José Pierre – Thérèse oder Die Kastanienblüte. Erotischer Roman

Die Tücken der Liebe im Viereck

Francis, der Ich-Erzähler, erinnert sich an jene junge Frau, in deren Bann er, sein älterer Bruder Philippe und Florence, seine kindhafte Freundin, während eines Sommers standen, der vom Aufflammen spontaner Gefühle und dem Taumel der Sinne erfüllt war. Sie gewährt Einweihung in die Mysterien des Fleisches und kundige Führung auf den vielfältigen Wegen der Lust. Sie wird den ihr und einander Verfallenen Mittelpunkt des Lebens und „maitresse de plaisir“… (gekürzte Verlagsinfo)

„«Die Frau, die, mit Baudelaire zu sprechen, in meinen Träumen und in meinen Tagen der tiefste Schatten war und das hellste Licht, ist Thérèse, die Braut meines Bruders, später seine Frau … Alle Regungen ihres Herzens und ihres Leibes kannten nur ein Ziel: die Begierden sich entfalten zu lassen und die Lust zu beschützen vor den Wechselfällen des Schicksals, vor den Bedrohungen durch den Zufall – Thérèse, schöne, kapriziöse Verwirklicherin der Phantasie.» (Verlagsinfo)


Der Autor

José Pierre (* 1927 in Bénesse-Maremne, Landes; † 7. April 1999 in Paris) war ein französischer Kunsthistoriker und Erzähler, der nach dem Zweiten Weltkrieg zu den Mitgliedern der Gruppe der Surrealisten um André Breton zählte. 1971 organisierte er in Köln die Ausstellung „Der Geist des Surrealismus“. Sein Romandebüt anno 1974 war „Therèse oder Die Kastanienblüte“ (Rowohlt, 1978, HC).

Handlung

Niemand in der Familie hätte es Philippe Fleur zugetraut, eines Tages mit einer Freundin aufzukreuzen und zu verkünden, dass er sie heiraten wolle. Am wenigsten Francis, der Ich-Erzähler und Philippes jüngerer Bruder. Doch Thérèse, so heißt die Braut in spe, übt einen solchen Zauber – einen „Charme“ – auf die Familie aus, dass man die Waffen streckt und die neunzehnjährige Philosophiestudentin uneingeschränkt willkommen heißt.

Worin dieser Zauber eigentlich besteht, findet Francis bald im Selbstversuch heraus. Er braucht nur mit der grazilen Brünetten zu tanzen und schon bekommt er einen Ständer. Das bringt sie keineswegs in Verlegenheit, sondern sie drückt ihren Körper mit den zahlreichen weiblichen Rundungen umso enger an ihn. Seinen Bruder scheint diese Tuchfühlung nicht zu stören, ja, er bemerkt die Annäherung gar nicht: Er muss das Abschlussexamen als Ingenieur schaffen, sonst ist seine Zukunft perdu. Und damit ihm nicht die Hormone in die Quere kommen, an denen schon viele seiner Altersgenossen gescheitert sind, enthält er sich der Liebe. Der Teufel Alkohol ist ihm dabei ein williger Helfer.

Das frustriert nun aber erwartungsgemäß Thérèse. Sie braucht einen Mann, und da Francis unübersehbar in sie verliebt ist, gewährt sie ihm einen Kuss und nachmittags ein Schäferstündchen in ihrer kleinen Studentenbude. Francis verliert bei ihr seine Unschuld und glaubt sich im siebten Himmel. Sie gönnt ihm sogar einen Blowjob, er kann es kaum glauben. Dass sie eine Kettenraucherin ist, stört ihn nicht im geringsten. Fortan nennt sie ihn „kleiner Bruder“, was dazu passt, dass er sie als seine Mentorin betrachtet.

Die Wartezeit bis zu Philippes Examen wird immer angespannter, und sobald Philippe mit Therese zusammen ist, kann er sich kaum kontrollieren. Zu seiner freudigen Überraschung wirkt Francis als Katalysator, der die Distanz zwischen dem Paar aufzuheben hilft. Therese hat keine Hemmungen, einen der Jungs nach dem anderen zu vernaschen. Zu einem flotten Dreier in der Sandwich-Stellung ist es bestimmt nicht mehr weit, phantasiert Francis. Doch es kommt anders.

