Jules Verne – 20.000 Meilen unter dem Meer (Teil 2 von 2, Gruselkabinett 119)

Action und Grusel unter und über den Wellen

(Teil 2) Die Fahrt in Kapitän Nemos Unterseeboot „Nautilus“ begeistert nicht alle Schiffbrüchigen gleichermaßen. Während Prof. Aronnax und sein Diener Conseil durchaus Gefallen an den Wundern des Meeres finden, die sie unterwegs zu sehen bekommen, wartet Ned Land düster brütend nur auf den richtigen Moment, die „Nautilus“ und ihren mysteriösen Kapitän zu verlassen… (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt sein Hörspiel ab 14 Jahren.

Der Autor

Jules Verne wurde 1828 in Nantes geboren und starb 1905 in Amiens. Bereits während seines Jurastudiums schrieb er nebenher, manchmal mit einem Freund, Theaterstücke und Erzählungen. Sein erster Erfolgsroman „Fünf Wochen im Ballon“ erschien 1863. Seine großen Romane waren in der Folge Bestseller. Heute wird er neben H. G. Wells als einer der Begründer der modernen Science-Fiction-Literatur angesehen.

Mit „Die Eissphinx“ schrieb er eine Fortsetzung von E.A. Poes Horrorerzählung „The Narrative of Arthur Gordon Pym“. Sein erster Zukunftsroman „Paris im 20. Jahrhundert“ lag lange Zeit verschollen in einem Tresor und wurde erst vor ca. 30 Jahren veröffentlicht. Die Lektüre lohnt sich, auch wegen der erhellenden Erläuterungen der Herausgeberin.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen:

Jürgen Thormann: Prof. Pierre Aronnax
Julian Tennstedt: Conseil
Dietmar Wunder: Ned Land
Uli Krohm: Kapitän Nemo

Marc Gruppe schrieb wie stets das Buch und gemeinsam mit Stephan Bosenius setzte er es um. Die Aufnahme fand im Titania Medien Studio und im Planet Earth Studio statt und wurde bei Kazuya c/o Bionic Beats abgemischt. Die Illustration stammt von Ertugrul Edirne.

Handlung

Nach der Versenkung ihrer Fregatte „Abraham Lincoln“ gehen die drei Schiffbrüchigen an Bord des unheimlichen Unterseebootes und schauen sich darin um. Das Innere ist kultiviert, gemütlich und wertvoll eingerichtet: Der Besitzer kann sich über Geldmangel offensichtlich nicht beklagen. Ned Land macht sich finstere Gedanken, wer sein Schiff versenkt hat und welche Absichten er ihnen gegenüber hegt. Prof. Aronnax merkt an, dass niemand, der sie als Feinde betrachtet, ihnen Unterkunft, Wärme und Essen gewähren würde. Das muss Land zugeben.

Am nächsten Morgen tritt ein Fremder durch ein Schott ein. Er sei der Kapitän der „Nautilus“ und nennt sich auf Lands Frage hin einfach „Nemo“ – Niemand. Als er ihnen sagt, dass er sie nicht mehr gehen lassen könne, damit sein Geheimnis verraten werde, betrachtet sich Ned Land als Gefangener. Prof. Aronnax muss ihm im Stillen Recht geben. Aber dem Kapitän liegt daran, mit dem Gelehrten zu debattieren, wie groß die Bedeutung des Meeres als Lebensraum sei.

Doch das Meer, aus dem alle Nahrung der Besatzung und der Passagiere kommt, birgt auch Gefahren. Bei einem Ausflug in Tauchanzügen tötet Ned Land eine Meeresspinne, die einen Meter hoch ist. Den Haien gehen sie lieber aus dem Weg. Aus dem großen Bullauge, das in der Nähe ihrer Quartiere liegt, beobachten sie weitere Monster der Tiefe, so etwa einen Schwarm Kraken, der darauf aus ist, das Schiff in Stücke zu reißen.

All diese Gefahren sind jedoch nichts im Vergleich zu der Bedrohung, die der Kapitän selbst darstellt. Nach dem Verlust seiner Familie erkundet dieser gemütskranke Eremit unermüdlich die Tiefen der Meere. Weil ihm die asiatischen Besatzungsmitglieder die einzigen Freunde sind, betrübt ihn der Verlust eines solchen Freundes zutiefst.

Sein Hass auf die Menschen, die ihm die Familie und die Freiheit geraubt haben, nimmt Formen des Hasses an, die den Professor bestürzen und sehr besorgt machen. Nemo versenkt weiterhin Schiffe – und macht seine Gefangenen zu Komplizen. Bald schließt er sich Ned Lands Ausbruchsplan an, um die „Nautilus“ zu verlassen, bevor es für alle an Bord zu spät ist.

