Karen Joy Fowler – Künstliche Dinge. Erzählungen

Frauen in und nach der Revolution – ein Experiment

„Künstliche Dinge enthält ein Dutzend wunderbar seltsamer und heiterer Betrachtungen über die Geschichte. Ganz normale Menschen werden in außergewöhnliche Geschehnisse verstrickt, vom Mittelalter bis zur Gegenwart in Irland oder Vietnam, in ferner Zukunft oder auf fernen Planeten. Die Abenteuer, die sich daraus ergeben, sind surreal, ergreifend und faszinierend. Welch eine Story-Sammlung! Eine ganz eigene neue Stimme in der Science Fiction.“ Kim Stanley Robinson, SF-Schriftsteller und Sachbuchautor.

Die Autorin

Karen Joy Fowler (geboren als Karen Joy Burke am 7. Februar 1950 in Bloomington, Indiana) ist eine amerikanische Schriftstellerin. Ihr bekanntestes Buch ist der auch verfilmte Roman Der Jane Austen Club. Ihre Werke, in denen Unsicherheit und Entfremdung eine große Rolle spielen, bewegen sich oft im Grenzbereich von Realismus und Phantastik.(Wikipedia)

Karen Joy Fowler studierte in Berkeley, Kalifornien (siehe „Der Blick von der Venus“), sowie an der University of California Davis und schloss mit einem B.A. in Politologie und einem M.A. in Nordasienkunde ab. Für ihre ersten literarischen Arbeiten wurde sie 1987 mit dem John W. Campbell Award als beste neue Autorin ausgezeichnet. Sie hat zwei Kinder und erteilte jungen Leuten Sport- und Ballettunterricht. Sie hat mehrere hochkarätige Romane veröffentlicht (die man allerdings nur in sehr gut sortierten Buchläden in den USA bekommt – oder im Internet), darunter „Sarah Canary“ (dt. bei Goldmann).

Romane

• Sarah Canary (1991)
o Deutsch: Sarah Canary. Übersetzt von Uda Strätling. Kabel, Hamburg 1993, ISBN 3-8225-0237-5. Auch als: Goldmann #41477, 1996, ISBN 3-442-41477-6. Auch als: Das Geheimnis der Sarah Canary. Goldman Manhattan #54254, 2008, ISBN 978-3-442-54254-3.
• The Sweetheart Season (1996)
• Sister Noon (2001)
• The Jane Austen Book Club (2004)
o Deutsch: Der Jane Austen Club. Übersetzt von Marcus Ingendaay. Goldmann, 2005, ISBN 978-3-442-54611-4. Auch als: Goldmann #54246, 2007, ISBN 3-442-54246-4.
• Wit’s End (2008, auch als The Case of the Imaginary Detective)
• We Are All Completely Beside Ourselves (2013)
o Deutsch: Die fabelhaften Schwestern der Familie Cooke. Übersetzt von Marcus Ingendaay. Manhattan, München 2015, ISBN 978-3-442-54737-1. Auch als: Goldmann #48438, 2016, ISBN 978-3-442-48438-6.

Sammlungen

• Artificial Things (1986)
o Deutsch: Künstliche Dinge. Heyne Science Fiction & Fantasy #4821, 1991, ISBN 3-453-05010-X.
• Peripheral Vision (1990)
• Black Glass (1998)
• What I Didn’t See and Other Stories (2010)
• The Science of Herself plus … (2013)

Fowler ist eine der am häufigsten ausgezeichneten Autorinnen der amerikanischen Literatur:

Auszeichnungen

• 1987: John W. Campbell Award for Best New Writer in Science Fiction
• 1999: World Fantasy Award für die Sammlung Black Glass
• 2001: Nominierung für den PEN/Faulkner Award für den Roman „Sister Noon“
• 2004: Nebula Award für die Kurzgeschichte „What I Didn’t See“
• 2008: Nebula Award für die Kurzgeschichte „Always“
• 2010: World Fantasy Award für die Kurzgeschichte „The Pelican Bar
• 2010: Shirley Jackson Award für die Kurzgeschichte „The Pelican Bar
• 2011: World Fantasy Award für die Sammlung „What I Didn’t See and Other Stories“
• 2011: Thomas D. Clareson Award als Mitglied des Tiptree Motherboard, zusammen mit Debbie Notkin, Ellen Klages, Jeanne Gomoll, Jeff Smith und Pat Murphy
• 2014: PEN/Faulkner Award und Nominierung für den Man Booker Prize für den Roman „We Are All Completely Beside Ourselves“

Mehr Infos: https://de.wikipedia.org/wiki/Karen_Joy_Fowler.