Florence

In einer Provinzstadt nimmt sie ihn mit in einen Nachtklub der besonderen Art. Hier kann man tanzen, aber nur mit Mädchen zwischen 15 und 20 Jahren. Thérèse stellt Francis vor und vergattert ihn dazu, nur das zu tun, was sie ihm erlaubt. Er verguckt sich sofort in eine besonders Schöne, die auch Thérèse gefällt. Nach dem gemeinsamen Teilen eines Cocktails sagt sie ihm, dass es sich um Florence handle und bei der Gemeinschaft der Mädchen um den Klub der weißen Lämmchen: Die Mädchen sind nicht nur alle Jungfrauen, sondern obendrein lesbisch – oder auch bi wie Thérèse selbst. Da offensichtlich Not am Mann herrscht, entscheidet sie, dass er und Florence sich miteinander verloben sollen. „Pourquoi pas?“, denkt Francis und umarmt Florence. Thérèse nimmt ihn in den Klub der weißen Lämmchen auf und erklärt ihn offiziell zur „Lesbierin“.

Ein Fest der Libertinage

Nun hat Thérèse alles personal beisammen, das sie braucht, um zu Pfingsten ein großes Sexfest auf einem Schloss zu inszenieren. Dass sie die Regisseurin und eine der Teilnehmerinnen ist, versteht sich von selbst. Nur geladene Gäste sind zugelassen, und sie müssen einem ausgeklügelten Reglement folgen, das sich Thérèse ausgedacht hat: vorherbestimmte Begegnungen, die den Zufall berücksichtigen. Das weibliche Personal stammt vor allem aus dem Klub der weißen Lämmchen, und so kann sich Francis über Aufmerksamkeit von Seiten der holden Weiblichkeit nicht beschweren.

Richard, einer von Thérèses früheren Liebhabern (eigentlich sogar ihr erster, verrät sie), ist der Manager vor Ort und unterhält Francis mit einer pikanten Geschichte über das junge Liebespaar Claire und Daniel, der er kürzlich verführt und heute eingeladen hat. Derart eingepeilt und von der jungfräulichen (!) Catherine auf Touren gebracht, erklärt sich Francis zu einem flotten Dreier mit seinem Bruder und Thérèse bereit. Er hat ja seine Geliebte schon zuvor anal beglücken dürfen, nun fällt es ihm nicht mehr schwer.

Die nächste Station ist für Francis natürlich seine „Verlobte“, Florence. Die wartet schon frustriert im „Zimmer der Frischvermählten“: keiner darf sich für sie interessieren. Kaum tritt Francis in ihr Zimmer, fällt sie ausgehungert über ihn her…

Mein Eindruck

Philippe und Thérèse heiraten, sobald sie ihre Uni-Abschlüsse gemacht haben, auch Francis und Florence bleiben – vorerst – nach dem Schulabschluss zusammen. Sie scheinen zwei Ehepaare zu sein und geben sich im Hotel des Flughafens Orly (CDG war noch nicht fertig) auch als zwei Ehepaare aus. Für eine kurze Zeit quartieren sie sich im Haus der Eltern ein und erleben eine Zeit des geteilten Glücks. Bis Thérèse gelangweilt ist und über die Stränge schlägt. Und dass sich Philippe über Florence hermacht, schmeckt Francis auch nicht besonders.

Eine zweite Rückblende auf Thérèses vorheriges Leben soll ihr anmaßendes Verhalten verständlicher machen. Bevor sie Philippe kennenlernte, war sie mit dem Päderasten Richard zusammen. Aber bevor sie sich von Richard aus dem Elternhaus „entführen“ ließ, hatte sie ein intensives Verhältnis mit ihrem eigenen Vater. Sie verführte ihn mehr oder weniger, was aber für sie einen handfesten Triumph über all die Liebschaften bedeutete, die ihr Vater an der Hand hatte. Da aber moralische Bande offenbar keine Rolle spielen, neigt Thérèse immer stärker zur Libertinage und merkt immer wieder, dass sie damit durchkommt.

Die Tücken der Liebe im Viereck

Zumindest bis zu jenem Tag, an dem Francis ihr ein Geschenk der süßen Berthe (die er inzwischen zur Hetero-Liebe bekehrt hat) überbringt: ein Anschnall-Dildo, der hier irrtümlich als „Godemiché“ bezeichnet wird. Im 18. Jahrhundert, das ja in der Schloss-Episode ausführlich zitiert und imitiert wird, war ein Godemiché ein sehr beliebtes Liebeswerkzeug für einsame (und weniger einsame) Dame: ein aus Keramik usw. hergestellter Dildo, der sich – und das ist entscheidend – mit einer Flüssigkeit füllen ließ. Häufig wurde heiße Milch usw. verwendet.

Nun, Thérèse fackelt nicht lange und fällt mit dem Dildo umgeschnallt über ihre drei Liebenden her. Philippe und Francis verweigern sich ihr. Besonders brutal greift Thérèse die arme Florence an und stößt ihr den Dildo in den Hintern. Diese Aggressivität kann Francis nur wenige Momente aushalten, dann trennt er die beiden Frauen. Das bedeutet das Ende des goldenen Sommers zu viert, denn gleich danach, Ende Juli, muss Philippe nach Pnom Penh in Kambodscha, um auf einer französischen Mine als Ingenieur zu arbeiten, selbstverständlich begleitet ihn seine Frau.