Als der Kapitän die große Orgel zu spielen beginnt, weiß Aronnax, dass die Stunde gekommen ist. Doch Nemo hat sich die gefährlichste Stelle des Atlantiks ausgesucht, um sein Schiff zu versenken: die Mitte eines gigantischen Mahlstroms…

Mein Eindruck

Im zweiten Teil des Hörspiels kommt der Zuhörer in den Genuss von viel Action, die in mehreren Szenen der Gefahr und des Kampfes inszeniert wird. Höhepunkt ist der Angriff des Schwarms von Riesenkalamaren, die durchaus auch einem Pottwal zum Verhängnis werden können. Die Action wird hautnah hörbar dargestellt, so dass sich der Hörer im Zentrum des Geschehens glaubt.

Den äußeren Gefahren stehen die unsichtbaren, weil psychologischen Bedrohungen gegenüber. Dass Nemo nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, ist von Anfang an klar: Nur ein wütender Verrückter würde es mit der Marine der US-Regierung aufnehmen, ohne die Folgen zu fürchten. Nur ein Tyrann würde seine Gäste einsperren und ihnen jedes Entkommen verwehren. In diesem Lichte betrachtet, wirkt Ned Lands Misstrauen keineswegs wie Paranoia, sondern wie die pure Vernunft.

Aronnax beobachtet, wie sich der Gemütszustand seines Gastgebers nach dem Verlust des Tauchers rapide verschlechtert. Die Gespräche über die Zukunft sind eingestellt, die Gespenster der Vergangenheit beherrschen Nemos verstand – und bringen ihn zu einem verzweifelten Entschluss: sein Schiff selbst zu versenken. Es wird spannend.


Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Prof. Aronnax ist die Figur, aus deren Blickwinkel wir das Geschehen verfolgen. Seine Ansichten, Meinungen, Beobachtungen, Gedanken und Äußerungen sind daher am wichtigsten. Er ist mehr oder weniger die Hauptfigur, was umso erstaunlicher ist, weil doch Kapitän Nemo den Ort des Geschehens beherrscht, nämlich die „Nautilus“. Wie auch immer: Mit Jürgen Thormann ist die Rolle ausgezeichnet besetzt. Er ist bringt Autorität, die Weisheit des Alters und die Ausgeglichenheit eines erfahrenen Mannes ein.

Sein genaues Gegenteil bildet der aufbrausende, misstrauische und zupackende Charakter Ned Land – ein Action-Mann par excellence. Dieter Wunder, die deutsche Stimme von „James Bond“-Darsteller Daniel Craig ist da durchaus auf der richtigen Position. Gut, dass dieser junge Bursche außerdem noch einen Fluchtplan austüftelt. Der Diener Conseil hat in seiner Ergebenheit wirklich nichts zu sagen außer „Ja“ und „Amen“. Julian Tennstedt ist in dieser Rolle nicht unbedingt herausgefordert.

Uli Krohm erfüllt die Rolle des betagten und einsamen Kapitäns Nemo einerseits mit Melancholie, wenn es um das Leben eines Eremiten geht, andererseits mit praxisorientierter Tatkraft, wenn es um das Überleben in den Tiefen des Meeres geht. Dass Nemo ein Feingeist auf Abwegen ist, belegt nicht nur sein Orgelspiel (Bachs „Toccata“, die jeder kennt), sondern auch die Tatsache, dass er seine Memoiren schreibt – und wegschließt. Vielleicht vermittelt sich dem Zuhörer, wie verwirrt der Geist Nemos ist – und verursacht ihm die entsprechende Gänsehaut.

Alle anderen Rollen sind mehr oder weniger Beiwerk – und tauchen im zweiten Teil gar nicht mehr auf.

Geräusche

Die Geräusche sind so realistisch, wie man sie von einem Spielfilm erwarten würde. Allerdings beschränkt sich die Geräuschkulisse nur auf das Notwendigste. Wenn jemand einen Brief oder eine Zeitung liest, dann raschelt Papier, aber das Ticken einer Standuhr tritt in den Hintergrund. Wenn also der grandiose Untergang der „Abraham Lincoln“ inszeniert, dann ist nicht Chaos zu hören, sondern Bersten und Krachen, Schreie, Rufe – und schließlich sehr viel Blubbern und Plätschern.

Klasse finde ich immer die Geräuschkulisse auf einem Schiff: Die Wellen rauschen, die Takelage ächzt und knarrt, die Möwen schreien, das Nebelhorn dröhnt. Die Geräuschkulisse UNTER Wasser sind allerdings dem 2. Teil vorbehalten.

