John Dickson Carr – Die Straße des Schreckens

Carr Straße des Schreckens Cover 1961 kleinDas geschieht:

Seltsames geht vor im ohnehin nicht allzu ehrwürdigen Brimstone-Club zu London. Henri Bencolin, legendärer Ermittler der Pariser Sûreté, und sein Begleiter Jeff Marle, die hier abgestiegen sind, werden von Sir John Landervorne, dem hier ebenfalls logierenden ehemaligen Vize-Direktor der Londoner Polizei, um Rat gefragt: Ein seltsamer Witzbold lässt gruseliges ‚Spielzeug‘ in den Club liefern – winzige Duell-Pistolen, eine Miniatur-Urne oder aktuell das detailreiche Modell eines Galgens.

Diese Merkwürdigkeiten gehen offenbar an einen weiteren Gast, den undurchsichtigen ägyptischen ‚Geschäftsmann‘ Nezam el Moulk, der indes jegliche Auskunft verweigert, bis es zu spät ist: Abends steht el Moulks prächtige Limousine vor dem Club; am Steuer sitzt die Leiche des Chauffeurs Smail, dem man die Kehle durchgeschnitten hat. El Moulk ist verschwunden; ein anonymer Anrufer kündigt an, „Jack Ketch“ werde ihn in der „Straße des Schreckens“ an den Galgen bringen.

„Jack Ketch“ ist der klassische englische Spitzname für den Henker, der hier sogar entsprechende Visitenkarten zurücklässt. Inspektor Talbot von Scotland Yard lässt sich gern von Bencolin bei diesem Fall helfen. Ins Zentrum der Ermittlungen rücken schnell el Moulks seltsame Gefährten: seine Geliebte Colette Laverne und sein respektloser Diener Graffin. Sie alle hüten ein gemeinsames Geheimnis, das sich um den Tod eines Engländers dreht, der vor zehn Jahren hingerichtet wurde. Das Trio hat sich offenbar diverser Meineide schuldig gemacht. „Jack Ketch“ ist ihnen auf die Schliche gekommen und will zum Jahrestag der Hinrichtung Rache üben.

Als auch Colette verschwindet, setzt Bencolin den verängstigten Graffin als Köder ein, denn nur ihn muss „Jack Ketch“ sich noch greifen, um seine Dreifach-Hinrichtung zu realisieren. Doch der Brimstone-Club ist ein Haus mit vielen Geheimnissen – und Geheimgängen, die „Jack Ketch“ sehr viel besser kennt als seine Verfolger …

Schauerlicher Rache-Krimi

1931 stand der gerade 25-jährige John Dickson Carr noch am Beginn seiner produktiven Karriere als Unterhaltungsschriftsteller. Im Vorjahr hatte er einen ersten Kriminalroman („It Walks by Night“, dt. „Elf Uhr dreißig“/„Geheimnis um Saligny“) veröffentlicht, der gleichzeitig den ersten Auftritt von Henri Bencolin markierte.

Schon in diesem Debüt hatte Carr den klassischen Rätselkrimi großzügig mit Elementen des Schauerromans durchsetzt. Auch in „Die Straße des Schreckens versetzt er uns in ein London, das eher viktorianisch als modern wirkt. Ständig wallt dichter Nebel, es regnet und ist dunkel, und die Bebauung besteht aus alten, verwinkelten Häusern, in denen es nicht nur düstere Winkel und steile Treppen, sondern auch geheime Gänge, Zimmer und Falltüren gibt.

Dazu passt ein Verbrecher, der mindestens ebenso viel Zeit in die Wirkung seines Auftritts investiert als in seine Schurkentaten. „Jack Ketch“ nennt er sich und greift tief in die Trickkiste, um sich als Inkarnation des gefürchteten Henkers von London zu präsentieren. Wenn man den Aufwand bedenkt, den allein es ihn kostete, jene Stücke zu finden oder selbst zu basteln, mit denen er el Moulk in Angst & Schrecken versetzte, wundert es nicht, dass es bis zur Ausführung der eigentlichen Rache zehn Jahre dauerte …

Der Effekt bestimmt die Geschichte

Mit „Die Straße des Schreckens“ ist Carr keiner jener Klassiker geglückt, mit denen er in die Geschichte der Kriminalliteratur eingegangen ist. Noch setzt der Autor den Effekt über die Handlung, die als Folge angenehm gruseliger Ereignisse zwar unterhaltsam zu lesen ist, sich aber nicht zu einem harmonischen oder schlüssigen Ganzen fügt.

Der kapitalste Fehler unterläuft Carr, als er die für den Rätselkrimi seiner Zeit üblichen Hinweise auf den Täter falsch dosiert. Bereits im ersten Drittel weiß der Leser, wer „Jack Ketch“ ist und was ihn umtreibt. Dies ist keine Falschinformationen, die Carr absichtlich einstreut, sondern bestätigt sich leider nach einer Serie wüster Gaslicht-Munkeleien.

Das durchgehend hohe Tempo trägt die Geschichte über dieses und weitere Logiklöcher. Zwar schürzt Carr die zahllosen Enden seiner Schauermär im Finale zu einem festen Knoten, aber er muss dabei tüchtig zerren und zurren; besonders elegant wirkt die Auflösung jedenfalls nicht. Zu allem Überfluss misslingt Carr der schon damals gern eingesetzte finale Schock-Effekt, den er zwar eindrucksvoll inszeniert aber schlecht begründet, ungeschickt vorbereitet und plump zelebriert.

