John Gardner – Grendel. Phantastischer Roman

Kains Kind und der Drache der Weisheit

In diesem Klassiker der phantastischen Literatur erscheint die altenglische Sage um Beowulf unter vertauschten Vorzeichen. Gardner schreibt aus der Perspektive Grendels, des Monsters, eines wilden und einsamen Wesens, das mit seiner Mutter in einer Höhle lebt. Grendel ist hin- und hergerissen zwischen seinem wilden, animalischen Tötungstrieb und einem herausragenden Verstand, der ihn zur Sprache und zu einem komplexen Verständnis der Welt befähigt. Er wird zum Beobachter der Veränderung seiner Umgebung durch die Menschen, als diese den Wald nahe seiner Höhle besiedeln.


Der Autor

John Champlin Gardner junior (* 21. Juli 1933 in Batavia, New York; † 14. September 1982 bei Susquehanna, Pennsylvania) war ein amerikanischer Autor und Universitätslehrer.

John Gardner (1932-1982) lehrte als Professor für Anglistik an verschiedenen US-Universitäten und lebte seit den sechziger Jahren als freier Schriftsteller. Neben Romanen Wie „Grendel“ schrieb er auch Erzählungen und Märchen für Kinder. Zu seinen wissenschaftlichen Arbeiten zählt eine Biografie über den englischen Dichter des Mittelalters Geoffrey Chaucer (1977). „Grendel“ ist sein bekanntester Roman. Gardner starb bei einem Motorradunfall.

Handlung

Vom Ungeheuer Grendel ist den meisten Anglistikstudenten nur bekannt, dass es ihm bestimmt war, vom Recken Beowulf im Epos gleichen Namens erschlagen zu werden. Denn Grendel ist ein Mittelding zwischen Mensch und Tier, das in einer Höhle unter Wasser haust, zusammen mit seiner kaum der Sprache mächtigen Mutter, und nachts hervorkommt, um die Mannen des jütländischen Dänenkönigs Hrodgar (alias Hrothgar) zu erschlagen und zu fressen.

Gardner erzählt die Sage vom Standpunkt des Ungeheuers aus, in der Ich-Perspektive, das dadurch viel von seiner Ungeheuerlichkeit verliert. Vielmehr wird es zum Repräsentanten natürlicher Triebhaftigkeit und damit natürlicher Freiheit, wohingegen die Menschen ihre Untaten mit Verschlagenheit, Habgier und Grausamkeit planen und durch schöne Worte rechtfertigen. Brudermord, Landraub, Frauenschacher – all dies ist nur gerecht in den Worten des Oberpriesters Hrodgars, solange er sagt, dass es dem großen Gott gefällt.

Dennoch kommt Grendel nicht darum herum, die Menschen für ihre Kunst und Poesie zu bewundern – regelmässig gerät er in Verzückung, wenn der Barde (scop), hier „Bildner“ (shaper) genannt, von Heldentaten erzählt. Sehr oft zitiert Grendel/Gardner selbst die alliterierenden Stabreime der klassischen nordischen Epen.

Der schlaue Drache

Grendel, nicht der Recke Beowulf, wird hier zu einem modernen tragischen Helden, der um seinen mit Naturnotwendigkeit eintretenden Untergang weiß und ein düster-pessimistisches Weltbild vertritt. Grendel ist verwirrt von der Art der Menschen und berät sich darüber mit einem anderen nichtmenschlichen Wesen: dem Drachen am Grunde der Welt (die Midgard-Schlange?). Dies ist ein wunderbar intelligentes Wesen und sehr raffgierig: Genau wie Tolkiens Drache Smaug der Glänzende sitzt Grendels Drache auf einem Berg von Juwelen und Gold, den niemand auch nur anfassen darf.

In seiner Weisheit sieht der uralte Drache eine Zeit voraus, wenn die Menschheit die Welt zerstört und nur noch Tod herrscht. Grendel schaudert, als der Drache seine zynische Philosophie über die Welt entwickelt und kehrt an die Oberwelt zurück. 12 Jahre dauert sein Krieg gegen Hrodgar, und dank eines Zaubers, den der Drache verliehen hat, kann ihm kein Schwert oder Speer etwas anhaben.

