Jussi Adler-Olsen: Erlösung. Flaschenpost von P. Sonderdezernat Q. Fall 03

Stimme aus der Vergangenheit
Nach Jahren auf einem schottischen Polizeirevier landet eine Flaschenpost aus Dänemark auf dem Schreibtisch von Kommissar Carl Mørck vom Sonderdezernat Q der Kopenhagener Mordkommission. Die Materialanalyse zeigt, dass, dass die Botschaft mit menschlichem Blut geschrieben wurde. Sie führt Carl Mørck und Assad auf die Spur eines entsetzlichen Verbrechens.

Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass es sich bei der Flaschenpost um das vermutlich letzte Lebenszeichen zweier Jungen handelt, die irgendwann in den neunziger Jahren entführt wurden. Doch wer sind die Jungen? Warum haben ihre Eltern nie eine Vermisstenanzeige aufgegeben? Sind diese Kinder die einzigen Opfer? Oder hat der Täter mehrmals zugeschlagen? Und: Mordet er womöglich immer noch? (gekürzte Verlagsinfo)

Der Autor

Jussi Adler-Olsen wurde am 2. August 1950 unter dem bürgerlichen Namen Carl Valdemar Jussi Henry Adler-Olsen in Kopenhagen geboren. Er studierte Medizin, Soziologie, Politische Geschichte und Film und arbeitete anschließend in den verschiedensten Berufen. 1995 begann er mit dem Schreiben und landete bereits mit seinen ersten Büchern unter anderem in Schweden, Spanien und Südamerika auf den Bestsellerlisten, mit der Serie um das Sonderdezernat Q erlangte er seinen internationalen Durchbruch. Seine Bücher wurden in über 40 Länder verkauft.

Die Romane von Jussi Adler-Olsen

Sonderdezernat Q

1) Erbarmen. Die Frau im Bunker
2) Schändung: Die Fasanentöter
3) Erlösung: Flaschenpost von P
4) Verachtung: Akte 64
5) Erwartung: Der Marco-Effekt
6) Verheißung
7) Selfies
8) Opfer 2117 (kommt im Oktober 2019)

Andere:

1) Das Alphabethaus
2) Das Washington-Dekret
3) Takeover
4) Miese kleine Morde

Handlung

Carl Mørcks Assistentin im Sonderdezernat Q der Kopenhagener Mordkommission hat eine quirlige rothaarige Schwester namens Yrsa Knudsen. Ihre Lebhaftigkeit ist aber in Carls Augen schon die einzige Verbesserung gegenüber ihrer schwarzhaarigen Punkschwester. Das ändert sich schlagartig, als die Flaschenpost auftaucht. Der kleine, nahezu verblichene Zettel kommt von einer Polizeiwache im nördlichsten Schottland, wo sie jahrelang unbeachtet am Fenster gestanden hat. Erst eine neue Kommissarin entdeckt das teil und schickt es nach ei eingehender Analyse in das Land der Absender: Dänemark. So landen die Scherben plus Botschaft auf Carl Mørcks Schreibtisch. Yrsa ist wie hypnotisiert von diesem Rätsel und setzt alles daran, es zu knacken.

Und es erweist sich als wahrhaft harte Nuss. Die mit menschlichem Blut und einem Holzsplitter geschriebene Botschaft besteht aus mehreren Dutzend Buchstaben, zwischen denen riesige Lücken klaffen. Nur eines ist in der Vergrößerung, die Yrsa anfertigt und auf eine Stellwand klebt, überdeutlich: der Hilferuf "Hjaelp!" und die Unterschrift, von der nur noch ein P lesbar ist. Dennoch besteht Hoffnung: Ein Entführer wird beschrieben, sein Aussehen, sein Auto und die ungefähre Lage des Ortes, wo sich der Schreiber und sein Bruder befanden. "Wir werden sterben", steht da in blutigen Buchstaben. Yrsa ist sowas von erschüttert. Sie hängt sich richtig rein, die Lücken zu füllen und bekniet Carl, sich des Falles anzunehmen.

Der ist zwar von Alpträumen geplagt und in seine Therapeutin Mona Ibsen bis über beide Ohren verliebt, aber er stellt die wichtigste Frage: Wieso gibt es zu den beiden Brüdern, die in einem Februar der 1990er Jahre (die letzte Ziffer fehlt) verschwanden, jede Vermisstenanzeige? Außerdem drückt ihm Marcus Jacobsen, der Chef der Mordkommission, die Untersuchung einer Brandserie aufs Auge. So entlastet, will sich die Kripo dem Bandenkrieg widmen, der in Kopenhagen tobt. Die Brandserie ist leicht aufgeklärt: eine Kette von Versicherungsbetrug, ausgelöst durch serbische Wucherer, die säumige Zahler gleich mitverbrennen – zur Abschreckung.

