Josh Malerman – Bird Box. Schliesse deine Augen

Mysteriöse Wesen, deren Anblick jeden Menschen in den Tod treibt, haben die Erde besetzt. Nur kleine Menschengruppen überleben, weil sie sich verstecken und ihre Augen bedecken, wenn sie sich ins Freie wagen. Malorie und ihre beiden Kinder müssen ihr Haus verlassen und über einen Fluss eine neue Heimstatt erreichen … – Das Grauen bleibt stets unsichtbar und deshalb besonders erschreckend. Für echte Schreckensmomente sorgt beinahe ausnahmslos der Mensch. Die simple, aber gut entwickelte Idee wird zudem nicht ausgewalzt: spannendes Grusel-Kammerspiel.

Das geschieht:

Vor vier Jahren dachte Malorie, dass primär ihre unverhoffte Schwangerschaft ein Problem darstellen würde. Sie zog zur Schwester Shannon, obwohl sich die beiden Frauen nicht besonders gut vertrugen. Für Ablenkung sorgten Nachrichten über bizarre Vorfälle, die sich zunächst beruhigend fern in Russland ereigneten, dann aber auch Nordamerika und den Rest der Welt in Mitleidenschaft zogen: Menschen werden zu Mördern und Selbstmördern, nachdem sie ‚etwas‘ gesehen haben.

Was es ist, das ihnen den Verstand raubt, bleibt rätselhaft. Aus wenigen Indizien reimen man sich zusammen, dass – außerirdische? – Kreaturen verantwortlich sind: Ihr Anblick wirkt so verstörend, dass der menschliche Verstand kapituliert und in den Tod flüchtet. Auch Shannon fällt den ‚Aliens‘ zum Opfer. Hochschwanger flüchtet Malorie zu einer Gruppe, die sich gut mit Lebensmitteln versorgt in ein sorgfältig blickdicht gemachtes Haus auf dem Land zurückgezogen hat. Dort will man die Katastrophe aussitzen. Stattdessen bricht die Zivilisation zusammen. Was immer seinen Weg auf die Erde gefunden hat, bleibt präsent. Zwar greifen die Wesen nicht offen an, doch sie zeigen sich – und lösen damit den (Selbst-) Mordimpuls aus.

Der Weg ins Freie ist nur möglich, wenn man eine Augenbinde trägt. Die Ohren müssen die Orientierung übernehmen, was nur allmählich und nie perfekt gelingt. Die kleine Gruppe schmilzt zusammen. Malorie bringt ihr Kind – eine Tochter – zur Welt und ‚adoptiert‘ einen männlichen Säugling. Sie drillt den beiden ein, was ein Überleben in der ‚neuen‘ Welt ermöglicht. Schließlich gibt es nur noch Malorie und die Kinder. Das Haus verfällt, die Vorräte gehen aus: Das Trio muss gehen! Einige Kilometer entfernt gibt es eine weitere Kolonie. Der Weg führt über den Fluss. Er muss blind überwunden werden, doch nicht nur die Wesen sind nahe …

Horror durch Verlust des Primärsinns

Der Mensch kann sehen, hören, riechen, schmecken und tasten. In der Gesamtheit ist dies das Quintett, das ihm die Welt zeigt und sein Agieren ermöglicht. Der Verlust einer dieser fünf Sinne ist persönlich tragisch, aber nicht lebensgefährlich: Die anderen Sinne springen ein, und es gibt Unterstützung durch eine Gesellschaft, die den Umgang mit Blinden, Tauben oder Stummen gelernt hat. So wird ihnen ein recht selbstständiges Leben möglich.

Das funktioniert allerdings nur, solange das System existiert. Ohne Unterstützung von außen bricht die künstlich stabilisierte Welt zusammen. Die Katastrophe ist umso größer, wenn sie kollektiv Menschen trifft, die auf den Verlust eines Sinnes nicht vorbereitet sind. Malorie und ihre Leidensgenossen sind nicht wirklich blind. Trotzdem müssen sie auf ihre Augen verzichten.