Die Erzählungen

1) Der See war voller künstlicher Dinge (The lake was full of artificial things, 1985)

Miranda macht mit einer neuen Methode eine Psychotherapie. Sie will über den Verlust Daniels, ihres Freundes an der Uni Chicago bis 1972, 30 Jahre später hinwegkommen und lässt sich verkabeln. Dr. Anna Matsui speist ihrem Gehirn die Daten ein, die sie in Miranda über Daniel gesammelt und erzeugt so eine Art Traum, der aber auf Erinnerungen basiert. Das Ergebnis ist zufriedenstellend: Daniel erscheint und ist so liebevoll zu seiner „Randy“ wie er nur kann. Aber bevor irgendetwas passieren kann, zieht Dr. Matsui den Stecker. Miranda ist irgendwie unzufrieden.

Bei der zweiten „Begegnung“ sagt Daniel hässliche Dinge zu ihr. Dr. Matsui ist klar, dass dies die Schuldgefühle und Vorwürfe sind, die sich Miranda selbst macht. Daniel sollte für den Vietnamkrieg eingezogen werden, doch, Unglück ahnend, hatte sich Miranda bereits mit Michael, dem Mathematiker, eingelassen. War das nun Feigheit oder Grausamkeit, fragt sie Dr. Matsuis Assistenten. Der sagt „Feigheit“.

Doch die Träume enden nicht in der Praxis. Kaum setzt sich Miranda aufs Fahrrad, überfallen sie die Visionen von Vietnam realer als je zuvor…

Mein Eindruck

Die Autorin verarbeitet sowohl die Zeit der Hippies anno 1970 als das Trauma des Vietnamkriegs, der bis 1973 dauerte und zehntausende junge Amerikaner das Leben oder die Gesundheit kostete. Am Ende gibt es keine mentale Hilfe für Miranda, denn sie wird in den Sog des Krieges hineingezogen.

2) Das Poplar-Street-Experiment (The Poplar Street Study, 1985)

In der Poplar Street befindet sich der 600er-Block hinsichtlich der nachbarschaftlichen Idylle in ausbalancierter Stasis, d.h. alle sind gesund, die Erwachsenen arbeiten, die Kinder spielen. Alles ist einigermaßen in Ordnung, bis die Aliens landen, die Straße abriegeln und mit ihrem Experiment beginnen.

Die ersten Anzeichen sind noch harmlos: ausgefallene Sendungen, stumme Radios, liegen bleibende Autos, defekte Waffen. Doch dann tauchen metallene Kringel an beiden Enden der Straßen auf, die ein Kraftfeld errichten, das keiner durchbrechen kann. Spricht man mit den Riesenkringeln, holen sie Sprechkästen heraus und antworten mithilfe dieser Übersetzer. Die Aliens haben die Erde besetzt. Die Poplar Street ist die einzige im Viertel, in der noch Menschen leben.

Nach einer Weile bekommen die Nachbarn mitgeteilt, dass sie zu einer Kontrollgruppe gehören. Sie seien die Normalen und sollten sich dementsprechend verhalten. Es hat keinen Zweck, den Aliens entgegenzuschleudern, dass an der Situation rein gar nichts „normal“ sei. Dann beginnen die Aliens, Versuche durchzuführen. Sie verstecken Nahrung und lassen danach suchen. Die kleine Sunny Aldritch mit der frechen Klappe, die die Aliens „ätzend“ fand, findet das „die Schärfe“ und ist immer erfolgreich bei der Nahrungssuche.