Carl setzt Laursen auf den mysteriösen Text an, einen genialen Polizeitechniker, der nach einem finanziellen Zusammenbruch während der Wirtschaftskrise von 2008/09 mittlerweile in der Kantine des Polizeipräsidium Brötchen schmiert. Die Spur der Flaschenpost führt in die Welt der zahlreichen Freikirchen, die es in Dänemark gibt. Allein Assad listet über ein Dutzend auf, sehr zum Erstaunen der versammelten Kriminaler. Das Bemerkenswerte: Diese Freikirchen funktionieren alle wie kleine Mikrokosmen, die sich nach außen hin abschotten, denn die Welt ringsum sei gottlos und des Teufels. Das könnte dazu führen, dass Entführungsopfer nicht angezeigt, sondern verstoßen würden. Kaum zu glauben, meinen die Kollegen. Deshalb sei es möglich, dass neben P und seinem Bruder ("Tryggve"?) noch zahlreiche weitere Opfer entführt und womöglich ermordet worden seien.

Unterdessen

Die beiden jüngsten Kinder sind weg, Samuel und Magdalena. "Rachel" alias Lisa aus Westafrika und ihr Mann sind geschockt, als der Entführer anruft und eine Million Öre Lösegeld fordert – und natürlich den Ausschluss jeglicher Kontakte zur Polizei. Dabei sah der Mann so vertrauenswürdig aus. Und wie sollen sie jetzt eine Million zusammenkratzen, nachdem Rachels Mann "Joshua" gerade seine Rückstände beim Finanzamt getilgt hat? Doch der Entführer gibt klare Anweisungen, bis wann das Geld zu übergeben sei, wo und auf welche Weise die Übergabe stattfinden solle.

Gerade im größten Kummer taucht eine EDV-Spezialistin vom Finanzamt auf, eine Isabel Jönsson. Sie erkennt auf dem Foto einer Gesangsstunde das Gesicht jenes Mannes wieder, den sie vor wenigen Tagen aus ihrer Wohnung geworfen hat. Sie hatte herausgefunden, dass er sie nach Strich und Faden belogen hatte: über seinen Namen, seinen Wohnort, seinen Familienstatus, seinen Beruf, einfach alles. Und er hatte sie bedroht. Nun wird klar, dass der Mann auf dem Foto der Entführer von Samuel und Magdalena ist – und dass sie ihn erwischen können.

Wenn sie ihm immer einen Schritt voraus sind und den Mumm haben, es mit ihm aufzunehmen. Diesen Mumm hat Joshua weiß Gott nicht. Aber "Rachel" ist aus ganz anderem Holz geschnitzt. Zusammen mit Isabel setzt sie sich ins Auto, um die Geldübergabe in einen Triumph zu verwandeln – den Weg zu ihren entführten Kindern. Keine der beiden Frauen ahnt, dass ihr Plan, den Entführer und Erpresser zu stellen, in einer Katastrophe enden wird…

Mein Eindruck

Der Leser fragt sich, wie es sein kann, dass eine Familie ihre entführten Kinder weder als vermisst meldet noch sich wegen der Erpressung an die Polizei wendet. Der offensichtliche Grund ist der der Absonderung, welche die Freikirchen und ihre Mitglieder zu leichten Opfern macht, zumindest in den Augen eines höchst skrupellosen Mannes. Es ist ja genau die Kluft zwischen den Freikirchlern und dem Rest der Gesellschaft, die ihm den Angriffspunkt für seine Strategie liefert. Aber wie gelingt es ihm dann, in diesen geschlossenen Kreis einzudringen?

Jede Familie wird sorgfältig ausgewählt. Sie muss stabil, kinderreich und vermögend sein. Anhand der Kinderzahl lässt sich ablesen, wie lange sich die Familie bereits vom Rest der Gesellschaft abgesondert und der Doktrin ihrer Kirche ausgeliefert hat. Alle haben eine Gehirnwäsche verpasst bekommen – höchst freiwillig übrigens. Diese Indoktrinierung schaltet die Vernunft aus, aber vor allem auch das Misstrauen, das auf Erfahrung gründet. Sie sind sozusagen Waisenknaben, die auf jede Täuschung hereinfallen und ihm ihr Vertrauen schenken, bis die Zeit reif ist: der Tag der Entführung. Die Liebe zu ihren Kindern macht die Freikirchler gefügig – und schweigsam.

