John Garth: Tolkien und der Erste Weltkrieg – Das Tor zu Mittelerde

Faszinierender Einstieg in die frühe Mittelerde

Ist Tolkiens großes Epos von Mittelerde eine Allegorie auf den Ersten Weltkrieg? Diese und andere Fragen beschäftigen von jeher die Leser. John Garth stellt diesen Spekulationen ein fundiertes und faszinierend argumentierendes Buch über den großen Autor Tolkien entgegen.

»1914 als junger Mann in all das hineinzugeraten, war eine keineswegs weniger schreckliche Erfahrung als 1939 … 1918 waren alle meine engen Freunde mit nur einer Ausnahme tot.« So äußerte sich Tolkien zu Deutungen, die im »Herrn der Ringe« eine Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg sahen.

John Garth beschreibt hier zum ersten Mal ausführlich, wie Tolkien in seiner Jugend erlebte, dass die Welt um ihn in der Katastrophe versank. Gerade diese Erfahrungen prägten Tolkiens mythologische Erfindungen maßgeblich, in denen er seine eigene literarische Tradition begründete. Mittelerde und seine Anziehungskraft sind daher nicht aus Eskapismus entstanden, sondern aus dem Drang, das Erlebnis der Verwüstung dichterisch in eine Form zu bringen, die bis heute nachwirkt und fasziniert. (Verlagsinfo)

Hinweis

Dieser Bericht setzt Kenntnisse über „Das Silmarillion“ voraus. Diese Kenntnisse kann sich der Leser bei Ardapedia und Wikipedia aneignen.

Der Autor

John Garth, geboren 1966, studierte englische Literatur in Oxford und arbeitet als Journalist für die britische Tageszeitung „Evening Standard“. Für das Buch »Tolkien und der Erste Weltkrieg« hat er über fünf Jahre recherchiert. (Verlagsangabe)

Inhalte

Teil I: DIE UNSTERBLICHEN VIER

1) Kap. 1: Davor

Tolkiens Biografie der Kinder- und Jugendjahre ist dem Tolkienkenner bereits durch die Biografie von Humphrey Carpenter und die Bücher von Tom Shippey und anderen vertraut. Auch Garth weiß hier nur wenig Neues zu bieten, aber ihm gelang es zumindest, auf den Nachlass und die Briefe von Tolkiens engsten Freunden zurückzugreifen, die er vor dem Kriegsbeginn hatte.

Wo Carpenter und Shippey nur drüberfliegen, wenn es um den Tea Club and Barrovian Society (TCBS) geht, da schöpft Garth aus dem Vollen. Aufgrund der Fülle der manchmal aus inszenierten Informationen – ein Rugbyspiel im Dezember 1913 dient als Aufhänger – erhalten wir ziemlich scharfe Profile von den TCBS-Mitgliedern, allen voran G.B. Smith, Rob Gilson und Christopher Wiseman (der als einziger Freund den Kriegseinsatz überlebte). Zu meinem Erstaunen erfuhr ich, dass Wiseman der Pollux zu Tolkiens Castor genannt zu werden verdient: „the great twin brethren“ (Macaulay).

Rugby wird nicht zufällig als Aufhänger benutzt, denn die Engländer und viele ihrer Zeitgenossen betrachten militärische Kriegshandlungen nur als Sport mit anderen Mitteln – ein fataler Irrtum. Schon 1913 trainierten Tolkien, ein exzellenter Reiter, und seine männlichen Generationsangehörigen in verschiedenen Feldlagern der britischen Inseln für den Ernstfall. Patriotische Gedichte von nicht besonderer Güte nehmen überhand.

2) Ein junger Mann mit zu viel blühender Phantasie

Im Herbst 1914 war Tolkien schon längst in Oxford ein etablierter Student, doch nun rief ihn das Vaterland zu den Fahnen. Und das, obwohl er deutscher Abstammung (seine Vorfahren stammten aus Sachsen), zudem Katholik war (seine Mutter Mabel war zum Katholizismus übergetreten und musste schwer dafür büßen), aus der mittellosen Unterschicht stammte und mit seiner Jugendliebe Edith Bratt bereits so gut wie verheiratet war.

