Wandlung eines Soldaten: Rebellen auf dem Mars
Schütze Cade wächst in der imperialen Ordnung auf, die die Planeten Erde, Mars und Venus beherrscht. Schon zehntausend Jahre herrschen Imperator, Statthalter und Feldherren, und der Orden der Schützen ist ihre eiserne Faust. Doch eines Tages gerät der stolze, vollständig indoktrinierte Schütze in die Hände der Rebellen, die den Sturz des Systems und die Errichtung des Menschen-Reiches anstreben. Und auf einmal ändert sich alles.
Die Autoren
„Cyril Judd“ ist das Pseudonym des Autorengespanns Cyril M. Kornbluth und Judith Merril.
1) Cyril M. Kornbluth
Wie auch in dem mit Frederik Pohl geschriebenen Roman „Eine Handvoll Venus und ehrbare Kaufleute“ (1953) nimmt Cyril M. Kornbluth (1923-58) bestimmte Yankee-Eigenheiten satirisch auf die Schippe. Erzählungen wie diese bedeuteten erstmals eine Abkehr von der optimistischen, himmelsstürmenden SF des Golden Age (Heinlein, Asimov, van Vogt usw.) und eine deutliche Hinwendung zu den „weichen“ Wissenschaften wie Soziologie und Psychologie. Der Mensch – und die Erde – rückten in den Mittelpunkt der Betrachtung und nicht eine Idee aus den technischen Naturwissenschaften, wie sie bislang vorherrschten.
Soziale und menschliche Probleme spielten nun eine Rolle. Auf diese Weise wurde Kornbluth zu einem Wegbereiter der SF der soziologischen, alle Grenzen sprengenden SF der sechziger Jahre (New Wave in USA und GB), die eine Literaturgattung war, die man ernst nehmen konnte (man denke etwa an John Brunners [„Morgenwelt“ 1274 und Thomas M. Dischs „Camp Concentration“). Leider setzte sein früher Tod mit 35 Jahren seiner Karriere ein jähes Ende.
Storysammlungen und Romane
1) Herold im All (Stories, 1968; Goldmann 1969)
2) Der Gedankenwurm (Stories; Suhrkamp 1987)
3) Der Altar um Mitternacht (Stories; Suhrkamp 1987)
4) Ehrbare Kaufleute und eine Handvoll Venus (The Space Merchants, 1953; mit Frederik Pohl; dt. 1971)
5) Welt auf neuen Bahnen (Wolfbane, 1959; mit Frederik Pohl; Goldmann 1972)
6) Gladiator des Rechts (Gladiator-at-law; mit F. Pohl; dt. 1962)
7) Die letzte Antwort (Search the sky, 1954; mit F. Pohl; Heyne 1972)
8) Die Worte des Guru (A mile beyond the moon; Goldmann 1975)
9) Katalysatoren (The wonder effect; mit F. Pohl; Goldmann 1977)
10) Nicht in diesem August (Not this August, 1955; Bastei-Lübbe 1985)
11) Schwarze Dynastie (The Syndic, 1953; Bastei-Lübbe 1986)
12) Start zum Mond (Takeoff, 1952; Pabel, Rastatt 1958)
13) (als Cyril Judd) Die Rebellion des Schützen Cade (Gunner Cade, 1952; mit Judith Merril, Ullstein 1972)
14) (als Cyril Judd) Außenstation Mars (Outpost Mars, 1952; mit Judith Merril, Ullstein 1984)
2) Judith Merril
Judith Merril, geboren 1923 als Juliet Grossman, lebt seit 1968 in Kanada. Von 1949 bis 1953 war Merril die Frau des bekannten SF-Herausgebers Frederik Pohl, der später mit Kornbluth zusammenarbeitete (s. o.). Ihre erste 1948 veröffentlichte SF-Story war „That only a mother“, die innerhalb der weiblichen SF zu den Klassikern zählt. Ihr erster Roman „Shadow on the hearth“ (wörtlich: „Ein Schatten auf dem Herd“) erschien 1950. Darin erlebt eine gewöhnliche Hausfrau den Atomkrieg. Die „SF Enyclopedia“ nennt den Roman eine der besten Geschichten über den nuklearen Holocaust. Die Verfilmung trägt den reißerischen Titel „Atomic Attack“.
„Dead Center“ (1954) erschien in einer Anthologie der besten amerikanischen Kurzgeschichten, und ihre Storysammlung „Daughters of the Future“ (1968) enthält drei bahnbrechende Novellen über Frauen (Mütter, Geliebte etc.) im Zeitalter der Raumfahrt. 1960 erschien mit „The Tomorrow People“ ein schwacher Roman, danach trat Merril vor allem als eine der fleißigsten Herausgeberinnen der SF überhaupt hervor.
In die Literaturgeschichte schrieb sie sich als eine der ersten Verfechterinnen der britischen New Wave in der SF ein. Diese literarische Bewegung verschmolz moderne Themen und Erzählformen mit SF-Motiven. Ihr wichtigster Exponent war J. G. Ballard, der tabubrechende Storys u. a. über J. F. Kennedy, Jacqueline Kennedy und Marilyn Monroe schrieb (in „The Atrocity Exhibition“).
