Jonathan Carroll – Wenn Engel Zähne zeigen

Dem Tod ein Schnippchen schlagen

Der US-amerikanische Fernsehmoderator Wyatt Leonard wird von seiner ehemaligen Freundin Sophie Chapman gebeten, ihr den einen Lebenswunsch zu erfüllen, den er ihr versprochen hat: Er soll für sie ihren verschwundenen Mann Jesse suchen. Der sei vermutlich irgendwo in einem weit entfernten Land, das sich Österreich nennt. Der Haken: Wyatt hat Leukämie und glaubt nicht, dass er eine solche Reise überleben wird. Doch er ahnt nicht, dass er über eine bemerkenswerte Fähigkeit verfügt – er kann Tote zum Leben erwecken…

Der Autor

Jonathan Carroll wurde 1949 in New York City geboren. Sein Vater war Drehbuchautor, seine Mutter Schauspielerin. Seit knapp zwanzig Jahren lebt er in Wien und unterrichtet an der American International School. Als Amerikaner in Wien hat er die Mythen und Märchen dieses städtischen Mikrokosmos erkundet und für seine fantasievollen Werke genutzt. Er ist einer meiner Lieblingsschriftsteller.

Carroll, geboren 1949 ( oder ’45, je nach Quelle), unterrichtet in Wien an der American International School, u.a. Engl. Literatur und Creative Writing. Er war Buchrezensent und veröffentlichte 1980 seinen Erstlingsroman „Land des Lachens“, das binnen kurzem zu einem Untergrund-Kultbuch wurde.

Seither hat er sich durch zahlreiche phantastische Romane mit hintergründiger und herausfordernder Symbolik, die fast alle in der Gegenwart spielen, einen Namen gemacht. Einmal wurde er bei einer Lesung von einem wütenden Leser attackiert, erzählte er mir auf der Frankfurter Buchmesse. Denn in seinem Roman „Laute Träume“ (Bones of the Moon, 1987) lässt er die Heldin ihr Kind abtreiben, und dagegen hatten gewisse Leute etwas.

Zu seinen bislang übersetzten Romanen zählen „Wenn Engel Zähne zeigen“ und „Pauline, umschwärmt“ (siehe meinen Bericht) sowie „Fieberglas“. Seine Stories sind in „Die panische Hand“ (bei Suhrkamp wie alle Taschenbücher) gesammelt, ein Band, den ich empfehlen kann. Mehr Info in der Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Jonathan_Carroll.

Wichtige Werke (laut Wikipedia):

Die Rondua-Bücher

• 1987 Bones of the Moon (dt. 1988 unter dem Titel »Laute Träume« bei Suhrkamp)
• 1988 Sleeping in Flames (dt. 1990 unter dem Titel »Schlaf in den Flammen« bei Suhrkamp)
• 1989 A Child Across the Sky (dt. 1992 unter dem Titel: »Ein Kind am Himmel« bei Suhrkamp)
• 1994 From the Teeth of Angels (dt. 1995 unter dem Titel »Wenn Engel Zähne zeigen« bei Europa, später als Taschenbuch bei BTB)
• 1991 Outside the Dog Museum (gewann den British Fantasy Award, dt. 1993 unter dem Titel »Vor dem Hundemuseum« bei Insel)
• 1992 After Silence (dt. 1995 unter dem Titel »Wenn die Ruhe endet« bei Suhrkamp)

Die Crane’s-View-Bücher

• 1998 Kissing the Beehive (dt. 1999 unter dem Titel »Pauline, umschwärmt« bei Europa)
• 1999 The Marriage of Sticks (dt. 2002 unter dem Titel »Fieberglas« bei Eichborn)
• 2001 The Wooden Sea (dt. 2003 unter dem Titel »Das hölzerne Meer« bei Eichborn)