Historische Tage 1968

Das letzte Zehntel des Romans verortet das geschehen in der Historie, denn sowohl Florence als auch Philippe geraten in die heißen Tage des Studentenaufstands an der Pariser Sorbonne 1968. Er wird von der Polizei blutig niedergeschlagen, und Florence wird auf der Wache eingesperrt. Dieser kurze Abschnitt von etwa 15 bis 20 Seiten ist sehr anschaulich geschildert, so als wäre der Autor selbst dabei gewesen. Fehlt nur noch, dass Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir auftreten, um den Studenten ihre Solidarität zu bekunden.

Doch so weit kommt es nicht, und so trennen sich die Wege des Quartetts nacheinander. Ja, auch Florence mag nicht bei Philippe bleiben, sondern ihren eigenen Weg gehen, um die verkalkte Nachkriegsgesellschaft zu reformieren. Der Sommer ist gewaltsam beendet worden, und jeder hat die Unschuld der Jugend verloren.

Die Übersetzung

Der Autor hat die ärgerliche Eigenart, zahlreiche Anmerkungen und Leseransprachen in Parenthese zu setzen. Diese Sätze in Klammern tauchen an den unwillkommensten Stellen auf, so dass selbst an den spannendsten und intensivsten Stellen immer wieder eine höhere Meta-Ebene etabliert wird. Dies spricht zwar für die Intelligenz des Autors, der sich dessen bewusst ist, was er das erzählt, aber nach einer Weile wirkt diese ungewöhnliche Stilfigur doch nervtötend, selbst wenn sie ironisch gemeint ist. Die beiden Übersetzer übernehmen alle Parenthesen ohne Veränderung.

S. 84: „al[l]es im Geschmack des 18. Jahrhunderts…“: Das zweite L fehlt.

Was es denn nun mit der mysteriösen titelgebenden Kastanienblüte auf sich hat, wird nirgendwo erklärt. Unbestätigten Internetinformationen zufolge riechen Kastanienblüten, wenn sie im Mai/Juni blühen, wie männliches Sperma. Das kann nur eingeschränkt zutreffen, weil sich besagtes Sperma je nach Ernährungsweise im Geruch ändert.

Unterm Strich

Wer als Erwachsener eine anregende Nachttisch- und Bettlektüre sucht, ist hier genau richtig. Jugendliche unter 16 Jahre seien ausdrücklich gewarnt: Hier werden zahlreiche Spielarten der sexuellen Liebe durchexerziert. Zum Glück bleiben zwar Tiere und Kinder außen vor, doch hier kann schon mal der Vater mit der Tochter muntere Spiele treiben. Besonders beliebt ist durchwegs die Liebe durch den Hintereingang.

Wem dies zu stressig erscheint, der kann sich an zahlreichen humorvollen und ironischen Szenen und Sentenzen erfreuen. Diese werden in der Schloss-Episode, dem Hauptstück der ersten Romanhälfte, eifrig durchexerziert, wenn es jede mit jedem und so weiter treibt – d.h. alle außer Florence, die im „Zimmer der Frischvermählten“ darben muss, bis ihre Verlobter Francis sie endlich aus ihrem „Dornröschen“-Schlaf erlöst. Dann fällt sie wie ein ausgehungerter Tiger über ihn her.

Während diese Spiele im Schloss abseits der bürgerlichen Gesellschaft quasi in einem Disney-Ferienpark der Liebe stattfinden, zeigt das Quartett, dass es auch im Alltag der Bürgerlichkeit möglich ist, der Libertinage zu frönen – solange man genug Alkohol zur Verfügung hat. Hinterher ist der Kater natürlich groß, aber wozu gibt es denn Putzpersonal? Man sieht, dass das Quartett ganz schön privilegiert ist.

Alle schauen auf Florences Vater herab, weil der als Gewerkschafter bei Renault, diesem Konzern der imperialistischen Kapitalisten, arbeitet. Vielleicht ist es genau dieser Standesunterschied, der am Ende dazu führt, dass Florence ihren „Verlobten“ Francis verlässt. Standesdünkel vereint sich hier mit Heuchelei. Libertinage scheint nur im Unschuldsland der „Lämmchen“ stattfinden zu können. Gut möglich, dass der Autor ein kritisches Gesellschaftsporträt im Sinn hatte, es aber unter dem Deckmantel der Erotik geschickt zu verbergen wusste.

Taschenbuch: 198 Seiten
O-Titel: Qu‘est-ce que Thérèse? C’est les maronniers en fleurs, 1974
Aus dem Französischen von Erika und Karl A. Klewer
ISBN 9783499145056

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