_Verhängisvoll: junge Mädchen und ältere Freunde_
Im Dezember verschwindet die 14-jährige Fanny Jansson spurlos auf Gotland. Hat ihr Verschwinden etwas mit dem Mord an dem Fotografen Henry Dahlström zu tun, der Wochen zuvor mit eingeschlagenem Schädel gefunden wurde, fragt sich Kommissar Robert Anders. Versteckt in Dahlströms Dunkelkammer finden sich eindeutige Fotos, die Fanny mit einem Unbekannten zeigen. Anders und sein Team ermitteln fieberhaft, aber sie kommen zu spät, um Fanny zu retten: Mit Würgemalen am Hals liegt sie in einem Loch im Heidewald.
Wenige Tage vor Weihnachten sieht Anders nach diesem Fund zwei Tage Gelegenheit, um mit seinem Freund Leif auszuspannen. Da fällt ihm etwas Merkwürdiges an Leifs Inneneinrichtung auf …
_Die Autorin_
Mari Jungstedt, geboren 1962 in Stockholm, arbeitet als Radio- und TV-Journalistin und steht zurzeit (08/2008) für das schwedische Fernsehen als Nachrichtensprecherin vor der Kamera. Nach „Den du nicht siehst“ folgt mit „Näher als du denkst“ ihr zweiter Krimi um Kommissar Robert Anders. HINWEIS des Verlages: Im Original heißt der Kommissar nicht Robert Anders, sondern Anders Knutas. Aber im Hörbuch wurde der Name dem in der ZDF-Verfilmung (s. u.) angeglichen. „Alle weiteren Handlungen und Namen entsprechen der Buchausgabe.“
Mari Jungstedt auf |Buchwurm.info|:
[„Den du nicht siehst“ 1344 (Buchausgabe)
[„Näher als du denkst“ 1312 (Buchausgabe)
_Sprecher & Produktion_
Walter Sittler, 1852 in Chicago geboren, arbeitet in Mannheim und Stuttgart am Theater. Dem TV-Publikum ist er durch seine zahlreichen Serienrollen, u. a. in „Girl Friends“ und „Nikola“ bekannt. Sittler spielt den Kommissar Robert Anders in der ZDF-Verfilmung der Mari-Jungstedt-Krimis.
Regie führte Margit Osterwold, die Aufnahme fand im Mai 2008 im Eimsbütteler Tonstudio, Hamburg, statt.
_Handlung_
|Henry Dahlström|
Am Sonntag, den 11. November hat Henry Dahlström wahrlich Grund zum Feiern und Ausgelassensein: Er hat gerade auf der Trabrennbahn sozusagen den Jackpot gewonnen – 80.000 schwedische Kronen! Für einen Alkoholiker, der seit Jahren von der Sozialfürsorge lebt, ist das ein gewaltiger Batzen Geld.
Nur seinen besten Freund Bengt weiht er ins das Versteck des Geldes ein: einen Staubsaugerbeutel in der Besenkammer. Doch etwa eine Woche später findet Bengt seinen Freund mit eingeschlagenem Schädel tot auf dem Boden seiner Dunkelkammer liegen. „Blitz“, so nannte er ihn immer, denn Henry war früher mal ein Fotoreporter für die Presse auf Gotland gewesen, lang ist’s her. Der Hausmeister, der ihm geöffnet hat, wundert sich, dass Bengt selbst wie ein geölter Blitz davonläuft.
Am Sonntag, den 18.11., reißt sich Kommissar Robert Anders, Kripo Gotland, von seiner Familie los und begibt sich zusammen mit seiner Assistentin, der 37-jährigen, ledigen Karin Jakobsson, zum Tatort. Der Gestank ist unbeschreiblich, denn Dahlströms Leiche ist trotz der herrschenden Kälte bereits in Verwesung übergegangen. Seltsam, dass niemand diesen Alkoholiker vermisst hat. Außer diesem Bengt Jonsson natürlich, der spurlos untergetaucht ist. Anders macht sein Ermittlungsteam mit dem Fall bekannt, der Staatsanwalt Smittenberg ist auch zugegen. Was sie suchen, sind die Kamera, die Tatwaffe – wohl ein Hammer – und natürlich Jonsson, den Entdecker der Leiche. Anders erinnert sich gut an Dahlström; aber es ging rapide abwärts mit ihm, als er sich erst selbständig machte und dann seine Frau die Scheidung einreichte.
