ihm dabei Dinge auffielen, die den Einheimischen längst zur Selbstverständlichkeit geworden waren.

Carr fand schnell die Resonanz, die sich ein Schriftsteller wünscht. Ihm kam dabei zugute, dass er nicht nur gut, sondern auch schnell arbeitete. Obwohl ihm kein ausgesprochen langes Leben vergönnt war, verfasste Carr ungefähr 90 Romane – übrigens nicht nur Thriller. Seine Biografie des Sherlock-Holmes-Vaters Arthur Conan Doyle wurde 1950 sogar mit einem Preis ausgezeichnet. Da hatte man ihn bereits in den erlesenen „Detection Club“ zu London aufgenommen, wo er an der Seite von Agatha Christie, G. K. Chesterton (der übrigens das Vorbild für Gideon Fell wurde) oder Dorothy L. Sayers thronte. 1970 zeichneten die „Mystery Writers of America“ Carr mit einem „Grand Master“ aus; die höchste Auszeichnung, die in der angelsächsischen Krimiwelt vergeben wird.

Zu John Dickson Carrs Leben und Werk gibt es eine Unzahl oft sehr schöner und informativer Websites; an dieser Stelle sei daher nur auf diese verwiesen, die dem Rezensenten ganz besonders gut gefallen hat.

Paperback: 192 Seiten
Originaltitel: The Man That Could Not Shudder (New York : Harper & Brothers 1940/London : Hamish Hamilton 1940)
Übersetzung: Ursula von Wiese

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