Aber Lord Kitchener, der Kriegsminister, brauchte eine halbe Million Mann, um Nordfrankreich gegen die anrückenden deutschen Truppen zu verteidigen. Berichte von Gräueltaten der Deutschen in Belgien machten bereits die Runde. Diese hatten die Unibibliothek von Löwen mit ihren 230.000 Bänden und tausenden unersetzlichen Inkunabeln aus dem Mittelalter niedergebrannt und die Bevölkerung massakriert. Der Gelehrte musste wie sein Bruder Hilary zu den Fahnen, sonst würde er geschnitten werden.

Doch er hatte keine finanzielle Zukunft, wenn er keinen Abschluss machen würde, und somit auch keine Chance, mit Edith eine Familie zu gründen. Bis Oktober 1914 musste er seinen Abschluss in Englischer Literatur machen, bevor er zum Militär gehen konnte. Neben dem Drill im Trainingslager fand er jedoch zeit, altenglische Gedichte zu lesen, und dabei stieß er auf das Samenkorn, aus dem der Baum seines Legendariums entspross: den Namen Earendel. Sogleich verfasst er ein Gedicht über diesen „himmlischen Seefahrer und Sendboten“, wie er ihn sich vorstellt. Doch warum und wozu gibt es diesen Seefahrer? Dazu muss er eine ganze Welt erfinden …

3) Ein Rat in London

Der 31.10.1914 ist ein einschneidender Tag in Tolkiens Leben und für die TCBS. Sein Leben nähert sich einem Scheideweg, der ihn von seinen Freunden wegführt. Mit Christopher Wiseman teilt er die Ansicht, dass diese sich seichten Frivolitäten widmen, während der Krieg dräut. In einer stundenlangen Aussprache, die den Charakter einer klassischen Debatte trägt, legt er dem TCBS – und sich selbst dar – was ihm wichtig ist: Religion, positives Leben, politisches Bewusstsein und Kreativität.

Was Letzteres anbelangt, ist er in der Lage, ihnen mehrere seiner Gedichte vorzutragen, die bereits Anklänge an Mittelerde zeigen. Gleichzeitig arbeitet er an der „Legende von Kullervo“ und an der fachgerechten Gestaltung der Kunstsprache „Qenya“, deren Ursprung noch vor dem Altnordischen der Sagas und Finnischen des „Kalevala“-Epos liegen soll. Wie künftig immer bei Tolkien, dient die Geschichte dazu, die Sprache zu erklären und mit Leben zu erfüllen. Das macht seine Geschichten einzigartig und beständig.

4) Die Feenküste

Tolkien absolviert die Abschlussprüfungen in Oxford mit Bestnote, doch gleich darauf muss er zum Militärdienst. Zu seiner Bestürzung kommt er nicht ins gleiche Bataillon (19.) wie sein Freund GBS, sondern ins 13. der Lancashire Fusiliers. Er muss eine Offiziersausbildung zum Lieutenant absolvieren und hält sich v.a. in Yorkshire auf, mit Zwischenstopps bei seiner Verlobten Edith. Immerhin bekommt er die erkleckliche Summe von 50 Pfund pro Jahr.

Auf der literarischen Seite macht er bedeutende Fortschritte in der Formung seines Universums. Aus H.R. Haggards Roman „Sie“ entleiht er die uralte aber verlassene Stadt Kôr, die bei ihm zur Urform des Hafens Alqualonde unter dem Berg Taniquetil wird. Dies ist der Zugang der Menschen, die gen Westen in die Seligen Lande von Valinor reisen. Und natürlich taucht auch Earendel, der Seefahrer des Himmels, in seinem Boot Vingilot auf. Züge von Peter Pans Nimmerland hat Tolkien so hingebogen, dass nur Valar, Elben und Menschen auftauchen, nicht jedoch Glöckchenfeen wie Tinkerbell. Eine wichtige Rolle spielt die Selbstdarstellung des einsamen Träumers im Turm der Perle, der über Kôr aufragt.

Sein Interesse für Elfen, Feen und Kobolde teilt Tolkien durchaus mit vielen anderen Spätviktorianern und Edwardianern. Dies ist die später von ihm vertretende Aufgabe von „Faery-Stories“: Wiederherstellung (durch Schönheit, Erhabenheit), Flucht (aus dem Horror der Schützengräben) und Trost (das bald das Grauen enden werde).