Weitere Romane

• 1980 The Land of Laughs (dt. 1986 unter dem Titel »Das Land des Lachens« bei Suhrkamp)
• 1982 Voice of our Shadow (dt. 1989 unter dem Titel »Die Stimme unseres Schattens« bei Suhrkamp)
• 1990 Black Cocktail (dt. 1993 unter dem Titel »Schwarzer Cocktail« bei Heyne)
• 2002 White Apples (noch nicht übersetzt)
• 2006 Oko dnia (polnisch; engl.: Eye of the Day)
• 2008 The Ghost in Love (polnisch 2007)
• 2014 Bathing the Demon

Novellen

– The Heidelberg Cylinder (2000) (nur 1000 Exemplare)
– Teaching the Dog to Read (2015)

Kurzgeschichtensammlung

• 1996 The Panic Hand (gewann den Bram Stoker Award als beste Kurzgeschichtensammlung, dt. 1989 unter dem Titel »Die Panische Hand«, bei Suhrkamp)
– The Woman Who Married A Cloud: Collected Stories (2012)

Nonfiction

– The Crow’s Dinner (2017)

Handlung

Der US-amerikanische Fernsehmoderator Wyatt Leonard hat von seiner Schwägerin Sophie Chapman einen langen Brief erhalten, in dem ihr Mann Jesse Chapman vom Urlaub auf Sardinien erzählt, den er mit seiner Frau verbracht hatte – einfach grässlich, bis auf ein sonderbares Pärchen. Miep ist eine aufgeweckte Holländerin, die an luzides Träumen glaubt. Ihr Freund Ian McGann ist ein langweiliger Schwätzer, außer in jenem Moment, als er von einem Traum erzählt, in dem er dem Tod begegnete. Der Tod, verkleidet als sein alter Freund Larry, verspricht Ian Antwort auf alle Fragen – doch muss er die Antwort verstehen, sonst zahlt er mit dem Leben. Ein echt schräger Vogel also, dieser McGann.

Sophie meldet sich eine Woche, nachdem sie Wyatt Jesses Brief gezeigt hat, bei ihm und ihrer Schwägerin Caitlin (geborene Chapman), weil ihr Mann Jesse, der in Wien bei einer Wohnungsvermittlung für Ostblock-Flüchtlinge arbeitete, seit vier Tagen verschwunden sei. Sophie stört Wyatt in seiner Lektüre über Leukämie, jener Krankheit, die er inzwischen an sich diagnostiziert hat.

Aber Sophie legt ihm die Daumenschrauben an und bittet ihn, ihr den einen Lebenswunsch zu erfüllen, den er ihr beim letzten Zusammensein versprochen hatte: Er soll für sie den verschwundenen Jesse suchen. Jawohl, in jenem weit entfernten Land, das sich Österreich nennt. Der Haken: Der Leukämie-kranke Wyatt glaubt nicht, dass er eine solche Reise überleben werde. Aber Sophie bleibt hart.

Was sie nicht weiß: Wyatt hat bereits einmal in L.A. nähere Bekanntschaft mit dem Tod geschlossen. Der trat in Gestalt eines Polizisten auf. Genau wie Ian McGann darf Wyatt dem Tod Fragen stellen. Er muss nur die Antworten verstehen, sonst ist er geliefert – und er behält Narben zurück. Aber es gibt Hoffnung: Der Tod verrät Wyatt, dass er bis zu seinem Ableben absolut freien Willen habe. Na dann: viel Glück!

Wien

Der Flug nach Wien ist strapaziös gewesen, und Wyatt pfeift auf dem letzten Loch. Kaum auf dem Flughafen nagekommen, läuft er der amerikanischen Schauspielerin Arlen Ford über den Weg, die er mal in einer seiner Shows hatte. Nach ihrem Abschied von der Leinwand lebt sie in einer Villa außerhalb Wiens. Neben ihr steht ein lässig gekleideter Mann, und der ist auch Caitlin alles andere als sympathisch.

Das Taxi bringt sie in die Laimgrubengasse, doch sie erhalten keinen Einlass. Jesse weigert sich, irgendjemand zu empfangen, sagt Sophie über die Haussprechanlage. Vielmehr will sich Sophie mit ihnen in einem Café in der Nähe treffen. Es dauert eine Weile, aber dann taucht eine völlig in Tränen aufgelöste Sophie auf. Sofort kümmert sich Caitlin um ihre Schwägerin. Das Problem sei Jesse, sagt das nervliche Wrack: Er wolle nur mit Wyatt sprechen und sonst niemanden sehen. Sie wisse nur so viel, dass Jesse Ian und Miep McGann in London und Venedig gesucht und gefunden habe.

