Belmont ist ein Vorort der Großstadt Boston im US-Staat Massachusetts. Die gut situierten Bürger leben friedlich zusammen; die Verbrechensrate ist so niedrig, dass es hier noch nie einen Mord gegeben hat. Das ändert sich am 11. Mai 1963, als der Verwalter Israel Goldberg Gattin Bessie im ehelichen Schlafzimmer findet: mit einem der eigenen Strümpfe stranguliert, vergewaltigt, zur Schau gestellt. Schock geht über in Angst und Zorn, denn es sieht so aus, als habe der berüchtigte Serienmörder, den die Medien den „Boston Strangler“ nennen, sein ‚Revier‘ erweitert. Binnen kurzer Zeit hat dieser Würger acht Frauen auf die beschriebene Weise umgebracht, ohne dass es der Polizei trotz intensiver Suche gelungen wäre, ihm auf die Spur zu kommen.
Dieses Mal könnte sich das ändern: Am Tatort sahen Zeugen einen männlichen Schwarzen, der in diesem rein ‚weißen‘ Viertel auffiel und argwöhnisch beobachtet wurde. Roy Smith ist sein Name, und er hat für Bessie Goldberg am Tag ihres Todes diverse Handlangerdienste erledigt. Niemand außer ihm kann nach Auffassung der Beamten nach dem Mord und vor dem Erscheinen des Ehemanns das Haus betreten haben. Ergo ist Smith, der hartnäckig leugnet, der Hauptverdächtige – und womöglich der Würger von Boston! Letzteres kann ihm nicht nachgewiesen werden, doch man verurteilt Smith als Mörder von Bessie Goldberg; das Gefängnis hat er lebendig nicht mehr verlassen.
Doch war wirklich Smith der Mörder? Mehr als vier Jahrzehnte nach den beschriebenen Geschehnissen rollt der Journalist Sebastian Junger den Fall noch einmal auf. Er studiert die Akten, befragt Zeitgenossen, sichtet die Beweise – und findet deutliche Hinweise auf einen Justizirrtum, dem ein Mann zum Opfer fiel, der ein notorischer Krimineller sowie zur falschen Zeit am falschen Ort war …
Eine Lektion in ‚realistischer‘ Darstellung
„Tod in Belmont“ ist ein Buch von Sebastian Junger, was immer neugierig macht. Mit den Bestsellern „Der Sturm“ und „Feuer“ hatte er bereits 1998 bzw. 2002 ausgezeichnete Reportage-Bücher vorgelegt. Die Verbindung von hart recherchierten, präzise strukturierten Fakten mit einem Stil, den man „lyrisch“ nennen darf, hat dem Verfasser zu einem bemerkenswerten Ruf verholfen.
Auch „Tod in Belmont“ ist mehr als eine simple True-Crime-Dokumentation. Junger begräbt seine Leser nicht nach dem Prinzip „Friss, Vogel, oder stirb“ unter einem Wust von Hintergrundinformationen, wie es die Mehrheit der Autoren im „Wahre-Verbrechen“-Genre gern tun: Diese werden ausgegraben und in ihrer Gesamtheit präsentiert, als ob sich die Leser in einem „Whodunit“-Wettbewerb mit der ermittelnden Polizei messen möchten.
Dagegen bearbeitet Junger die Fakten wie ein Bildhauer seinen Marmorblock. Er präpariert heraus, was für seine Darstellung von Belang ist, und besitzt den sprichwörtlichen Mut zur Lücke. Damit geht er das Risiko ein, seine Deutung argumentativ in diejenige Richtung zu steuern, die er einschlagen möchte. Wie er offen zugibt, ist ihm genau dies im Laufe seiner Arbeit an diesem Buch geschehen. Er hat es bemerkt und als Warnung verstanden, mehr Objektivität walten zu lassen. Auf welche Weise er sich dem Problem stellte, beschreibt er im abschließenden Kapitel, das sich mit der Entstehungsgeschichte des Buches selbst befasst.