Die Musik

Auf dieses Hörspiel haben die Macher (s.o.) viel Mühe verwendet. Diesmal kommt die Musik nicht aus dem Synthesizer oder Computer, sondern wird von einem Orchester beigesteuert. Diese klassisch instrumentierte Untermalung steuert die Emotionen des Hörers. Die Expedition ist von heiterer, flotter Musik begleitet, aufziehende Gefahr von tiefen, dräuenden Kadenzen begleitet, und actionreiches Geschehen ist von dramatischen Intervallen gekennzeichnet. Da sehnt sich der Hörer schon bald nach gelasseneren Tönen, um entspannen zu können. Es ist ein deutlicher Wechsel von Spannung und Entspannung festzustellen.

Musik, Geräusche und Stimmen wurden so fein aufeinander abgestimmt, dass sie zu einer Einheit verschmelzen. Dabei stehen die Dialoge natürlich immer im Vordergrund, damit der Hörer jede Silbe genau hören kann. An keiner Stelle wird der Dialog irgendwie verdeckt.

Das Booklet

… enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von Titania Medien. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher.

Im Booklet finden sich Verweise auf die im Frühjahr 2017 kommenden Hörspiele aufgeführt:

Nr. 120 + 121: Der Unsichtbare 1+2 (H.G. Wells)
Nr. 122: Die Insel des Dr. Moreau (H.G. Wells)
Nr. 123: Die Zeitmaschine (H.G. Wells)
Nr. 124 + 125: Der Krieg der Welten 1+2 (H.G. Wells)

Unterm Strich

So mancher Fan der Gruselkabinett-Hörspiele mag sich angesichts des Titels von Jules Verne verwundert die Augen reiben: Gibt es nun Science-Fiction statt gediegener Schauermärchen? Doch man sollte erst einmal dieses Hörspiel in voller Länge genießen, bevor man vorschnell ein falsches Urteil fällt.

Schon immer bildete der Faktor der von Monstern verursachten Action einen gehörigen Anteil an den Gruselkabinett-Inszenierungen. Man denke etwa an die großartigen LOVECRAFT- und HOWARD-Vertonungen. „Der Ruf des Cthulhu“ (2016) setzte Maßstäbe und einen vorläufigen Höhepunkt. Offenbar hat die Verlagsleitung gemerkt, dass solche actionbetonten Titel mehr Umsatz bringen als die weichgespülten Stimmungsbilder mit den immer gleichen Gespenstererscheinungen. Es erscheint nur konsequent, dass diese Neuorientierung im Frühjahr mit gleich vier Titeln von H.G. Wells (s.o.) fortgesetzt wird. Für gruselige Action ist auf jeden Fall gesorgt.

Und es mangelt diesen Titeln auch keineswegs an emotionaler Wirkung oder relevanter Aussagekraft. Die Figuren begeben sich regelmäßig in Gefahr, und das Finale des 2. Teils gipfelt in einem dramatischen Angriff auf das Schiff. Der Autor Verne hat es verstanden, nicht nur einen abenteuerlichen Stoff zu schreiben, sondern auch Aussagen zu verpacken, die bis heute das Publikum ansprechen.

Wozu ist beispielsweise eine Supertechnologie wie ein elektrisches U-Boot nutze, wenn es nur dazu dient, unschuldige Schiffe zu versenken – und so Tausende von Menschenleben zu vernichten? (Siehe „Lusitania“ oder „Lacona“ usw.) Die heutigen Marine-U-Boote, die auch Deutschland eifrig baut und verkauft, sind ohne weiteres dazu in der Lage, große Schiffe zu versenken und, sofern mit Atomraketen bestückt, ganze Länder oder Kontinente zu verwüsten.

Nötig ist zu diesem wahnwitzigen Einsatz nur ein irregeleiteter, gemütskranker Kapitän wie Nemo. (Man denke aber auch an die rivalisierenden Kapitäne in „Jagd auf Roter Oktober“.) Im Hörspiel wird Nemos psychologische Entwicklung nur angedeutet, doch der Terror, den er verbreitet, hat eine menschlich nachvollziehbare Wurzel – und sein Antrieb ist Hass. Kommt einem das nicht allzu bekannt vor?

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern wie Jürgen Thormann (Michael Caine u.v.a.) oder Dietmar Wunder (Daniel Craig) einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen.

Besonders gut gefielen mir die sehr sorgfältig ausgearbeitete Geräuschkulisse, die so realistisch wie möglich ist, um das zunehmend unheimliche Geschehen über und unter den Wellen auszugleichen. Dazu gehört der Kampf gegen Haie und Meeresspinnen, aber auch gegen den Angriff der Riesenkalmare. Der Untergang der „Abraham Lincoln“ ist ein wahrer Ohrenschmaus, selbst wenn der Anlass weniger erfreulich ist.

Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der Hollywoodstars vermitteln das richtige Kino-Feeling.

Audio-CD: 58 Min.
O-Titel: Vingt Milles Lieus Sous Les Mers, 1870
www.titania-medien.de

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 5,00 von 5)