Mr. Anderson findet sich nicht mit der Situation ab und wird aus der „Kontrollgruppe“ genommen. Erst fünf Jahre später wird er zurückkehren. Dann gibt es zwar die Nachbarn noch, aber alle haben sich verändert. Soll das etwa „normal“ sein, fragen sich die Probanden…

Mein Eindruck

Man merkt schnell, dass hier eine Politikwissenschaftlerin ein soziologisches Experiment ausführen lässt. Wer jetzt als H.G. Wells und seinen „Krieg der Welten“ denkt, ist schief gewickelt: Niemand stirbt, kein Mensch wird ausgesaugt, nur dass die Metallkringel gnadenlos sind, ist bedrückend.

Das Experiment an sich ist absurd, denn – wie schon Weiner Heisenberg in seiner Unschärferelation nachwies – verändert die Beobachtung das zu Beobachtende. Es ist richtig, dass es ein Experimentgruppe und eine „normale“ Kontrollgruppe geben sollte. Letztere bekommen ja immer die Placebos. Aber da das „Normale“ verändert wird, kann es nicht mehr als Maßstab gelten, der angelegt wird, um die Ergebnisse des „echten“ Experiments (an der Menschheit?) zu bewerten. Als Wissenschaftler sind die Aliens komplette Idioten.

Interessant ist letzten Endes die Frage, wer als neuer Anführer aus der manipulierten Nachbarschaft hervorgeht. Zur Überraschung aller ist es die kleine freche Sunny und nicht etwa die tonangebende Managerin Mrs. Desmond. Die Story weist neben der einfühlsamen, aber distanzierten Beobachtung auch eine gehörige Portion ironischen Humor auf.

3) Der Preis des Gesichts (Face Value, 1986)

Der Alien-Forscher Taki und seine Frau, die Dichterin Hesper, sind auf die neuentdeckte Welt der Mene gekommen, um diese rätselhaften Wesen zu erforschen. Unter dem Doppelsternsystem ist es heiß und staubig, doch den insektenartigen Menen macht das nichts aus. Die fliegenden Wesen mit den Flügelzeichnungen, die wie Gesichter aussehen, leben in unterirdischen Tunnelsystemen, deren Mittelpunkt Taki noch nicht hat erreichen können. Das frustriert ihn. Die Art und Weise ihrer Kommunikation könnte Telepathie sein.

Ebenso frustriert ist er vom Verhalten seiner Frau. Sie weint der Erde hinterher, besonders ihrer längst verstorbenen Mutter, die sie sehr liebt. Sie schreibt kaum noch Gedichte, und auch lieben will sie sich nicht mehr lassen. Nach einem weiteren zudringlichen Besuch eines Mene-Schwarms verliert sie nicht nur die Beherrschung. Sie verliert buchstäblich den eigenen Verstand. Aus ihrem Mund sprechen nun die Mene: „Wir haben sie. Wir können verhandeln…“

Mein Eindruck

Mit in der SF seltener Feinfühligkeit stellt die amerikanische Autorin den Prozess dar, wie einer sensiblen Frau der Verstand geraubt wird. Das geht überhaupt nicht gewaltsam vor sich, sondern ganz sachte, fast unmerklich für Taki. Bis es auf einmal zu spät ist. Die Kommunikation verläuft in beide Richtungen, sagt er, deshalb müssen die Menschen für die Mene zugänglich sein.

Doch die Identität einer Frau scheint sich von der eines Mannes zu unterscheiden. Eine Frau wie Hesper stört es, wenn die Mene ihre Fotos, Gedichte, ihren Schmuck und ihre Kleider durchwühlen. Nicht so bei Taki, der gleichmütig hinnimmt, wenn Mene seine Bänder mitnehmen und bald wieder in den Staub fallen lassen. Ding für Ding, Stück für Stück nehmen die telepathischen Mene also die Identität Hespers an sich. Dadurch wird die Geschichte zu einer Demonstration über den Geschlechterunterschied, vor allem in psychologischer Hinsicht.

4) Der Kopf des Drachen (The Dragon’s Head, 1986)

Anno 1955 ist sich die elfjährige Penny nicht sicher, ob es Hexen gibt. Die alte Nachbarin, Mrs. McLaughlin, scheint so eine zu sein, denn niemand besucht sie, und nur Mr. Sillman bringt ihr die Post. Pennys Mutter weist die Existenz von Hexen von der Hand, deshalb lässt sich Penny von ihrem Exfreund Clifton dazu überreden, zu Halloween Mrs. McLaughlin zu besuchen. Als Mutprobe braucht Penny bloß ihren Spruch aufzusagen.