5) Wanderer im Dunkeln

Es ist bereits 1915, und noch immer befindet sich Tolkien in England. In Anbetracht von 131.000 gefallenen Engländern und 5 Mio. weiteren Europäern, die der große Krieg bereits gefordert hat, und einer bevorstehenden Schlacht beeilen Tolkien, Gilson und GBS sich, ihre Werke an literarische Stellen zu verschicken, um so wenigstens eine Art Vermächtnis hinterlassen zu können. Sein Gedicht „Goblin Feet“ (das von Tom Shippey a.a.O. genauestens analysiert wird) soll veröffentlicht werden, und die zwei Earendel-Gedichte werden bei den Freunden hinterlegt. Wenn er wollte, hätte Tolkien bereits einen ersten Gedichtband publizieren können.

Er schickte seinen engsten Freunden ein Gedicht über „Aryador“ (das uns bekannte Eriador in Mittelerde) und über Kortirion (= Warwickshire) auf Tol Eressea, der Einsamen Insel (= England) mitten im Ozean zwischen Mittelerde und Valinor. Hierher sind Elben aus Kôr gekommen, um den Menschen in Aryador „Gesang und das Heilige“ zu bringen. Denn die Menschen in Aryador fühlen sich dort fremd und haben Angst vor dem Schattenvolk der Elben. Die Restformen von „Gesang und dem Heiligen“ sind Märchen, Lieder und Mythen.

Rob Gilson wird erst von Estelle King, der englischen Tochter eines amerikanischen Diplomaten abgewiesen, ihm gelingt jedoch Monate später unter Vermittlung seiner Mutter Donna ein erfolgreicher Antrag – nur wenige Tage vor seiner Verschiffung nach Frankreich Anfang 1916. GBS ist seit dem 2.12.1915 dort, hat allerdings sein langes Gedicht „The Burial of Sophocles“ auf dem Weg verloren. Wiseman ist bei der Kriegsmarine auf einem Schlachtschiff stationiert, das vor Schottlands Küste bei Scapa Flow vor Anker liegt, belauert von deutschen U-Booten.

6) In tiefem Schlummer versunken

Tolkien hat eine Berufswahl getroffen, die ihm das Überleben erleichtern wird. Ebenso wie A.A. Milne, dem Schöpfer des weisen Bären Winnie Puh, wird er Fernmeldeoffizier. Da er eifrig an seinem Qenya-Wörterbuch, Schriften (Cirth-Runen, Tengwar) und Mittelerde entwirft, ist er bereits mit Codes und Zeichen wohlvertraut. Er stellt Verbindungen zwischen seiner Situation, seiner Nation und dem Krieg her, allerdings will ihm Wiseman darin nicht ganz folgen: Das Gedicht „Des Wanderers Treue“ zeichnet den Weg von den alten Sachsen, Tolkiens Vorfahren, über Warwicks schlafende Adlige bis zu Oxfords talentierter Generation, ohne jedoch die deutsche Seite mit Sympathie zu betrachten: Die Deutschen sind auch auf Qenya „Barbaren“.

Am 22. März 1916 dürfen er und Edith Bratt endlich nach römisch-katholischem Ritus heiraten und einander knapp drei Monate lang sporadisch sehen. Anfang Juni 1916 reist Tolkien als Einzelner nach Frankreich, an die Somme-Front, von wo ihm GBS zehn Monate eifrig geschrieben hat. Wird es ein Wiedersehen geben?

Teil II: UNGEZÄHLTE TRÄNEN

7) Rittersporn und Glockenblumen

Anfang Juli erreicht Tolkien ein Dorf vor der Front, als die sogenannte Somme-Schlacht mit anhaltendem Artilleriefeuer durch die Briten eingeläutet wird. (Einen Tag zuvor fand die für England verlustreiche Seeschlacht im Skagerrak statt, und an dieser hatte Wiseman teilgenommen.) Die Somme-Schlacht soll die Franzosen Erleichterung verschaffen, die vor Verdun von den Deutschen planmäßig ausgeblutet werden.

Aber es dauert noch einmal 14 Tage, bis er überhaupt die Front erreicht und dort seinen Freund G.B. Smith treffen kann. Sie stoßen auf Gärten voller Sommerblumen, die dort aller Zerstörungen blühen. Zu diesem Zeitpunkt ist Rob Gilson bereits gefallen.