Darsteller und Rollen

Bis es soweit ist, hat Carr auch Schwierigkeiten mit der Figurenzeichnung. So wird beispielsweise George Dallings ausführlich eingeführt, um doch nur ein Erlebnis im Nebel zur Handlung beizutragen, aus der er irgendwann einfach und folgenlos verschwindet. Inspektor Talbot geistert sinnlos durch eine Handlung, die ihn schlicht nicht benötigt. Ähnlich sinnlos ist das Auftauchen von Sharon Grey, einer alten Freundin des Ich-Erzählers Jeff Marle. Sie repräsentiert das weibliche Element dieses Krimis, auf das Carr mit dem Blick auf das weibliche Publikum nicht meinte, verzichten zu können. Er schob es ungeschickt irgendwie ein und missbrauchte darüber hinaus den Zufall, um Miss Grey irgendwie in die Ereignisse zu verwickeln. Generell wirkt das Frauenbild des jungen Carrs noch recht vage. Sharon Grey ist ein verliebtes aber zänkisches Rühr-mich-nicht-an, Colette Laverne die Karikatur einer französischen Lebedame samt klirrender Silberarmbänder und ähnlicher Verruchtheiten.

Mit der Figur des Henri Bencolin hat Carr ebenfalls Schwierigkeiten. Er hatte sie bereits Mitte der 1920er Jahre für einige Kurzgeschichten geschaffen, mit denen er sich als Autor versuchte. Dabei stand der junge Mann auf dem Standpunkt, dass sich ein Meisterdetektiv bereits äußerlich von der gewöhnlichen Masse abzuheben habe. Also beschrieb er Bencolin als wuchtig-eindrucksvolle Gestalt, deren Charakterkopf von einer Frisur gekrönt wird, die an den Stirnseiten die Haare in die Höhe zwirbelt: Dass Bencolin einen teuflisch scharfen Intellekt besetzt, wollte Carr auf diese heute recht albern wirkende Weise symbolisieren.

Nachsicht mit einem Noch-nicht-Meister

Viel ist an diesem Roman auszusetzen. Schon die zeitgenössische Kritik hat wenig Nachsicht geübt. Gelobt wurde jedoch stets die heimelig-unheimliche Stimmung, die Carr bereits sehr geschickt zu schaffen verstand. Sie kann auch heute noch überzeugen. An vielen der monierten Punkte nagte zudem der Zahn der Zeit. Von einem Rätselkrimi dieses Alters erwartet der Leser des 21. Jahrhunderts inhaltliche und formale Anachronismen; sie erhöhen den nostalgischen Lektüre-Reiz.

Spätere, ebenfalls überlebensgroße Serienhelden wie Sir Henry Merrivale und vor allem Dr. Gideon Fell gelangen einem gereiften Carr deutlich besser. So verwundert es nicht, dass er Bencolin nach fünf Romanen 1937 als Figur aufgab. Inzwischen hatte er längst gelernt, dass man den Plot nicht durch Effekte übertreibt oder gar ersetzt, sondern ihn wesentlich wirkungsvoller ergänzt.

Unterstellt man dem Verfasser wohl zu Recht einen gewissen jugendlichen Überschwang, kann sich der Leser mit den Fehlern und Brüchen arrangieren, die sich in der „Straße des Schreckens“ auftun. Die Logik mag leiden, doch kurzweilig ist dieses auf amüsante Weise absurde Garn allemal!

Autor

John Dickson Carr (1906-1977), der so wunderbare englische Kriminalromane schrieb, wurde im US-Staat Pennsylvania geboren. Europa hatte es ihm sofort angetan, als er 1927 als Student nach Paris kam. Carrs lebenslange Faszination richtete sich auf alte Städte, verfallene Schlösser, verwunschene Plätze. Die fand er nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland und Großbritannien, die von ihm eifrig bereist wurden.

1933 siedelte sich Carr in England an, wo er bis 1965 blieb. Volker Neuhaus weist in seinem Nachwort zu „Die schottische Selbstmordserie“ (DuMonts Kriminal-Bibliothek Bd. 1018) darauf hin, dass seine Kriminalromane so lebendig und scharf konturiert wirken, weil hier ein Fremder seine neue Heimat erst entdecken musste und ihm dabei Dinge auffielen, die den Einheimischen längst zur Selbstverständlichkeit geworden waren.

Carr fand schnell die Resonanz, die sich ein Schriftsteller wünscht. Ihm kam dabei zugute, dass er nicht nur gut, sondern auch schnell arbeitete. Obwohl ihm kein ausgesprochen langes Leben vergönnt war, verfasste Carr ungefähr 90 Romane – übrigens nicht nur Thriller. Seine Biografie des Sherlock-Holmes-Vaters Arthur Conan Doyle wurde 1950 sogar mit einem Preis ausgezeichnet. Da hatte man ihn bereits in den erlesenen „Detection Club“ zu London aufgenommen, wo er an der Seite von Agatha Christie, G. K. Chesterton (der übrigens das Vorbild für Gideon Fell wurde) oder Dorothy L. Sayers thronte. 1970 zeichneten die „Mystery Writers of America“ Carr mit einem „Grand Master“ aus; die höchste Auszeichnung, die in der angelsächsischen Krimiwelt vergeben wird.

Zu John Dickson Carrs Leben und Werk gibt es eine Unzahl oft sehr schöner und informativer Websites; an dieser Stelle sei daher nur auf diese verwiesen, die diesem Rezensenten ganz besonders gut gefallen hat.

Taschenbuch: 188 Seiten
Originaltitel: The Lost Gallows (New York : Harper & Brothers 1931)
Übersetzung: Ursula von Wiese

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