Ein gewisser Recke

Im letzten Kapitel landet ein großer Recke am Strande Jütlands, der mit seinem Mannen dem alt und gebrechlich gewordenen König Hrodgar beizustehen. Nie wird Beowulfs Name auch nur erwähnt überflüssig. Er erscheint als eiskalter Killer, eine Maschine, ein zukünftiger Typus Mensch, der die Jütländerrasse ablösen wird. Beowulf ist Gaute (vgl. Götland) aus Südschweden. Es gelingt ihm jedoch, Grendel den Arm abzureißen, der daraufhin flieht. Im Sterben flüstert er den neugierigen Tieren des Waldes zu: „Dem armen Grendel ist ein Unglück zugestossen. So kann es bald euch allen ergehen.“

Mein Eindruck

In einer poetisch eindringlichen, wunderbar klaren Sprache, sinnlich-anschaulich im Detail, vielfach von Humor durchzogen, erzählt der Autor seine sagenhafte Geschichte. Sie ist an keiner einzigen Stelle langweilig, denn die völlig andersartige, zynische Betrachtungsweise Grendels wirkt wie ein Augenöffner. Als er stirbt, ist man traurig und gerät ins Grübeln, was der Mensch in seiner Eroberung der Welt wohl noch alles an Wundern vernichtet haben mag. Die Welt ist durch Grendels Tod ärmer geworden, doch da er zu den Verlierern gehört und die Geschichte von den Siegern geschrieben wird, erinnert man sich nur noch an Beowulf, den neuen Menschen, den Killer.

„In der Beobachterposition demaskiert Grendel die Menschen in ihrem Widerspruch zwischen Sein und Schein. Grendel betrachtet ihr Tun, das zumeist in Krieg mündet, hört Traktate über die Welt, die von unangepassten Wesen bedroht werden. Erzählkunst, erkennt Grendel, verändert alles.

Dabei geht es Gardner nicht allein um das Thema Gewalt, sondern auch um die Ausformungen staatlicher Macht, um die Herausbildung gesellschaftlicher Ordnung mit all ihren Schattenseiten und um die Macht der Legenden und Mythen, die alle Zeit überdauern.

Gardners Meisterwerk erzählt von Mächtigen und Ohnmächtigen, von Tätern und Opfern, es erzählt aber auch von den Möglichkeiten der Literatur und der Fantasie – mit einer Sprachgewalt, die ihresgleichen sucht.“ (Verlagsinfo)

„In Gardners Umgestaltung des Beowulfstoffes werden die Heldentaten Beowulfs und der nordischen Kämpfer völlig anders bewertet als in dem Epos und stellen sich aus Grendels Perspektive als große Prahlerei und Lüge des Scop, d. h. des angelsächsischen Dichters, oder Shapers dar, wie er in Gardners Roman genannt wird. Allerdings wird Grendel als Antagonist Beowulfs dabei keinesfalls zu einem neuen Helden oder zu einer Identifikationsfigur für den Leser. Während des Gesangs des Shaper über die Erschaffung der Welt erkennt Grendel, dass er zu der dunklen Seite der Schöpfung und den von Gott verdammten Nachfahren Kains gehört („He told of an ancient feud between two brothers which split all the world between darkness and light. And I, Grendel, was the dark side. […] The terrible race that God cursed“, S. 43).

Damit wird Grendel zu dem Vertreter des Bösen in dieser Welt, in welcher der Widerstreit von Gut und Böse oder Himmel und Hölle die menschliche Existenz bestimmt. Wie in William Blakes Werk „The Marriage of Heaven and Hell„, das ebenso wie das Beowulf-Epos als weitere literarische Vorlage für Gardners Roman diente, werden zugleich die orthodoxen Kategorien der Moral in Frage gestellt: das Gute und das Böse, die Vernunft und die Energie gehören untrennbar zusammen.

Mit Gardners Umerzählung der Beowulfgeschichte wird gleichermaßen die wesentliche Lehre aus Blakes The Marriage of Heaven and Hell in neuer Form zum Ausdruck gebracht: „Without Contraries [there] is no progression. Attraction and Repulsion, Reason and Energy, Love and Hate, are necessary to Human existence. […] Good is the passive that obeys Reason. Evil is the active springing from Energy“ (dt.: „Ohne Gegensätze gibt es keine Entwicklung. Anziehung und Abstoßung, Vernunft und Energie, Liebe und Haß sind notwendig für das menschliche Dasein. […] Gut ist das Passive, das der Vernunft gehorcht. Böse ist das Aktive, das der Energie entspringt“).“ (Quelle: Wikipedia.de)

Hinweise

Der Roman Grendel inspirierte den Dichter und Sänger Derek William Dick (Fish) zu einem gleichnamigen 18-minütigen Song, der von der Prog-Rock-Gruppe Marillion 1981 veröffentlicht wurde.[7]

Auf Grundlage des Romans „Grendel“ entstand aus einem Libretto von Julie Taymor und J D. McClatchy sowie der Musik von Elliot Goldenthal die Oper Grendel, die 2006 von der L. A. Opera uraufgeführt wurde.

Taschenbuch: 220 Seiten
Originaltitel: Grendel, 1971.
Aus dem Englischen von Andreas Vollstädt.
ISBN-13: 9783852861746

www.milena-verlag.at/

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