Sie nimmt an Halloween all ihren Mut zusammen und klopft an die Haustür. Drei Mal. Als niemand öffnet, will sie wieder gehen, doch da öffnet sich die Tür und eine alte Frau, die gerade ihre Haare trocknet, lädt sie zum Tee und verspricht ihr ein Geschenk. Dies hat die Form eines neugeborenen Vierbeiners: ein Kätzchen. Im Verlauf eines recht sonderbaren Gesprächs stellt ihr die alte Frau zwei Rätsel. Wann hat ein Mensch zwei Herzen und was ist der Doppelkopf des Drachen, der eine speit Nebel, der andere Feuer?

Penny schwirrt der Kopf, als sie mit ihrem Kätzchen – sie nennt es „Rauch“ – nach Hause kommt und von den Geschichten der Alten erzählt. Verbrannte Frauen? Die gibt’s doch gar nicht. Die Meinungen ihrer materialistischen Mutter und ihres nicht so materialistischen Vater kollidieren beim Wort „dekapitieren“, das Mom verwendet. Es bedeutet „enthaupten“.

20 Jahre später ist Penny hochschwanger. Die ist jetzt ein Mensch mit zwei Herzen, so viel ist schon mal klar. Und sie „ist ein Junge im Körper eines Mädchens“, so wie damals. Dass ihr Baby ein Junge wird, ist für sie eine unumstößliche Gewissheit. Und die Sache mit dem Drachen, den keiner sehen kann, wird ihr schon noch einfallen.

Mein Eindruck

In dieser wundervollen Coming-of-Age-Geschichte spielen die Themen Geschlechtsidentität, Alter, Frauenschicksale und Fortpflanzung eine zentrale Rolle. Die Welt ist voller Rätsel, besonders wenn man wie Penny „ein Junge im Körper eines Mädchens“ ist. Diese Rätsel treffen auf den abgeklärten Materialismus von Pennys Mutter und bilden sie einen ironischen Kontrast. Das Drachenrätsel muss der Leser indes selbst lösen.

5) Der Rosenkrieg (The War of the Roses, 1985)

Die Revolution ist vorüber, hat aber inzwischen ernste Schwierigkeiten: Der angebaute Weizen wird krank und verfault. Die Ernten fallen aus, die Überschüsse reichen nur noch für drei Jahre. Höchste Zeit also, etwas zu unternehmen. Das Revolutionskomitee wählt die 16-jährige Chronistin aus, eine Expedition anzuführen. Diese soll die Rosengilde, die hinter einem Berg in einem schönen Tal lebt, dazu zwingen, den Revolutionären bei ihrem Weizenanbau zu helfen. Kaum auf den Hängen überm Tal angekommen, umringen zutrauliche Rehe und Hirsche die vier Reisenden. Ruben zögert nicht, eines der Rehe abzuknallen. Eine tolle Ankündigung ihrer Anwesenheit, findet die Anführerin.

Das Gehöft der Gilde ist in der Tat von Rosen umgeben und bewachsen, aber genauso spartanisch eingerichtet und dekoriert wie daheim, findet unsere Erzählerin. Keiner zu sehen, keiner am Tor, das der alte Silas leicht aufstößt. Es ist bekannt, dass die Gilde keine Waffen benutzt oder besitzt, also sind die Revolutionäre im Vorteil: Sie und Ruben haben Gewehre. Eine junge Rosenzüchterin kredenzt ihnen Tee, doch dafür sind sie nicht gekommen. Der „Großvater“ und Gildenvorsteher muss kommen. Er könnt sich das Ansinnen an und starrt auf die Waffen. Nur Ruben, so zeigt, ist bereit, ein Gewehr – gegen Blumen – zu benutzen, nicht jedoch die Anführerin, die beschämt verstummt.