Damit der Trick mehrmals funktioniert, muss sich der Angreifer wie ein Chamäleon verhalten, wie Isabel Jönsson bezeugen kann. Er benutzt verschiedene Identitäten und Verkleidungen, um so im ganzen Land über mehrere Jahrzehnte hinweg tätig sein zu können: von spätestens 1996 bis ins Jahr 2007. Die Frage erhebt, wo er solche Fertigkeiten der Urkundenfälschung usw. erworben hat, und es stellt sich heraus, dass es v.a. das Militär war.

Es ist genau diese Chamäleonnatur, die es Carl Mørck und seinen Helfern so erschwert, den richtigen Mann überhaupt zu identifizieren und dingfest zu machen. Es gibt eine Verhörszene in einem Kegelklub, in der sich Carl Mørck nicht sicher ist, welcher der Verhörten der richtige Mann ist – alle Fotos sind Fakes. Bis er einen kapitalen Fehler begeht, der Verdächtige sich verdünnisiert und mit seinem Wagen entkommt. Diese Szene wird sowohl vom Standpunkt Carl Mørcks als auch aus dem Blickwinkel des Täters geschildert, was sie enorm spannend macht. Dem Leser bleibt es überlassen, das Rätsel zu lösen.

Die Übersetzung

Die Übersetzung fand ich sehr gelungen, denn sie nutzt viele umgangssprachliche Wendungen, die die Figuren dem Leser näherbringen. Schade fand ich aber, dass das Buch keine Landkarte enthält. Da ständig irgendwelche Ortsnamen genannt werden, muss der Leser ständig im Internet nachschlagen, wo sich denn nun welche Insel oder Stadt befindet. Dänemark scheint nur aus Inseln zu bestehen – eine Folge des seit der letzten Eiszeit ständig gestiegenen Meeresspiegels.

Unterm Strich

Dieser dritte Roman mit Carl Mørck ist wesentlich breiter angelegt als die beiden ersten Fälle. Statt 460 Seiten sind nun über 580 zu bewältigen. Aber der zusätzliche Stoff kommt der menschlichen Seite des Falls und seiner Opfer zugute. So gibt es viele POV-Szenen, in denen der Leser herausfinden muss, wer gerade erzählt und das Geschehen wiedergibt (POV: point of view, Blickwinkel).

Himmlischer Beistand oder nicht

Diese Methode erzeugt einen emotionalen wie mentalen Sog, denn das so Erzählte führt den Leser in die sonderbare Welt der Freikirchen ein, ohne deren Glaubenswelt als absurd zu denunzieren. Diese Leute glauben wirklich an die Güte der Gottesmutter und dergleichen, die ihnen in der Stunde der Not beistehen werde. In der Stunde der Not, so zeigt sich bei "Rachel", ist sie sich selbst der Nächste und übernimmt die Initiative. Leider muss "Rachel" dafür einen hohen Preis bezahlen.

Chamäleonsplan

Es gibt zahlreiche spannende Szenen, in denen das Chamäleon sich verkleidet, um unverdächtig auszusehen und sich unter personal zu mischen. Beispielhaft ist die Szene im (durch Lars von Triers TV-Serie berüchtigte) Rigshospitalet, das Reichskrankenhaus in der dänischen Hauptstadt. Er muss zwei lästige Zeuginnen ausschalten, eine mit Luft gefüllte Spritze reicht schon, um eine Thrombose auszulösen, die zu einem Hirnschlag führt. Wird er sein Ziel erreichen oder wird er vorher erkannt und an der Ausführung des Plans gehindert? Szenen wie diese finden sich im letzten Viertel vermehrt. Der Actionhöhepunkt ist von erlesener Komplexität, die das Ende bis zum Schluss offen lässt.

Entdeckungen

Eine Figur darf nicht unerwähnt bleiben: Mia, die Ehefrau des Monsters. Sie ahnt bis zu einem gewissen tag nichts von dem Doppelleben ihres Mannes. Doch kaum hat sie sein Privatarchiv, das in simplen Umzugskartons steckt, durchgesehen, ahnt sie, dass sie es nicht mehr neben ihm aushalten kann, zumal sie an ihren kleinen Sohn denken muss. Eine neue männliche Bekanntschaft bestärkt sie in dieser Ablösungsbewegung. Leider durchschaut der Ehemann sie sofort und findet verräterische Zeichen für ihre Schnüffelei. Die Maßnahmen, die er ergreift, sind ebenso drastisch wie absurd: Er begräbt sie unter all den Umzugskartons, bis sie entweder verdurstet oder erstickt. Wird sein fieser Plan vereitelt werden können?

Taschenbuch: 588 Seiten
Originaltitel: Flaskepost fra P, 2009
Aus dem Dänischen von Hannes Thiess.
ISBN-13: 9783423214933

www.dtv.de

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