Jürgen Todenhöfer – Inside IS – 10 Tage im ‚Islamischen Staat‘

Sie sitzen uns noch arg im Nacken, die Terroranschläge in Paris, bei denen die westliche Welt nicht nur auf empfindliche Weise getroffen wurde, sondern die uns auch gezeigt haben, wie verwundbar und ohnmächtig selbst diejenigen Bürger sind, die sich in ihrer hiesigen Heimat in Sicherheit wähnen. Das Phänomen des Islamischen Staates, jener Organisation, die sich relativ schnell zu den Attentaten bekannt hat, ist nicht erst seit gestern ein Thema, das Politik und Gesellschaft gleichermaßen beschäftigt. Tagtäglich werden in Syrien und im Irak unzählige Menschen Opfer der radikalen Gesinnung jenes selbst ernannten Kalifats, das sich mit aller brutalen Macht über all jene hinwegsetzt, die der mittelalterlichen Interpretation des Islams nicht folgen. Und dennoch scheint all das immer so weit entfernt bzw. schien es das – bis eben an jenem 13. November dieses Jahres 130 unschuldige Menschen mit Waffengewalt aus dem Leben gerissen wurden.

Die Frage, die sich spätestens seit diesem Tag vielen stellt, ist die Frage nach dem Warum. Wie konnte ein solch gezieltes Attentat jenseits der Geheimdienste überhaupt geplant und schlussendlich auch ausgeführt werden? Wer sind diese Menschen, die schier blind und todesmutig jenem Kommando folgen, das nach mehreren Inkarnationen nun unter dem Banner IS seinen Terror verbreitet? Und wie kann man diesen Hass, den die mordende Bevölkerung dieses Islamischen Staates gegenüber der unsrigen Welt verspürt, überhaupt logisch nachvollziehen?

Ein Mann, der sich seit Jahrzehnten mit der radikalisierten Gewalt im Mittleren und Nahen Osten beschäftigt, ist Jürgen Todenhöfer. 18 Jahre war er Mitglied des Bundestags, hat anschließend in einem großen Medienunternehmen gearbeitet und sich schließlich in zahlreichen Auslandseinsätzen als Korrespondent und kritischer Beobachter einen Namen gemacht. Doch Todenhöfer gilt nicht als gänzlich unumstritten. Nicht zuletzt sein Interview bei Syriens Machthaber und Diktator brachte ihm in der weltweiten Medienlandschaft harsche Kritik ein. Aber auch seine ziemlich rücksichtslosen Methoden, mit denen er in der jüngeren Vergangenheit Zugang zu Organisationen wie den afghanischen Taliban erlangt hat, standen schon häufiger im Kreuzfeuer der Kritik und lieferten dem heutigen Publizisten reichlich öffentliche Schelte.

Wer Todenhöfer jedoch schon einmal als Gast in einer Talkshow erlebt hat, wird wissen, dass der Mann klare Motive verfolgt und sich in erster Linie als authentischer Aufklärer sieht. Und als eben solcher hat er im vergangenen Jahr ein vermeintliches Todesurteil über seiner eigenen Person verhängt, als er nach monatelanger Kontaktaufnahme den Entschluss fasste, selbst in das Herrschaftsgebiet des Islamischen Staates zu reisen und aus nächster Nähe von dem zu berichten, was in IS-Hochburgen wie Rakka und Mossul den Alltag bestimmt. Und dieser intensive Erlebnisbericht, der seit Wochen die einschlägigen Bestsellerlisten anführt, gehört wohl zu den aufregendsten wenngleich auch abschreckendsten Dokumentationen, die in der modernen Kriegsberichterstattung verfügbar sind.

Im Mittelpunkt seines Rückblicks steht zunächst jedoch nicht der letztendlich zehntägige Aufenthalt in Syrien und im Irak. Vielmehr geht es Todenhöfer darum, ein allumfassendes Bild zu zeichnen, welches seine ersten Farbkleckse bei der unmittelbaren Kontaktaufnahme mit deutschen IS-Kämpfern aufnimmt. Über die sozialen Medien und Skype findet er Zugang zu einem hiesigen Auswanderer, der die Ziele des IS seit Jahren zu seinen eigenen gemacht hat, den Publizisten jedoch gleichermaßen als ehrenhaften, ehrlichen Berichterstatter schätzt. Stück für Stück nähern sich die beiden Parteien an, bis Todenhöfer schließlich die öffentliche Gewährleistung für ein sicheres Geleit und einen unbedrohten Aufenthalt im Islamischen Staat erhält.

Doch es sind schon die im Buch nachgezeichneten Gespräche, in denen der Autor einerseits die befremdlichen Motive der IS-Kämpfer sehr schön herausarbeitet und aufdeckt, in denen er andererseits aber auch keine geschönte Darstellung für die radikalen Ansichten seines Gegenübers wählt, die regelrecht unter die Haut gehen. Unverständnis und Ratlosigkeit bedingen sich mit wachsender Seitenzahl immer mehr und bestimmen schließlich auch die Haltung, die man als Leser gar nicht mehr aufgeben kann.

Die wirklich intensiven Passagen der Dokumentation, zu der Todenhöfer auch seinen Sohn und einen engen Freund mit ins Kalifat genommen hat, folgen dann jedoch in den zehn Kapiteln des Tagebuchs, in denen er relativ grob, aber doch sehr einschneidend skizziert, wie die verblendete Welt des IS funktioniert. Zwischen bedrohlichen Bombeneinschlägen und einer geradezu morbiden Inlandsatmosphäre nähert er sich vorsichtig den Menschen an, in dessen Hände er sein ganzes Vertrauen gelegt hat, um nicht ähnlich wie viele prominente Journalisten zuvor Opfer eines der berüchtigten Henker zu werden. Und Todenhöfer lässt nicht locker, den Tod immer im Augenschein, seinem Drang nach Wissen und Informationen aber stets folgend. Man muss schlucken, wenn er fast schon provokant in der Materie bohrt und seine zeitweiligen ‚Verbündeten‘ an den Rand ihrer (religiösen) Toleranz bringt. Gleichzeitig muss man aber auch staunen, wie viel Mut der Mann über seine eigentliche Mission hinaus noch aufbringt und mit welcher Schärfe er zeitweise bei der Sache ist.

Aber genau diese Details sind es, die dem Verschlingen dieses Buches das entsprechende Futter geben und die eine fast schon krankhafte Faszination für das wecken, was derzeit in den beiden Hauptregionen des IS geschieht. Weitere inhaltliche Details gilt es daher selbst herauszufinden, insbesondere wenn man wirklich verstehen und begreifen will, welchen fehlgeleiteten Ideologien der Islamische Staat folgt, wie dessen Struktur sich gliedert und wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass sein Netzwerk so immens groß und bedeutsam werden konnten. Natürlich hat Jürgen Todenhöfer nicht die Antwort auf all diese Fragen. Aber die Einblicke, die er bei seinem lebensmüde erscheinenden Grenzgang sammeln konnte, sind fesselnd – wenn auch auf eine sehr erschreckende, brutale Art und Weise.

Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
ISBN-13: 978-3570102763
www.randomhouse.de/Verlag/C.-Bertelsmann

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