Nachdem sich der Großvater zu einem Kompromiss auf Tauschbasis bereiterklärt hat, bleiben sie und Ruben auf der Farm, während Silas und die Witwe zurück zu den Revolutionären gehen. Der Rosenkrieg scheint abgewendet, zumindest fürs erste. Nachdem sie sich in den Wanderer Mikhal verliebt hat und mit ihm zurück zur Basis gereist ist, muss sie feststellen, dass es kein Schwein interessiert, was bei der Rosengilde passierte. Es hatte einen Grund, warum eine so unerfahrene Frau wie sie in die Wildnis geschickt wurde: Sie war entbehrlich.

Doch der gewalttätige und renitente Ruben ist bei den Rosengärtnern geblieben, und das hat verhängnisvolle Folgen…

Mein Eindruck

In dieser sorgfältig konstruierten Erzählung von knapp 30 Seiten Länge muss die namenlose Chronistin – nennen wir sie „Rose“ – abwägen zwischen Tradition, die des Bewahrens wert ist (Rosengilde), und Revolution, die Neues ausprobiert – und damit scheitert. Was ihr das Revolutionskomitee verschwiegen hat, muss sie selbst entdecken: Unter den Revolutionären befinden sich noch alte Fachleute, die über die von der Rosengilde erbetenen Fähigkeiten bestens verfügen. Und sogar die Geräte, die die Rosengilde im Tausch haben wollte, sind noch da, und sie wissen sie einzusetzen. Roses Reise war also völlig zwecklos. Ihr einziger Gewinn ist Mikhal, mit dem sie viele Kinder haben möchte.

Wer sich mit der chinesischen und russischen Geschichte auskennt (und das trifft auf die Autorin sicherlich zu), wird mühelos Muster erkennen, die bei der sowjetischen Oktoberrevolution bzw. dem nachfolgenden Bürgerkrieg sowie in der chinesischen Kulturrevolution von 1966 auftraten. Üble Missernten, ökologische Katastrophen, zahlreiche Tote, vergessenes bzw. ignoriertes und unterdrücktes Fachwissen, ideologische Unterdrückung.

Hinweis: Alle diese Merkmale findet man am Anfang des ausgezeichneten SF-Romans „Die drei Sonnen“ von Cixin Liu (siehe meine Besprechung). Dort werden die verheerenden Begleiterscheinungen und Folgen der Kulturrevolution 1966-1969 geschildert.

6) Rekorde (Contention, ohne Jahr, ohne Ort)

Was tun die Leute nicht alles, um ins „Guinness Buch der Rekorde“ zu kommen! Claires Familie bespricht das Thema heiß. Sie ahnt nicht, was Claire heimlich im Schilde führt. Es gibt schon wieder Hamburger zu Mittag…

Mein Eindruck

Der hintersinnige Witz in den Geschichten der Autorin ist hier wieder mal deutlich zu erkennen, allerdings nur, wenn der Leser mitdenkt. Zwischendurch malt sich Claire, die Hauptfigur, eine romantische Fantasie aus, die v.a. weibliche Leser ansprechen dürfte. Zum O-Titel: „Contention“ bedeutet eigentlich „Wettstreit“, mit der Betonung auf „Streit“.

7) Rückrufaktion für Cinderella (Recalling Cinderella, 1985)

„Raina…“ – mit ihrem neuen Namen wird die Androidin aufgeweckt, die der Hersteller an Dr. Margaret in einem fernen Sternensektor geschickt hat. Hier leitet Dr. Margaret, unterstützt von ihren Töchtern Laura und Elaine, ein Hospital, das sich v.a. um die vielen Bergleute im Sektor kümmert. Obwohl Raina gut sprechen und denken kann, hat sie Probleme mit Gefühlen. Doch sie lernt schnell – vor allem Geheimnisse.

Von Geheimnissen gibt es im Hospital jede Menge, so etwa jenes um Gwen, die mit einem Mann davongelaufen ist und deren Name niemals erwähnt werden darf. Als Gwens Sohn nach einem Unglück eingeliefert wird und als einziger geimpft ist, wird den drei Frauen klar, dass er Gwens Sohn ist. „Das hat sie bestimmt mit Absicht gemacht, um uns zu beschämen“, sagen Laura und Elaine missgünstig. Sie hätten gerne selbst Kinder.