8) Des Schnitters grausame Ernte

Tolkien lernt allmählich die grauenerregende Wirklichkeit des völlig mechanisierten Krieges kennen. Die Verluste der Briten, Australier und Neuseeländer sind immens, und Leichen verstopfen bereits die Schützengräben. Ihr Verwesungsgeruch liegt über den Schlachtfeldern, als handle es sich um Giftgas, und wer im Niemandsland liegenblieb, hat eh keine Chance auf Rettung.

Zu seiner Überraschung sind die Deutschen entweder nicht durch die Kanonade vertrieben worden, oder sie haben derart durchdacht erbaute Schützengräben (bis zu fünf Meter tief) hinterlassen, dass ihm die Ingenieurskunst Respekt abnötigt. Sein Job besteht darin, die Kommunikation zwischen Kommandozentrale und Front herzustellen, was sich als schwierig erweist: Befehle brauchen in der Regel acht Stunden, um die Gräben zu erreichen. Wer leichtsinnigerweise Fahnen schwenkt oder Signalraketen verschießt, wird sofort unter MG-Feuer genommen.

9) „Etwas ist kaputtgegangen“

Die Nachricht von Rob Gilsons Tod erschüttert seine Familie. Wie wird seine Verlobte Estelle King reagieren, die gerade von ihrer Tour als Krankenschwester aus Holland zurückkehren soll, fragen sich die Eltern. Und Tolkien schreibt aus den Gräben einen sehr missverständlichen Brief, der GBS und Wiseman auf die Barrikaden treibt. John Ronald, wie sie ihn nennen, zweifelt nämlich am Fortbestehen der „Unsterblichen Vier“! Er erhält gepfefferte Antworten.

10) In einem Loch im Boden

…lebte ein Hobbit“, lautet die bekannte Fortsetzung dieses berühmten Satzanfangs, der den „Kleinen Hobbit“ eröffnet. So fühlt sich unser Lieblingsautor auch, als er nach tagelangem Regen in den Gräben keinen trockenen Faden mehr am Leib hat – und das als Offizier. Die Läuse saugen allen das Blut aus und übertragen dabei ein gefährliches Bakterium namens Rickettsia quintana, das das berüchtigte Grabenfieber verursacht.

Tolkien ist bereits drei Monate an der Somme-Offensive beteiligt, als die Front der Deutschen endlich nachgibt. Eine Bastion nach der anderen wird eingenommen. Überall stoßen die alliierten Truppen auf Schützengräben, die von toten oder schwerverletzten Deutschen verstopft sind. Die Divisionsleitung hält gerade eine Parade nach der anderen ab, als sich Tolkien krankmeldet. Der Mediziner misst beinahe 40 Grad Fieber. Am 28.10., fast auf den tag genau vier Monate nach seiner Ankunft, verlässt Tolkien Frankreich auf einem Schiff, dass ihn nach Tol Eressea, pardon: England bringt.

TEIL III: DIE EINSAME INSEL

11) Luftschlösser

In den Gräben, unter Dauerbeschuss, im Dauerregen, hat er kaum eine Zeile zu Papier bringen können, allenfalls Briefe und Notizen. An Dichten war nicht zu denken. Das ändert sich nun im Lazarett von Birmingham, wo er seine Frau Edith wiedersieht. Auch die Nachricht vom Tod G.B. Smiths am 3.12.1916 kann ihn von den nächsten Arbeiten an seinem Legendarium nicht abhalten.

Nachdem er Smiths Mutter eine Kopie von Smiths Gedichten – darunter die zweite Fassung von „The Burial of Sophocles“ – geschickt hat, erfindet er die zweite Elbensprache Sindarin, die ans Walisische angelehnt ist, und beginnt mit der Erzählung „Der Fall von Gondolin“, die den Beginn des „Liedes von Húrins Kindern“ darstellt. Darin spielt der Verrat des Elben Meglin eine zentrale Rolle, denn so kommt es zur Eroberung und Vernichtung der verborgenen Elbenstadt Gondolin durch Melkos (= Morgoths) Orks, Balrogs und vor allem Drachen. Diese Drachen sind als drei Varianten der Panzer und Flammenwerfer ausgeführt, deren verheerende Wirkung Tolkien mit eigenen Augen auf dem Schlachtfeld gesehen hat. Melko ist der erste Diktator Mittelerdes, der auf Maschinen setzt, und er soll nicht der letzte sein.