|Johan Berg|
Emma Linarwe denkt oft an den Sommer mit Johan Berg zurück. Damals fühlte sie sich zum ersten Mal richtig lebendig und verbrachte eine wunderbare Zeit, die ihr half, die schreckliche Mordserie durchzustehen, die Gotland in Angst und Schrecken versetzte (in „Den du nicht siehst“). Doch vor die Wahl gestellt, bei ihrem Mann Olle und ihren beiden Kleinen zu bleiben oder mit Johan fortzugehen, entschied sie sich für ihre Familie. Nun ruft Johan wieder an. Er kommt nach Visby, um über den Mord an dem Ex-Fotografen Dahlström zu berichten, über den die Zeitungen schreiben. Schon als sie seinen Brief liest, ahnt sie, dass dies ein Fehler ist. Als er anruft, sagt sie ja zu einem Treffen.
Johan Berg, ein Fernsehjournalist in Stockholm, kennt Robert Anders noch vom Sommer und hat ein gutes Verhältnis zu ihm. Deshalb wimmelt ihn Anders auch nicht ab, sondern gibt ihm die rudimentären Fakten, die demnächst in der Pressekonferenz verlautbart werden sollen. Das ist dem ehrgeizigen Berg zu wenig. Er hört sich bei den Nachbarn Dahlströms um und stößt am 22.11. bei Niklas Appelkvist auf eine Goldgrube. Der junge Student will partout nicht mit den Bullen sprechen und lässt sich von Berg zudem Quellenschutz zusichern. Dann verklickert er dem verblüfften Berg, dass er den versoffenen Dahlström im Sommer um fünf Uhr morgens – man stelle sich vor! – unten am Hafen mit einem fein gekleideten Mann sprechen gesehen habe. Die beiden wollten nicht gesehen werden. Diskret informiert Berg Kommissar Anders.
Kaum gehen Berg und sein Kameramann vors das Mietshaus, in dem Dahlström wohnte, hören sie aufgeregtes Rufen. Überall Polizeiautos und blinkende Alarmlichter. Vor einem abgesperrten Areal steht Robert Anders und Berg eilt zu ihm. Die Kamera filmt unbemerkt, als ein Polizist aufgeregt einen Gegenstand hochhält. Verdammt, ein blutbefleckter Hammer. Sie haben die Tatwaffe gefunden! Damit, weiß Berg, kommen sie in die Abendnachrichten. Der Coup des Tages. Schon zuvor hat er per Zufall herausgefunden, dass Dahlström in Schwarzarbeit überall auf der Insel Schreinerarbeiten erledigte und natürlich entsprechend verdiente. Anders war dankbar für diese Information, aber Berg hofft auf mehr. Sein Riecher sagt ihm, dass es hier noch sehr viel mehr aufzudecken gibt. Allein schon die Liste derjenigen Großkopfeten, die Dahlström „beschäftigten“, reicht für einen hübschen Inselskandal.
|Fanny Jansson|
Fanny ist die 14-jährige, körperlich frühreife Tochter eines Jamaikaners, der ihre Mutter sitzenließ und wieder nach Stockholm ging. Fannys Mutter Maivor Jansson arbeitet den ganzen Tag und trinkt zu viel, so dass sie Fanny vernachlässigt. Ihre dunkle Hautfarbe passt Fanny ebenso wenig wie ihre wachsende Brust, so dass sie sich absondert. Nur die Pferde des Stalls der Trabrennbahn sind ihre Freunde, und ein oder zwei der Stallknechte dort.