Die Arbeit mit Fakten
Furchtlos bedient sich der Verfasser literarischer Mittel, die „Tod in Belmont“ in die Nähe eines Thrillers rücken. Kein betont schlichter Stil soll hier Sachlichkeit suggerieren (oder mangelhaftes schriftstellerisches Talent vertuschen). Junger weiß (gut übersetzt übrigens) mit Worten umzugehen. Emotionale Szenen wirken glaubhaft und sind nicht schmalzig, den Personen werden keine Charaktereigenschaften – „der haltlose Kriminelle“, „die sparsame Hausfrau“, „der erfahrene Polizeibeamte“ usw. – aufgeprägt.
Junger bricht darüber hinaus mit der True-Crime-typischen Darstellung der Ereignisse in streng chronologischer Reihenfolge. Er löst die Fakten und historische Abläufe aus dem zeitlichen Gefüge, ordnet sie neu, springt zeitlich vor und zurück. Junger interpretiert, er arbeitet mit den Fakten, vertieft ihre Aussagekraft, behandelt sie wie Mosaiksteine, die er zu einem Bild fügt, das mehr ist als die Rekonstruktion eines Kriminalfalls.
Aus gutem Grund ist er nicht auf den „Tod in Belmont“ fixiert. Diverse Kapitel beschäftigen sich mit scheinbar anderen Themen, geben Einblicke in die Geschichte der US-Südstaaten, gehen über zu den sozialen Umwälzungen nach dem II. Weltkrieg, erläutern den komplexen Justizapparat der Vereinigten Staaten. Dabei wirken reale Zeitgenossen oft wie Figuren, die diese Kapitel quasi personifizieren. Laut Junger tun sie das tatsächlich, denn für ihn wurden die Ereignisse so, wie er sie schildert, zu einem guten (bzw. schlechten) Teil durch ihr (historisches) Umfeld determiniert: Smith mag in der Tat der Mörder gewesen sein, doch es wäre möglich, dass ihm erst Rasse, Herkunft und übler Leumund zum Verhängnis wurden. Als schwarzer, armer und notorisch krimineller Mann geriet er in eine verhängnisvoll präzise arbeitende Maschinerie, die ihn in seine Zelle beförderte. Junger zerlegt den Apparat in seine Einzelteile und legt uns seine Funktionsweise dar.
Geschichte plastisch machen
Bemerkenswert ist Jungers Geschick, mit einfachen aber klug gewählten Worten komplizierte Themen allgemeinverständlich zu machen. Selten wurde man so knapp wie kundig durch den Dschungel des US-amerikanischen Rechtssystems geleitet. Junger legt die Aufgaben und Kompetenzen des Richters, der Anwälte und der Geschworenen so transparent dar, dass man als Leser Gerichtsszenen in Film und Fernsehen, in Zeitungen und Büchern zukünftig mit anderen bzw. offenen Augen sehen wird. Dazu gehört ein kritischer Blick auf zeitgenössische Ermittlungstechniken, die im Goldberg-Fall einerseits kein eindeutiges Bild des Tathergangs ermöglichten und andererseits schlampig angewendet wurden.
Junger zeigt die Konsequenzen: Die auf Smith als Mörder fixierte Polizei, die Justiz und Geschworenen sind möglicherweise ihren Vorurteilen sowie diversen Irrtümern so nachdrücklich erlegen, dass sie nicht nur einen Unschuldigen ins Gefängnis schickten, sondern den wahren Mörder entkommen ließen und die Chance gaben, sein grausiges Werk fortzusetzen: Der Verfasser fand Indizien dafür, dass der Mord an Bessie Goldberg die neunte Bluttat des „Boston Stranglers“ gewesen sein könnte.