12) Tol Withernon und Fladweth Amrod

1917 ist Tolkien immer noch nicht gesund. Fieberschübe schwächen ihn. Daher wird er der Küstenverteidigung an der Mündung des Humber zugewiesen. Die wilde Küste, an der ständig die Nordsee nagt und wo erstmals die Angeln im 4. Jahrhundert landeten, beeindruckt ihn sehr. Dieser Anblick vermischt sich mit den Kriegserinnerungen, um weitere Gedichte hervorzubringen. Er sieht Edith wieder, die in der Nähe wohnen darf und von ihm schwanger wird. Im Laufe des Jahres gelingen ihm die Erzählungen über Eriol, Lúthien (damit ist Edith gemeint) und Turambar (eine Reinkarnation des Helden Kullervo aus dem „Kalevala“). Am 16.11.17 wird sein erster Sohn John Francis Reuel geboren.

Das Jahr 1918 ist ebenso von Verlusten und Errungenschaften geprägt. Zahlreiche Freunde wie auch Kriegsbekanntschaften sind im Großen Krieg gefallen. Die Spanische Grippe rafft im zweiten Halbjahr Millionen Menschen dahin, und erst am 11.11.18 wird der Waffenstillstand unterzeichnet. Alte Reiche wie etwa Österreich-Ungarn und das Osmanische sind ebenso untergegangen wie das Zarenreich, Revolutionen und Aufstände läuten eine Zeitenwende ein: die sogenannte Moderne, auch in der Literatur. Wie soll man da als Viktorianer noch schreiben, geschweige denn publizieren können?

13) EPILOG: Ein neues Licht

Dieses umfangreiche Kapitel bringt das Buch zu einem ( vorläufigen) Abschluss. Wir erfahren, dass Tolkien eine Stelle als Assistenzlexikograf beim „Oxford English Dictionary“ erhielt, Professor in Leeds und Oxford wurde, noch drei weitere Kinder bekam und mit Wiseman wieder mal im Clinch lag. Letzteres wirkte sich verhängnisvoll auf sein Legendarium aus.

Tolkien hatte bereits drei Viertel der vorliegenden „Verschollenen Geschichten“ zu Papier gebracht (und Edith hatte ihm bis 1919 geholfen), als Wiseman ihm empfahl, nur noch die Form des Vers-Epos zu verwenden. Folglich begann Tolkien nochmal von vorne, diesmal aber in Versform, seine Geschichten um Luthien und Turambar zu schreiben. Er wurde meist nicht damit fertig. Und die wichtigste Geschichte von allen, die um Earendel, dem Bindeglied zu den heutigen Menschen, blieb auf dem Stand von rudimentären Notizen und fragmentarischen Gedichten stecken.

Nachdem sein „Kleiner Hobbit“ ein Bestseller geworden war, verfasste Tolkien auf Anfrage des Verlegers eine Zusammenfassung des Silmarillion-Urstoffs, nahm aber dabei so viele grundlegende Änderungen vor, dass er die alten Geschichten nicht mehr verwenden konnte, sondern sie neu schreiben musste. Er wurde nie fertig. Und was heute als „Das Silmarillion“ (Stand 1977) vorliegt, hat viel von dem Einfallsreichtum, der Derbheit, der Verspielheit und dem Humor eingebüßt, die die „Verschollenen Geschichten“ aufweisen.

Mit dem Ende Ediths und John Ronalds endet dieser Abschnitt. Auf ihrem gemeinsamen Grabstein stehen die Namen „LUTHIEN“ und „BEREN“ eingemeißelt.

NACHWORT

14) „Einer, der für sich träumt“

Die Kapitelüberschrift ist die Bedeutung des Namens Eriol und insofern ein guter Aufhänger für einen über 30 Seiten langen Text, der versucht, Tolkiens Frühwerk in den Kontext der Moderne zu setzen, die ab 1916 zu entstehen begann. Die Ironie liegt ja darin, dass die Modernisten „alles neu zu machen“ beabsichtigten (Ezra Pound), Tolkien sich aber auf eine Jahrtausende alte literarische Tradition stützte, als er zur gleichen Zeit schrieb.

Diese Tradition der Heldenreisen und Feenfantasien, die noch den Viktorianern und vielleicht sogar den Edwardianern gefallen hatte, wurde nun als verlogen und unrealistisch angeprangert und verdammt: Eskapismus pur. Der Realismus, ja, die Entzauberung der Welt müsse nun Programm sein. Wir wissen es heute, nach Tolkiens feiner Apologie „Über Märchen“ besser, hofft der Autor. Selbst Kritiker wie Brogan, die Tolkiens Werke mochten, begriffen nicht, dass er in einer anderen, viel älteren Tradition dachte, fühlte und schrieb.