Auf dem Rücken der Pferde ist Fanny glücklich. Aber nicht mit ihrem neuen Freund, der sie heimlich trifft. Der Mann ist 30 Jahre älter als sie, aber er verwöhnt sie mit Geschenken. Aber am 20. November ist er zu weit gegangen, hat sie betrunken gemacht und ihr die Kleider heruntergerissen, um sie überall zu streicheln. Schweigend hat er sie heimgefahren. Zwei Tage später will er Versöhnung. Am Sonntag könne sie wieder reiten. Sie verrät, dass ihre Mutter nach Stockholm reist und sie allein sein wird. Als er kommt, dauert es nicht lange, bis er nicht mehr an sich halten kann. Sie ahnt, dass sie sich von ihm trennen muss. Aber ob er das zulassen wird, kann sie nur hoffen.
|Die Kripo|
In Dahlströms Dunkelkammer findet die Spurensicherung ein verstecktes Päckchen mit brisanten Fotos. Sie zeigen ein Mädchen mit einem Mann in eindeutiger Situation. Inzwischen ahnt Anders, dass Dahlström eine Erpressung am Laufen hatte. Wie sonst wäre er sonst zu den zweimal 25.000 Kronen gekommen, die er selbst am 20. Juli und im Oktober bei seiner Bank einzahlte? Und der Erpresste hatte wohl die Nase voll, als Henry seinen großen Wettgewinn einstrich.
Als Maivor Jansson das Verschwinden ihrer Tochter Fanny meldet und Anders sich mit diesem Fall beschäftigt, macht ihm das Foto Fannys die Verbindung klar: Sie ist das Mädchen auf Dahlströms Fotos. Aber wer ist der Mann? Als man Fannys Leiche findet, ist Anders klar, dass diese Fotos den Mörder von sowohl Dahlström wie auch Fanny zeigen könnten.
Anders‘ Unwissenheit bringt nicht nur ihn, sondern auch Karin Jakobsson in Lebensgefahr.
_Mein Eindruck_
Pädophilie ist sicherlich weder ein einfaches Thema noch eines, das man ohne weiteres in einem Kriminalroman verarbeiten und darstellen könnte. Die heikle Darstellung betrifft zwei verschiedene Welten: die des oder der Opfer und die des oder der Täter. Der Autorin ist es gelungen, das Opfer Fanny Jannson sehr feinfühlig und glaubhaft zu schildern, so dass uns Fannys Ende wirklich berühren kann. Mit der Welt des Täters verhält es sich völlig anders: Er ist praktisch unsichtbar.
Seine Unsichtbarkeit ist nicht etwa physischer Art; man kann seinen Körper, wie die Fotos belegen, sehr wohl optisch einfangen. Nein, die Unsichtbarkeit ist psychologischer Art, und sie beruht auf der Blindheit seiner menschlichen Umgebung seiner Besonderheit gegenüber. Er ist wie sie: ein ganz normaler Bürger und liebenswerter, geliebter Ehemann und Familienvater, schon seit Jahrzehnten mit allen vertraut und stets durch sein großzügiges Entgegenkommen hochangesehen und wohlwollend beurteilt. Wie der „entwendete Brief“ in Edgar Allan Poes berühmter Detektiverzählung befindet er sich direkt vor aller Augen, und doch können sie ihn nicht als das erkennen, was er ist: ein Kinderschänder.
Deshalb tappen die ansonsten so fähigen Kriminaler Anders und Jakobsson blindlings in seine Falle. Seine Erkundigungen nach dem Stand ihrer Ermittlungen werden lächelnd akzeptiert, aber da natürlich alle Einzelheiten unter das Dienstgeheimnis fallen, mit Entschuldigungen zurückgehalten. Bis aus einer harmlosen Situation eine Krise entsteht. Bis aus dem freundlichen Mann unversehens ein Ungeheuer geworden ist. Und es dauert noch länger, bis sie erkennen müssen, dass das Ungeheuer nicht davor zurückschreckt, sie umzubringen. Es ist der ultimative Terror, aus dem Herzen der Gesellschaft heraus.
Aus meiner Darstellung geht die Notwendigkeit für den Auftritt Johan Bergs nicht hervor. Er ist in den Fall involviert, findet wichtige Fakten heraus, doch mit dem Ausgang hat er nichts zu tun. Nein, für die Autorin ist zwar der Berufskollege Berg der Beachtung wert, doch ihre eigentliche Aussage bezieht sich auf seine Geliebte, Emma Linarwe. Diese steht durch die aufgeflogene Affäre vor einer prekären, lebensentscheidenden Wahl. Geht sie mit Johan, um ihre Liebe zu leben, muss sie ihre Familie, ihre geliebten Kinder verlassen. Nicht nur das: Sie weiß nicht, ob Johan sich um sie ebenso kümmern würde, wie seine Liebe es verspricht, oder um ihr ungeborenes Kind.