Raina lernt nach einer Weile, Kontrolle auszuüben und Menschen zu manipulieren. Sie durchschaut auch Dr. Margaret, deren immunologische Experimente sie für zu defensiv hält. Da ihr selbst tödliche Viren nichts ausmachen, startet sie ein eigenes Experiment. Noch ein Geheimnis: Ihr Hersteller ruft alle „fehlerhaften“ Medizinhelferinnen der Baureihe XYZ zurück. Sie antwortet mit einer beruhigenden mail: „Alles unter Kontrolle.“ Doch das Wort „Modelle der Baureihe“ erinnert sie daran, dass es von ihr noch viele da draußen gibt. Höchste Zeit, sie zu suchen…

Mein Eindruck

Die Erzählung ist ein Remake des Märchens von Aschenputtel, wie man schon am Originaltitel ablesen kann. Nur, dass diesmal die Cinderella von einer Androidin dargestellt wird. Der kleine, aber feine Unterschied zu den anderen Frauen im Hospital – der Stiefmutter Dr. Margaret und den zwei missgünstigen „Schwestern“ Elaine und Laura – besteht darin, dass Raina nicht nur mehr arbeitet, sondern auch weniger fühlt. Sie ist rationaler und ruhiger, bewahrt Geheimnisse und erwirbt auf diese Weise eine gewisse Macht.

Die Menschen sind keineswegs Vorbilder, sondern sehr optimierbar. Am Schluss macht sie es wie einst Gwen und verlässt den Hospitalplaneten. Es gibt noch viele Rainas zu befreien. Es gibt nur wenige Pastiches auf Grimms Märchen, die effektvoller und einfühlsamer sind. Ich kenne keine.

8) Andere Ebenen (Other Planes, 1988)

Katy und Sonya sind seit der High-School Freundinnen, obwohl sie grundverschieden sind. Bei einem Abendessen in einem feinen Restaurant futtern sie Blattsalat und trinken Weißwein, während sie Erinnerungen austauschen. Sonya wird am nächsten Morgen abfliegen, um einen weiteren Mann zu sehen oder zu heiraten. Die königliche Sonya, sie hat zehn Männer an jedem Finger gehabt, scheint es Katy, dem Mauerblümchen, vor. Sie hat nur Jamie und ihren Sohn, sonst nichts.

Doch als sie darauf zu sprechen kommen, dass sie Gespenster gesehen haben, verändert sich etwas in Katy. Sony hat mal einen echten Geist von einem toten Mann gesehen, damals in der Berghütte, als sie Katy Mike ausgespannt hatte: „Er lebte auf einer anderen Ebene“. Dann erzählt Katy von ihrem sechsjährigen Ich, das in einer Scheune, die zum Palast eines Professors gehörte, mal eine schöne fremde Frau gesehen hat. Sonya ist es sofort sonnenklar: „Der Professor hatte eine Affäre!“

Katy fühlt sich, als wären sie und ihre unbeschwerte Kindheit beschmutzt und verraten worden. Als Sonya auf die Toilette geht, um eine zu rauchen, zahlt sie, geht und lässt alle Gespenster zurück. Denkt sie.

Mein Eindruck

Die kurze Erzählung über Geister hat eigentlich mit einer asymmetrischen Freundesbeziehung zu tun. Sonya ist eine Spielerin und Vampirin, die nicht davor zurückschreckt, ihrer unscheinbaren, von Schuldgefühlen geplagten Freundin Katy Freunde und Väter auszuspannen. Katy durchläuft einen Erkenntnisprozess und kommt endlich (endlich!) zu einer Entscheidung, diese Phase zurückzulassen.

Der Titel ist doppeldeutig: „plane“ bedeutet sowohl Ebene als auch Flugzeug. Und Flugzeuge sind offenbar Sonyas bevorzugtes Fortbewegungsmittel.

9) Das Geistertor (The Gate of Ghosts, 1988)

Eliotts Familie stammt ursprünglich aus China, lebt aber seit der Heirat seiner Mutter Mei bei San Francisco. Mit seiner amerikanischen Frau Margaret hat er Töchterlein Jessica, das Margaret wie ihren Augapfel hütet. Jessicas Dynamik und Phantasie machen Margaret Angst, denn sie selbst hatte als kleines Mädchen eine Nahtoderfahrung. In letzter Zeit erzählt Jessica von dem „anderen Ort“, an den sie gehen und dort alles tun kann, was sie will.