Jetzt ahnt Wyatt bereits den Zustand, in dem sich Jesse Chapman befindet, voraus: Es ist der gleiche wie bei McGann. Als er die Treppe zum dritten Stockwerk erklommen hat, ist Wyatt außer Atem. Und Jesse, der ihm öffnet, sieht auch nicht viel besser aus, mit seinem Arm in einem blutigen Verband. Bei einem Drink oder zweien erzählt Jesse seine unglaubliche Geschichte, wie auch er einen Pakt mit dem Tod abgeschlossen hat…

Mein Eindruck

Wie so häufig in seinen Romanen entführt der Autor seinen Leser in die Grenzbereiche der menschlichen Erfahrungswelt. Diesmal geht es um die Begegnung mit dem Tod, also dem ultimativen Geheimnis. Kommt da noch was nach dem Sterben, oder kann man dem Sensenmann noch andere Fragen stellen´, versuchen die todkranken Helden der Geschichte herauszufinden. Doch die Antworten, die sie erhalten, sind meist nicht nach ihrem Geschmack, sondern obendrein lebensgefährlich – siehe den Verband um Jesse Chapmans Arm.

Mr. Death

Der Tod weiß nämlich, dass er alle Karten in der Hand hält. Das macht das Spiel mit den Todkranken, die bei ihm Antworten suchen, für ihn so unterhaltsam. Die Lebenden müssen allerdings erst noch auf die harte Tour herausfinden, wie sie erstens richtige Fragen stellen und Antworten erhalten, ohne verletzt zu werden. Und zweitens erhalten sie vom Tod Einblicke in ihr eigenes Sein, die sie ebenso überraschen wie andere.

Wyatt Leonard

Nehmen wir beispielsweise Wyatt Leonard, der in seinen TV-Shows so gerne Finky Linky gespielt hat, einen unterhaltenden Clown. Doch im Verlaufe seiner intimer werdenden Bekanntschaft mit Mr. Death erkennt er zu seiner Verwunderung, dass er ein Totenleser ist. Er braucht dazu nur auf einen x-beliebigen Friedhof zu gehen und die Hand auf einen Grabstein zu legen, und schon kann er die Lebensgeschichte des oder der Toten von Anfang bis Ende erzählen. Dass besonders die Lebensgeschichten der Namenlosen, für die ein spezieller Friedhof reserviert wurde, interessant sind, acht Wyatt zu einem Sprecher für die Toten: Hier liegen die Selbstmörder in ungeweihter Erde, oder andere, denen die katholische Kirche die letzte Ehre verweigerte.

Arlen Ford

Oder nehmen wir Arlen Ford, die ausgebrannte, außerhalb Wiens zurückgezogen lebende Filmschauspielerin. Sie ist Wyatt gut bekannt, da er sie in seiner TV-Show hatte. Nun macht sie die Bekanntschaft eines jugoslawischen Fotografen, der sich Leland Zivic nennt und angeblich in London lebt. Leland schickt Arlen so bewegende Bilder aus dem eingeschlossenen und permanent beschossenen Sarajewo (ca. 1992), dass sie ihn unbedingt sehen will. Eine Liebesgeschichte entwickelt sich, als er sie besucht und auch mit ihrer Hündin Millie innige Freundschaft schließt.

Arlen ist so froh, wieder mit jemandem eine emotionale Beziehung eingehen zu können, dass sie sämtliche Warnzeichen ignoriert. Er will sie nicht berühren, nicht mit ihr schlafen, sagt, er sei HIV-infiziert und vieles mehr. Wenn sie ihn überraschen will, ist er schon abgereist. Doch als er zurückkehrt, entführt er sie nach London, Venedig, Wien. Sie ist hingerissen und ihm verfallen – der ideale Zeitpunkt, ihre kleine Welt zum Einsturz zu bringen. Denn in Leland verbirgt sich natürlich Mr. Death himself. Der Tod ist vielgestaltig und benutzt viele Namen, um seine Opfer fertigzumachen.