|Der Sprecher|
Walter Sittler ist zwar kein Stimmgenie wie Rufus Beck, und die Stimmen seiner männlichen und weiblichen Figuren ähneln sich stark. Aber er kann dafür eindrucksvoll angemessene Emotionen darstellen. Ausgerechnet am Geburtstag seiner Frau Line bekommt Robert Anders Streit mit ihr – sie regt sich über die vermeintliche Botschaft seines lieb gemeinten Geschenkes auf. Sittler lässt sie gehörig laut werden.
Auch als Olle Linarwe von der Untreue seiner Frau Emma, die wieder mit Johan Berg angefangen hat, erfährt, hängt der Haussegen schief: Olle wird wütend und laut. So richtig bedrohlich ist jedoch nur Fannys älterer Freund, der nicht nur aggressiv redet, sondern sie zudem mit bösem Unterton erpresst, ihm zu Willen zu sein. Das verschüchterte Mädchen sieht keinen Ausweg, als ihm zu gehorchen. Nur er bestimme, wann mit ihnen beiden Schluss sei.
Es gibt allerdings viele Szenen, in denen die Figuren zärtliche Worte auf sanfte und leise Weise austauschen, oder sich mühsam zu verständigen suchen. So spricht Olle beispielsweise stockend und zögerlich mit seiner Frau, um Emma zurückzugewinnen. Doch als sie ihm kurz vor Weihnachten gesteht, von Johan schwanger zu sein, wird es für die beiden noch schwieriger.
Alle diese verschiedenen Tonlagen sind in den normalen Gesprächston von Polizisten und Journalisten eingebettet. Häufig referiert Anders, wie es sein Job verlangt. Das sind die langweiligsten, weil normalsten Szenen. Und Sittlers Anliegen ist zu loben, von solchen Inseln des Durchschnitts schnellstens wieder auf Emotion umzuschalten. Daher wurde mir das Hörbuch nur höchst selten langweilig, sondern es steigerte sich im Gegenteil in der Anspannung und Beklemmung. Dies ist sicherlich keine Unterhaltung für zwischendurch.
Schade jedoch, dass es weder Geräusche noch Musik gibt, die den Hintergrund noch emotionaler gestaltet hätten.
_Unterm Strich_
Drei Handlungsstränge verknüpft Mari Jungstedt auf kunstvolle Weise und lässt sie sich in Anspannung und Konfliktbeladenheit jeweils zur Krise steigern. Ich hatte eigentlich einen richtigen Showdown erwartet, doch den verweigert die Klischees vermeidende Autorin ganz bewusst.
Das Finale lässt dennoch nichts an Brisanz zu wünschen. Keiner wünscht dem aufrechten und tapferen Kommissar Anders einen frühzeitigen und gewaltsamen Tod, auch nicht seiner tüchtigen Assistentin, die so viel Gespür für die Welt der Frauen und Mädchen bewiesen hat. Wir können beiden nur die Daumen drücken. Und die Verfilmung würde ich mir zu gerne anschauen.
|Das Hörbuch|
Walter Sittler erweist sich als sehr kompetenter und schier schlafwandlerisch sicherer Schauspieler, der sein Stimm-Metier vollkommen beherrscht. Er verleiht selbst heikelsten Szenen zwischen Fanny und ihrem Freund eine unterschwellige Spannung und Emotionalität, die weit entfernt ist von jedem Voyeurismus (bzw. Ecoutismus, wie man beim Zuhören sagen muss). Sein Täter ist ein wahres Ungeheuer: aggressiv, verschlagen, böse, skrupellos. Ist dies wirkliche der gleiche Mensch wie jener freundliche Familienvater? Unfassbar. Durch genau diesen Kniff tappen wir als Hörer in die gleiche Falle wie Kommissar Anders.
|Originaltitel: I denna stilla natt, 2005
Aus dem Schwedischen übersetzt von Gabriele Haefs
373 Minuten auf 5 CDs
ISBN-13: 978-3-89903-485-1|
http://www.hoerbuch-hamburg.de