Albert DeSalvo (1931-1973), der erst zwei Jahre und drei weitere Würge-Morde später entlarvt wurde, lebte und arbeitete zum Zeitpunkt des Goldberg-Mordes in Belmont. Ein bemerkenswerter Schnappschuss aus dem Fotoalbum der Familie Junger zeigt den einjährigen Verfasser im Arm seiner Mutter. Hinter ihnen steht DeSalvo – womöglich bereits ein mehrfacher Serienkiller, aber auch ein unbescholtener Handwerker, der den Jungers einen Wintergarten baute.
Der persönliche Faktor
Diese Episode der Familiengeschichte, die einem Hollywoodfilm entliehen sein könnte, musste Junger verständlicherweise aufgreifen. Sie betrifft die eigene Vergangenheit, die eine tragische Wendung hätte nehmen können: Sogar wenn DeSalvo Bessie Goldberg nicht umbracht hatte, war Ellen Junger definitiv in Gefahr. Ihr Sohn hätte zu den traumatisierten Männern, Frauen und Kindern gehören können, die durch DeSalvo Angehörige oder Freunde verloren.
Folgerichtig beschäftigt sich Junger ausgiebig mit Albert DeSalvo. Dessen Leben und ‚Werk‘ wurde in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach aufgearbeitet. Junger kann dem keine wirklich neuen Erkenntnisse hinzufügen, sondern baut auf dem Bekannten auf. Er stellt DeSalvo und Roy Smith als Spiegelbilder dar, denn es könnte sein, dass dieselbe fatale Mischung aus kriminaltechnischer Rückständigkeit, Ermittlungsfehlern und Einbahnstraßendenken, die Smith in die Rolle eines Mörders zwang, DeSalvo zum „Boston Wrangler“ stempelte. Es steht längst nicht mehr fest, ob er dies überhaupt war. Die Theorie, dass DeSalvo, der als vielfacher Frauenschänder ganz unten in der Gefängnishierarchie stand, sich die Rolle des Würgers selbst schuf und so erfolgreich damit war, dass dies von der Justiz und von den ohnehin sensationsgierigen Medien geglaubt wurde, lässt sich inzwischen begründen.
Junger nimmt dies in seine Beweisführung auf, ohne freilich zu behaupten, den Fall endlich gelöst zu haben. Die lückenhafte Quellenlage lässt keine endgültige Klärung zu, ob erstens Albert DeSalvo der Würger von Boston war, der zweitens Bessie Goldberg tötete, während drittens Roy Smith zum Opfer eines Justizirrtums wurde. Damit muss sich wie Junger auch der Leser zufrieden geben.
Autor
Sebastian Junger wurde am 17. Januar 1962 in Belmont, Massachusetts, geboren. Er besuchte die Concord Academy und schloss 1984 ein Studium der Anthropologie an der Wesleyan University ab. Anschließend arbeitete er als Journalist und machte sich einen Namen durch packend geschriebene und sauber recherchierte Reportagen, die ihn in die Krisenregionen der Welt reisen aber auch scheinbar nebensächliche Themen aufgreifen ließen.
Im Jahre 2000 wurde Junger mit einem „National Magazine Award“ für seinen Artikel „The Forensics of War“ ausgezeichnet. Erfolgreich war eine Auswahl seiner Beiträge, die unter dem Titel „Fire“ (dt. „Feuer“) in Buchform veröffentlicht wurde. Schriftstellerisches Talent bewies Junger 1997 als Autor des Doku-Dramas „The Perfect Storm“ (dt. „Der Sturm“), der weltweit die Bestsellerlisten erklomm und auch verfilmt wurde. 2010 führte Junger Co-Regie bei „Restrepo“, einem Dokumentarfilm über den Afghanistan-Krieg. Der Verfasser lebt mit seiner Gattin in New York City.
Website des Verfassers
Gebunden: 320 Seiten
Originaltitel: A Death in Belmont (New York : W. W. Norton & Company, Inc. 2006)
Übersetzung: Jürgen Bürger
ISBN-13: 978-3-89667-320-6
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