Dem Tod ein Schnippchen

Arlen Fords Begegnung mit dem Tod unterscheidet sich grundlegend von denen, die die Männer erleben. Sie muss keine Fragen stellen, hat keinerlei Verletzungsrisiko – ihre Verletzungen sind viel tiefergehend: emotional und psychisch. Doch sie findet eine Möglichkeit, dem Tod Paroli zu bieten, nachdem sie mit Wyatt gesprochen hat. Zusammen sind sie in ein Kinderkrankenhaus gegangen, wo „Finky Linky“ die kranken Kinder bestens unterhalten hat. Auf der Sterbestation ist Arlen das Verhalten eines Mädchens aufgefallen, das dem Tod bereits ins Auge geschaut hat. Diese Erkenntnis bringt Arlen auf eine geniale Idee, wie man dem Tod ein Schnippchen schlagen kann…

Unterm Strich

Der Text liest sich ganz natürlich, wie alle Romane von Carroll. Doch was hier so realistisch berichtet wird, ist im höchsten Grade ungewöhnlich. Wer kann schon behaupten, er habe mit dem Deal einen Deal abgeschlossen? Wer kann behaupten, den Tod verärgert zu haben, weil er ihn überlistet hat? Was so ungewöhnlich an Arlen Ford ist, der dieses Kunststück gelingt, muss sich der Leser selbst zusammenreimen. Sie hat keine ungewöhnliche Fähigkeit wie etwa das Totenlesen, das Wyatt an sich entdeckt.

Wie immer führt der Autor seinen Leser in das verzweigte Leben seiner Figuren detail- und kenntnisreich ein. Immer wieder tauchen die Versatzstücke seiner eigenen Realität auf, so etwa die American International School in Wien oder das Filmgeschäft in Hollywood oder die verwinkelten Gassen der „Metropole des Stillstands“, wie er Wien nennen lässt. Die lange Geschichte dieser Kaiserin des Balkans kennt er aus dem Effeff. Daher sind ihm auch die Anekdoten über die Namenlosen auf dem Friedhof bekannt. Alles im allem ist der Roman ein Triumph des realistischen Erzählstils – und doch zutiefst phantastisch.

Mein Leseerlebnis

Ich habe für dieses Buch etwas länger als sonst gebraucht, denn lange Zeit fragte ich mich, was denn Arlen Ford mit ihrer anrührenden Liebesgeschichte mit dem etwas dramatischeren Lebensweg von Wyatt Leonard zu tun habe. Bis zum Showdown mit dem Tod gibt es keine Verbindung zwischen diesen zwei Erzählsträngen, doch dann geht es richtig zur Sache. Das Ergebnis der finalen Konfrontation entzündet den Funken der Hoffnung im Leser. Aber Engel konnte ich trotzdem keine entdecken…

Mein Gedanke war: „Er hat’s mal wieder geschafft, dieser Carroll!“ Er hat es geschafft, dass ich über den Tellerrand meines eigenen begrenzten Lebens hinausblickte und selbst die Wahrheit, was die anderen über mich denken, verkraftete – um aus dem, was Arlen entdeckt, neue Hoffnung zu schöpfen. Ich kenne kaum einen anderen Schriftsteller, der über solche Grenzen hinausgeht.

Zitat

Pat Conroy, ebenfalls ein erfolgreicher Schriftsteller, bringt meinen Eindruck auf den Punkt: „Jonathan Carroll schreibt Bücher, die in die Grenzbereiche des Seins vorstoßen. Sein Terrain ist die dunkle Seite des Alptraums. (…) Mr. Carroll unterhält und lässt uns schaudern.“

Hardcover: 264 Seiten
Originaltitel: From the Teeth of Angels, 1994
Aus dem Englischen von Sabine Hübner
ISBN-13: 978-3203512488

https://www.europa-verlag.com/

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