Handlung
Schütze Cade (er hat keinen Vornamen) lebt in einer religiös verbrämten Militärdiktatur. Offiziell dient er dem Imperator, der jedoch durch seinen Statthalter und seine Feldherren vertreten wird. Das ganze System der Klin-Philosophie scheidet den elitären Orden der Schützen von den gewöhnlichen Bürgern, die angeblich keine Ahnung von den Vorrechten der Schützen haben. Schütze fühlt sich entsprechend privilegiert, ein System aufrechtzuerhalten, das angeblich bereits seit zehntausend Jahren besteht. Er verteidigt seine Ordensbrüder gegen jede Beleidigung oder Bedrohung von außen und trägt so zum Erhalt der Diktatur bei. Besonders die Brüder vom Mars vertreten ein paar allzu liberale Ansichten.
Aufgrund seiner vernagelten Froschperspektive hat er keine Ahnung von den Machtspielen des Statthalters und der Feldherren. Sein Truppeneinsatz im Kampf um ein Erzdepot irgendwo in Lothringen führt dazu, dass er in einem umkämpften Haus den Rebellen in die Hände fällt. Eine junge Frau hilft ihm, aber auch sie scheint den Rebellen des so genannten „Kairo-Mysteriums“ anzugehören. Unter Drogen gesetzt und hypnotisiert, wird er in die USA verfrachtet, wo sie ihm befehlen, den Statthalter zu ermorden. Cade, durch harte Ausbildung und Askese zur Disziplin geschult, kann sich dem posthypnotischen Befehl entziehen und die junge Frau täuschen.
Zusammen treten sie als Prostituierte und Freier verkleidet auf die Straße, wo sich Cade an einen Polizisten wendet. Er will unbedingt den Statthalter vor dem geplanten Anschlag und der Verschwörung warnen. Die junge Frau protestiert vergeblich gegen seinen offensichtlichen Unverstand: Beide werden verhaftet. Auf der Wache wird er nicht gerade sanft behandelt, als er behauptet, der Schütze Cade zu sein, von dessen Heldentod jeder inzwischen durch die Behörden informiert worden ist.
Während die Frau wieder entlassen wird, buchten die Polizisten Cade ein. In der Zelle lernt er den Klein-Lehrer Fledwick kennen, der sich als Dieb und Einbrecher durchschlagen wollte. Den beiden gelingt die Flucht, denn noch immer will Cade seine Vorgesetzten warnen. Doch auch beim Obersten Schützen in Washington, D.C., hat er kein Glück. Seine Gutgläubigkeit wird diesmal seinem Kameraden Fledwick zum Verhängnis, während ihm selbst in letzter Sekunde die Flucht gelingt.
Er muss unbedingt die junge Frau finden, sagt er sich, die sich als Prostituierte ausgab. Doch obwohl er sich in einem Bordell einquartieren darf, scheint es in der ganzen Halbwelt keine Frau wie jene Rebellin zu geben. Nach zwei Wochen vergeblicher Suche und weiterer Umwandlung zu einem Bürger begibt er sich zur Audienz beim Imperator. Dort sieht er nicht nur die junge Rebellin – offenbar ist sie ein Mitglied des Hofes -, sondern auch den Statthalter. Dieser verlangt eine Unterredung mit Cade.
Nun werden ihm endgültig die Augen über die wahren Sachverhältnisse im System geöffnet. Der Statthalter will ihn im Krieg gegen den Mars als Geheimagenten einsetzen. Cade beschließt, den Verräter seinerseits zu verraten und mit der jungen Frau abzuhauen. Doch diese hält eine weitere Überraschung für ihn bereit.
Mein Eindruck
Dieser aufklärerische Roman aus dem Jahr 1952 würde heute offene Türen einrennen, aber damals durfte er sich als Reaktion auf alle Militärdiktaturen des II. Weltkriegs verstanden wissen: Nazi-Deutschland, Italien, die Sowjetunion, Spanien und Japan. Die Abenteuer des Schützen Cade, der angeblich den Heldentod starb, zeigen auf, wie die Zivilbevölkerung unter der Willkürherrschaft des totalitären Regimes zu leiden hat: Verhaftung, Verurteilung, Ermordung ohne jede rechtliche Handhabe oder Verteidigung. Natürlich gibt es totale Überwachung und deshalb auch eine Geheimpolizei. Niemand entkommt der Bespitzelung.
Der Widerstand
Dennoch gibt es die Rebellen, die sich als eines der vielen Mysterien tarnen, also religiös begründete Geheimbünde, die sich im Verborgenen treffen. Mit ihrem Netzwerk können sie, so scheint es Cade, der Geheimpolizei entgehen und ihrerseits per Hypnose und Drogen ihre Agenten gefügig machen und auf Selbstmordmissionen schicken.