Welchen Wert Tolkiens Verarbeitung seiner Kriegserlebnisse innerhalb der übrigen Kriegsliteratur hatte, die ab 1926 tonangebend wurde, erörtert der Autor bis zum Schluss seines Nachworts. Tolkien arbeitete sich an dem Kampf zwischen Gut und Böse ab, wobei für ihn klar war, dass die Mechanisierung des Lebens (durch Melko, Saruman, die Orks/Goblins) die Vernichtung des Individuums zu Folge hat. Er hatte es mit eigenen Augen gesehen.

Doch welche moralischen Lehren aus diesem ewigen Kampf zu ziehen war, darin unterschied sich Tolkien von seiner literarischen Generation: Krieg war keine Krankheit, sondern nur ein Symptom. Er lässt daher durchaus immaterielle Werte, die der Kriegsautor Sassoon ablehnte, ausdrücklich zu und unterzog sie einer Belastungsprüfung. Was sind Ehre, Treue, Freundschaft und Liebe, Verträge und Macht wert, wenn alle unter den Zauberbann des Bösen fallen? Dies sind Phänomene, die nur zwischen Individuen zustande kommen – mit Ausnahme der Macht, die nur die Hörigkeit der Massen fordert.

Zum Ausklang versucht Garth zu ergründen, was Tolkien zum „Autor des Jahrhunderts“ qualifizierte (ohne diesen Begriff allerdings je zu benutzen). Er bemüht ausgerechnet Sassoon, der Entzauberung und Desillusion gefordert hatte. Tolkien könnte jener Autor sein, den sich Sassoon in den Schützengräben wünschte, als er seine Division wie „Geister“ aus den Nebeln der Schlacht zurückkehren sah, um solche Phänomene in Worte zu fassen.

Die Nazgûl, die Ringgeister, die an den Willen des bösen Herrn der Ringe gebunden sind, sind also keine Hirngespinste eines verstiegenen Professors in seinem Elfenbeinturm: Sie haben wirklich existiert, damals an der Somme, als sie Befehle aus dem fernen London ausführten.

Mein Eindruck

Nach Jahrzehnten der Interpretation und Auslegung ist die Figur des Autors Tolkien hinter Bergen von wissenschaftlicher und Fan-Literatur nahezu verschwunden und sein immens erfolgreiches Werk zu einem Zankapfel von Deutern geworden. Ein junger Mensch, der die Frage beantwortet haben möchte, wie denn dieser „Autor des Jahrhunderts“, der die Vorlagen zu zwei der erfolgreichsten Filmtrilogien aller Zeiten lieferte, überhaupt auf seine Ideen gekommen, findet in Humphrey Carpenter Biografie (1977) und in Tom Shippeys wissenschaftlichen Analysen nur bedingt Antworten.

Und wie Garth zeigt, sind diese Antworten nicht nur eingeschränkt hinreichend – sie sind auch vom Lauf der Zeit teils obsolet gemacht worden. Der arme Carpenter – so wunderbar flüssig seine Lebensbeschreibung zu lesen ist (er traf den Autor noch zu dessen Lebzeiten), so schlecht kommt er hier doch weg.

Das wichtigste, aber nicht einzige Verdienst des vorliegenden Buches liegt darin, die Bedeutung herauszuarbeiten, die die TCBS für Tolkien Zeit seines Lebens hatte. Carpenter und Shippey hatten mir suggeriert, es handle sich dabei um eine Art Schülerclique, deren Existenz mit dem Studentenleben sowie der Einberufung ihrer Mitglieder beendet wurde. Weit gefehlt! Es war die TCBS, die Tolkiens literarische Anfänge formte und beurteilte.

Es war die TCBS, die sich von 1914 bis 1916, als Gilson und Smith getötet wurden, fortwährend intensive Briefe schrieb. Ja, dieser Briefwechsel enthielt sogar ausdrücklich den Auftrag Smiths an Tolkien, den er für den hoffnungsvollsten Autor ihres Kreises hielt, das zu sagen, wozu die anderen nicht mehr in der Lage sein könnten. (Dieser Brief wird vielfach in der Literatur zitiert.) Und wäre der Einfluss Wisemans nicht gewesen, so wäre Tolkien mit seinen „Verschollenen Geschichten“ schon Anfang der 1920er Jahre an die Öffentlichkeit getreten, und zwar mit einem vollständigen statt einem fragmentarischen Konvolut, wie es nun vorliegt.