Dies allein ist für Sehende eine erschreckende Vorstellung. Von allen Sinnen verlassen wir uns am stärksten auf die Augen. Wir sehen, worauf wir zugehen bzw. was sich uns nähert. Darauf fußen unsere Reaktionen. Es genügt bereits, sich in der Dunkelheit einem Wald zu nähern. Was dort raschelt, ist höchstwahrscheinlich der Wind, eine Maus oder ein anderes harmloses Tier. Vor dem geistigen Auge, das ohne Sehnerv arbeitet, schleicht sich stattdessen ein Mörder, ein Vampir oder ein Wolf heran. Das Wissen um die Lächerlichkeit solcher Angstvorstellungen ändert gar nichts an ihrem Erscheinen.

Ich darf nicht sehen, aber sie sehen mich

„Bird Box“ basiert auf einer einfachen Prämisse. Wie so oft ist die simple Idee die beste, wenn sie entsprechend umgesetzt wird. Josh Malerman hat begriffen, wie er sein Thema im Griff behält. Das ist eine Herausforderung, weil der Verlust des Augenlichts einerseits schwierig darzustellen ist, während er andererseits die Handlung limitiert: Mit einer Binde um die Augen ist der Aktionsradius beschränkt. Die Spannung muss sich an dem orientieren, was NICHT mehr möglich ist.

Das gelingt Malerman wie gesagt gut. Das Detail gewinnt geradezu lebenswichtige Bedeutung, wenn es zur Kenntnis genommen und bewertet werden muss. Wo sonst ein kurzer Blick genügt, um die Lage zu klären, ist nun die direkte Konfrontation mit dem Auslöser eines Geräusches notwendig – und potenziell lebensgefährlich. Eine Flussfahrt über einen ruhigen Fluss an einem sonnigen Tag wird auf diese Weise vom Freizeitvergnügen zur Höllenfahrt.

Nicht die Kreaturen, die den Wahnsinn auslösen, stellen die zentrale Gefahr dar. Sie sind offenbar nur ‚da‘, ohne sich den Menschen zu offenbaren oder sie anzugreifen. Womöglich wissen sie nicht einmal, was sie anrichten. Sie sind nur der Auslöser für diese Geschichte. Ist diese in Gang gekommen, werden die Wesen nebensächlich. Es geht darum, ihren Anblick zu meiden und mit den Konsequenzen zu leben – Konsequenzen, die den Untergang sozialer Normen beinhalten.

Der Mensch ist meist das eigentliche Monster

Große Teile der Handlung spielen im Inneren eines Hauses. Die Insassen haben die Fenster abgedeckt und können ihre Augen problemlos nutzen. An der Situation selbst ändert es nichts. Ohne von außen direkt bedroht zu werden, muss die kleine Gruppe ihr Zusammenleben regeln. Die Notwendigkeit wird zwar begriffen, doch da der Mensch nun einmal menschlich ist, folgen keine entsprechenden Taten. Echte Solidarität existiert nur ansatzweise. Immer stärker drängen sich Panik und Ratlosigkeit in den Vordergrund. Schon als Malorie ihre Zuflucht erreicht, muss sie sich quasi für ihre Schwangerschaft rechtfertigen: Mancher ‚Gefährte‘ sieht kein Kind, sondern ein weiteres Maul heranwachsen, dass gestopft werden muss.

So lange die Gruppe existiert, wird der mangelnde Zusammenhalt zum immer größeren Problem. Als Malorie mit den Kindern allein ist, ist sie gezwungen, ‚Mütterlichkeit‘ neu zu definieren. Das „Mädchen“ und der „Junge“ werden nie mit ihren Namen angesprochen. Schon bevor sie laufen oder sprechen können, werden die Kinder auf die veränderte Welt vorbereitet. Mutterliebe wird als Instrument eingesetzt. Aus Kindern sollen – und müssen – Kämpfer werden, die ihre Wehrlosigkeit durch Wachsamkeit und akustisch dominiertes Orientierungsvermögen wettmachen.