Was sie anstreben, ist natürlich der Sturz des unmenschlichen Tyrannensystems und die Errichtung des demokratischen Menschen-Reiches. Wie dieses aussieht, erlebt Cade erst auf dem Mars. Dort führt er die Bürger-Partisanen gegen die Statthaltertruppen in den Kampf. Mit seinen Methoden gelingt der Sieg. Dieses actionreiche Finale erinnerte mich stark an dasjenige von [„Der Wüstenplanet“, 1662 natürlich auch wegen des wüstenartigen Terrains auf dem Mars. Spätestens hier eröffnet sich das gewohnte Szenario der Space Opera.
Metamorphose
Der Dreh- und Angelpunkt des Romans ist jedoch die totale Wandlung des Schützen Cade. Wie lässt es sich psychologisch plausibel darstellen, dass aus einem linientreuen Anhänger der staatlichen Doktrin ein rebellischer Bürger wird? Genauso gut könnte man aus einem SS-Mann einen Widerstandskämpfer machen. Die Autoren mühen sich redlich, diesen schrittweisen Prozess plausibel zu machen, so ganz will ihnen das aber nicht gelingen. Letzten Endes ist immer wieder eine List oder Zwang vonnöten, um Cade in die gewünschte Richtung zu treiben.
Eine Marsprinzessin
Und schuld ist daran fast immer das geheimnisvolle Mädchen, das für die Rebellen tätig ist. Sie ist nicht nur die Karotte, welcher der Esel Cade nachläuft, sondern auch die süße Belohnung für seine Mühe. Zunächst erscheint dieses schillernde Wesen als Widerstandskämpferin mit unsicherer Loyalität, dann als Prostituierte, schließlich sogar als Poesie vortragende Närrin bei Hofe. Alles nur Masken, denn letzten Endes erweist sie sich als Prinzessin von höchsten Graden. Das erinnert doch stark an Flash Gordons (1934ff) Verlobte Dale Arden, die er dem Schurken, Ming the Merciless vom Planeten Mongo, aus den Klauen reißt. Nur dass die Marsprinzessin Jocelyn ungleich selbständiger ist. Und dass es keinen verrückten Wissenschaftler namens Hans Zarkov gibt.
Die Übersetzung
Die deutsche Übersetzerin gab sich keinerlei Mühe, den Stil etwas aufzupeppen, sondern schluderte die Story einfach so herunter. Die zu erwartenden Druckfehler findet man denn auch ohne Mühe.
Was jedoch wesentlich schwerer wiegt, ist der begründete Verdacht, dass dieses Buch massiv gekürzt wurde. Es handelt sich zwar nur um einen Routine-SF-Roman, aber die „SF Encyclopedia“ erwähnt ihn immerhin als Beispiel dafür, dass Krieg als eine Art Volkssport betrieben wird. Say what?! Davon ist in der deutschen Fassung überhaupt nichts zu finden. Denn die Kriege, welche die Feldherren und der Statthalter unter sich anzetteln, sind nicht Volkssport, sondern Machtproben – eine Art überdimensionales Schach, wenn man will.
Dass hier gekürzt wurde, verrät auch der lückenhafte Szenenanschluss, der auf Seite 137 zu finden ist. Cade stellt eine Frage, und die liebliche Jocelyn schweigt zunächst, dann antwortet sie völlig unzusammenhängend: „Keinen einzigen.“ Von was, bitteschön?
Die mutmaßlichen Kürzungen würden auch den holprigen und holzschnittartigen Darstellungsstil erklären.
Unterm Strich
In seinem aufklärerischen, ideologiekritischen Ansatz, der gegen tumbe Soldaten wettert, bildet „Die Rebellion des Schützen Cade“ einen Vorläufer zu kritischer Soldaten-SF wie Joe Haldemans [„Der ewige Krieg“. 488 Aber die Form der Geschichte schuldet noch eine Menge ihren Vorbildern aus der Pulp-Ära, namentlich der romantischen Space Opera der dreißiger Jahre. Aber immerhin ist die weibliche Hauptfigur schon wesentlich selbständiger als etwa Flash Gordons ewige Verlobte Dale Arden. Denn inzwischen hatten C. L. Moores heroisch-geheimnisvolle Frauenfiguren eine Wandlung des Frauenbildes in der SF herbeigeführt. Und die Koautorin Judith Merril war selbst eine frühe Verfechterin starker und selbstverantwortlich agierender Frauen in der SF.
Die mutmaßlich stark gekürzte deutsche Übersetzung wird der Vorlage nicht gerecht. Diese Vorlage mag zwar ein routiniert geschriebener SF-Roman sein, aber er hat dennoch wesentlich mehr kritische Ansätze als so mancher Roman, den Heinlein zwischen 1947 und 1958 produzierte. Es wundert nicht, dass Heinlein bis heute nachgedruckt wird, aber „Schütze Cade“ völlig in der Versenkung verschwunden ist. Höchste Zeit für eine Neuübersetzung innerhalb einer kritischen Kornbluth-Würdigung.
Originaltitel: Gunner Cade, 1952
155 Seiten
Aus dem US-Englischen von Birgit Reß-Bohusch