Wörtlich oder bildlich

Woher also kommen Orks, Goblins, Trolle, Zwerge und vor allem Elben? Wie schon Carpenter, David Day und Shippey ausführlich erklärt haben, stammen sie aus der nordischen Mythen- und Sagenwelt. Woher kommt jedoch Earendel? Aus nur einer einzigen Gedichtzeile eines altenglischen Autors. Woher kommen die Monster? Aus dem „Beowulf“. Und woher Túrin Turambar. Aus dem finnischen Nationalepos „Kalevala“, wo er u.a. als Kullervo auftritt (neben Zauberern, Schmieden und holden Maiden).

Sind also die Orks mit den deutschen Feinden in den Schützengräben gleichzusetzen, fragt sich der junge Leser, und die Drachen mit Panzern und Flammenwerfern. So einfach liegt die Sache dann doch nicht, erklärt der Autor in mehreren Kapiteln, im Epilog und sogar noch im Nachwort. Man sieht: Es ist für ihn eine zentrale Frage, wie wörtlich wir die Werke nehmen dürfen bzw. sollen.

Über Drachen

In dieser wichtigen Frage, die die Relevanz der Bücher betrifft, kommt der Autor zu einigen interessanten Aussagen. So sind Drachen usw. sowohl eine poetische Umsetzung der Kriegsphänomene, gleichzeitig aber auch literarische Erbschaften aus der Literatur, mit der sich Tolkien Zeit seines Lebens beschäftigte, etwa im „Beowulf“. Doch dieses Epos wurde von einem Christen verfasst. Warum sollte er an die Existenz von Drachen geglaubt haben, da sie ja nicht mal in der Bibel vorkommen? Drachen, drängt sich der Verdacht auf, haben eine metaphorische Bedeutung, die weit über ihre konkrete Form hinausgeht.

Die Drachenkrankheit

Diese Metapher haben beispielsweise die Drehbuchautoren für die HOBBIT-Trilogie voll und ganz kapiert. Ein Drache ist eine INNERE Gewalt, die auf Neid, Gier und Missgunst reagiert. Folglich versteht diese Gewalt, die ein Teil von uns ist, diese negativen Empfindungen voll und ganz. Man nehme dazu noch Raffgier und Vernichtungswillen – fertig ist Smaug, der Goldene, die „entsetzlichste aller Katastrophen unseres Zeitalters“, wie Bilbo ihn (scheinbar ehrfurchtsvoll) tituliert.

Peter Jackson gab seinen Schauspielern und Sprechern die Losung aus: „Stellt euch vor, ihr wolltet Hannibal Lecter eine Erbse vom Teller klauen.“ Und Lecter ist der Inbegriff des Psychopathen, wie jeder weiß. Thorin, nunmehr König unter dem Berge, wird langsam zu Lecter, erfasst von Goldgier und der „Drachenkrankheit“.

Realistisch

Drachen, Elben und Orks sind also nicht wörtlich zu verstehen. Realistische Darstellung ist aber kein Vorrecht der Menschen. Tolkien zeichnete in den Halblingen jene Menschen in seinem Heimatdorf Sarehole nach. Und als er sie in Schlachten mit fünf Heeren schickte, da wusste er genau, wovon er schrieb. Die Totensümpfe des „Herrn der Ringe“ sind ebenso wenig ein Hirngespinst eines Dichters – an der Somme und in Ypern brauchte ein Soldat nur wenige Schritte ins Niemandsland zu machen und da waren sie: die Gesichter der Toten in den Teichen der Granattrichter …

Die Geschichten

Das Buch liefert einen ausgezeichneten Zugang zu den Geschichten selbst. Tatsächlich bilden sie den zweiten Schwerpunkt. Wer gerade zum ersten mal „Das Silmarillion“ (1977) gelesen und nur „Bahnhof“ verstanden hat, der findet zu seinem Erstaunen den Schlüssel zum Verstehen dieser Geschichten. „Die Musik der Ainur“ (ca. 1919), „Tuor und der Fall von Gondolin“ (1916), „Die Geschichte von Tinúviel“ und „Die Geschichte von Turambar“ (beide 1917) sind auch in der Version 1977 immer noch umwerfende epische Texte, die im Gedächtnis bleiben.