Erwartungsgemäß ist das Gleichgewicht, in dem Malorie die Kinder aufwachsen lässt, nur eingebildet und fragil. Das Haus ist Burg und Gefängnis gleichzeitig. Als die Vorräte nur Neige gehen, muss das Trio die Flußfahrt antreten – ein faktisch aussichtsloses Unterfangen, das in der Tat von Anfang an von Zwischenfällen beeinträchtigt wird, auf die man blind reagieren muss. Aus einer Rettungsexpedition wird ein von (blinder) Panik geprägtes Durcheinander. Das Finale ist versöhnlich, aber nicht „happy“ – noch lange, womöglich für immer werden „bird boxes“ – Käfige, in denen wachsame Vögel sitzen, die jeden Eindringling durch lautes Zwitschern melden – und andere Sicherheitsmaßnahmen erforderlich sein.

Nach wenig mehr als 300 Druckseiten endet diese Geschichte, die auf mehreren Zeitebenen parallel erzählt wird; ein Kunstgriff, der die Statik der Handlung aufbricht und der deshalb für den Film (s. u.) übernommen wurde. „Bird Box“ bietet jenen vergleichsweise ‚sanften‘, aber deshalb keineswegs gruselarmen Horror, der jenseits sprudelnder Blutfontänen und brüllender Folter-Dämonen seine Wirkung entfaltet.

„Bird Box“ als Film

Unter der Regie der dänischen Regisseurin Susanne Blier – 2011 mit einem Oscar für „Hævnen“ (dt. „In einer besseren Welt“) ausgezeichnet – wurde „Bird Box“ 2018 der für den Streaming-Dienst „Netflix“ verfilmt. Die Rolle der Malorie übernahm Sandra Bullock, ihre Schwester spielte Sarah Paulson, als Tom trat John Malkovich vor die Kamera: Dies war offenkundig keine Billig-Produktion. Am 21. Dezember 2018 wurde „Bird Box“ ins Netz gestellt.

Schauspielerisch hatten Kritiker und Zuschauer wenig auszusetzen. Weniger positiv wurden diverse Veränderungen der Vorlage aufgenommen, die eine recht statische Handlung anscheinend dramatisch aufwerten sollten. Nichtsdestotrotz wurde der Film zu einem großen (finanziellen) Erfolg.

„Bird Box“ wurde außerdem Quelle eines modernen, „#BirdBoxChallenge“ genannten ‚Wettbewerbs‘: Teilnehmende Schwachköpfe verbinden sich wie die Darsteller des Films die Augen, taumeln in Richtung eines vorab festgesetzten Ziels durch die Landschaft und testen, wie weit sie unverletzt oder lebendig kommen.

Autor

Josh Malerman, geboren am 24. Juli 1975 in Southfield, US-Staat Michigan, war lange vor allem als Sänger und Bandleader der Indie-Rockband „The High Strung“ (seit 2000) bekannt. Schon in seiner Jugend begeisterte sich Malerman außerdem für Horrorfilme und -geschichten. Nachdem er diverse Kurzgeschichten (und Gedichte) verfasst hatte, debütierte er 2014 mit dem Gruselthriller „Bird Box“ (ausgezeichnet mit einem „Bram Stoker Award“ für den besten Debüt-Horrorroman des Jahres), dem er in rascher Folge weitere Phantastik folgen ließ.

Taschenbuch: 318 Seiten
Originalausgabe: Bird Box (New York : Ecco Press/HarperCollins Publishers 2014)
Übersetzung: Fred Kinzel
http://joshmalerman.com
https://www.blanvalet.de

eBook: 2059 (Kindle)
ISBN-13: 978-3-6412-3774-5
https://www.blanvalet.de

Der Autor vergibt: (3.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)