Hier werden sie kompetent im Zusammenhang interpretiert und literaturwissenschaftlich bewertet. Ihre spätere Entwicklung wird aufgezeigt, der Ursprung in Tolkiens Leben und Literaturtheorie aufgezeigt. Damit kann jeder „Silmarillion“-Leser etwas anfangen und einen saftigen Erkenntnisgewinn nach Hause tragen – beispielsweise um „Die Kinder Húrins“ mit anderen Augen zu lesen.

Die Übersetzung

Der Text war sicherlich nicht leicht ins Deutsche zu übertragen. Allein schon die zahlreich erwähnten Gedichte in deutscher Übertragung aufzufinden und zu referenzieren, war Teil einer umfangreichen Arbeit, die sich aus der umfangreichen Bibliografie erahnen lässt. Dennoch lässt sich der Haupttext – für einen Literaturwissenschaftler oder fachkundigen Laien – relativ gut verstehen und flüssig lesen.

S. 56: „Tritinity College“. Gemeint wohl das Trinity College.

210: „Zu Wisemans großen Bestürzung“. Der Dativ wäre korrekt. Es muss heißen: „Zu W’s großer Bestürzung.“

247: „Bradnam“: Eigenname, der korrekt sein kann oder nicht, aber ich bin sicher, an anderer Stelle „Bradman“ gelesen zu haben. In Ermangelung eines Stichwortverzeichnisses kann dieser Zweifelsfall nicht entschieden werden.

259: „Divsion“ statt „Division“.

277: „die erste Patrouille hatte den ersten Graben erreicht[e] und…“ Das E ist fehl am Platz.

322: „die Regenbogenbrücke Bifrost“: Bei uns ist sie besser als „Bifröst“ bekannt.

355: „kamen die ersten germanischen Seeleute von Angeln aus über die Nordsee nach Holderness“ (wo Tolkien 1917 stationiert war). Einen Ort namens „Angeln“ dürfte man auf den historischen Landkarten vergeblich suchen. Es war ein STAMM namens Angeln, der nach England übersiedelte. Sein Siedlungsgebiet lag in Norddeutschland.

367: „um ihre[n] jetzige Lage“. Da N ist überflüssig.

Unterm Strich

„Tolkien und der Erste Weltkrieg – Das Tor zu Mittelerde“ reiht sich nahtlos ein in die Phalanx von beschreibenden Büchern wie Carpenter Biografie, Shippeys Literaturanalysen und Days Quellenuntersuchung („Tolkiens Welt“). Es füllt eine Lücke, die Tolkiens früheste Mittelerde-Geschichten betrifft, nämlich den Einfluss der TCBS-Mitglieder zu beleuchten.

Das Buch ist flüssig zu lesen, wenn man es nicht übertreibt. Besonders im Epilog und im Nachwort – rund 75 Seiten – musste ich ein paar Pausen machen. Das half mir beim Verstehen zentraler Aussagen. So wurde mir etwa klar, warum Schlachten im Legendarium ein so wichtige Rolle spielen und wie sich Tolkien selbst einbrachte.

Tolkien ist sein Seelenwanderer Eriol, der sich ins Feenland verirrt, um dort schreckliche Kriegs- und Liebesgeschichten zu hören: Er ist wie ein gebildeter Engländer, den es in eine unwirkliche Welt verschlagen hat, nämlich mitten in die Schrecken der Somme-Schlacht. Elfland und der Große Krieg – sie sind ein und dasselbe, wenn es um die Psychologie des Wanderers geht.

Aber ebenso wichtig war dem Katholiken die Heilsgeschichte. Earendel trägt das Licht des letzten Silmaril (den Tinúviel von Melkos Eisenkrone schnitt), um den Menschen Hoffnung zu bringen und Erlösung zu versprechen, wie es der christliche Glaube tut. Der letzte Silmaril – das ist der Abendstern, die Venus.

Gebundene Ausgabe: 464 Seiten
Info: Tolkien and the Great War, 2003/2004
Aus dem Englischen von Birgit Herden und Marcel Aubron-Bülles
ISBN-13: 978-3608960594

www.klett-cotta.de

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