Großmutter Mei weiß dazu sogar eine Geschichte: die Geschichte vom armen Fischer, seiner geliebten Tochter und den Geistern des Meeres. Die Geschichte vom Fischer, der sich für seine Tochter opfert, bewegt Jessica sehr, doch als Mei davon auch Margaret erzählt, bekommt diese nur noch mehr Angst: Ihre Schwiegermutter hält Jessica für bedroht und verhext, will sogar zu einem Wahrsager. Auf einmal ist auch Margarets Halskette, ein Erbstück, verschwunden. Jessica hilft beim Suchen, sogar an ihrem „anderen Ort“. Doch auf einmal packt sie dort ein heftiger Wind und weht sie fort.

Wird es ihr gelingen, vom anderen Ort durchs Geistertor zurückzukehren?

Mein Eindruck

„Das Geistertor“ beruht auf der (verbreiteten) Vorstellung, dass der Mensch aus dem Leben in das Reich des Todes wie in eine Alternativwelt hinüberwechseln und zurückkehren könne. Die Heldin, die kleine Jessica, ist in psychologischer Hinsicht überzeugend und einfühlsam geschildert, aber auch ihre Mutter und ihre Großmutter melden berechtigte Ansprüche auf unsere Sympathie an. Eine Kette von weiblichen Schicksalen entsteht, doch sie droht zu reißen, als der Konflikt zwischen chinesischer und amerikanischer Kultur in Jessica zum Ausbruch kommt.

10) Die Moormenschen (The Bog People, ohne Jahr, ohne Ort)

Die Erzählerin hat in einem repressiven, patriarchalischen Gesellschaftssystem ein Verbrechen begangen: Ise hat sich mit einem Mann der „Fremden“ eingelassen. Ihre Freundinnen sind brave Frauen, die entweder einen der Soldaten heiraten oder eine Braut Gottes werden. Doch was macht sie? Sie ist der Reihe getanzt und die Frauen werden kommen, um sie zu demütigen und zu bestrafen.

Sie weiß von den Moormenschen der Frühzeit, vom Tillund-Mann und vor allem vom Windeby-Mädchen. So wie diese armen Menschen wird auch sie bald einem eifersüchtigen Gott geopfert werden, ganz bestimmt.

Mein Eindruck

Mit ihrer kurzen Geschichte zeigt die Autorin, was mit Frauen passieren kann, die sich in einer patriarchalischen und fundamentalistischen Gesellschaft – nach einem Atomkrieg? – nicht angepasst verhalten und sich mit einem der „Fremden“, den Eroberern, einlassen. Rassismus spielt also eine Rolle, aber auch Gender: Die Erzählerin hält sich für hässlich, weil sie nicht so ist wie die anderen, angepassten Frauen.

Doch die gnadenlose Strafe des Verstoßens teilen nicht die Männer aus, sondern die Frauen. Man kommt sich vor wie im Alten Testament. Als die Israeliten in der ägyptischen wie auch in der babylonischen Gefangenschaft waren, musste das Volk eng zusammenhalten. Jeder Verstoß wurde streng bestraft, siehe auch die Zehn Gebote Mose. Dieser Community-Schutz kommt besonders in der Unterdrückung der Frau zum Ausdruck. Sie darf auf keinen Fall exogam, außerhalb der Sippe, eine Beziehung und womöglich Nachwuchs haben.

11) Wilde Jungs: Variationen über ein Thema (Wild Bo[d]y: Variations on a Theme, 1986)

Wystan ist ein unangepasster Junge, der ständig gehänselt und verfolgt wird. Er schützt beispielsweise Frösche, statt sie zu zermantschen. Auf einem feudalen Grundstück am Waldrand gelingt es ihm, sich in einem hohlen Baumstamm zu verbergen. Doch der Hüter des Anwesens, Carl, entdeckt ihn, beschützt ihn aber vor den Verfolgern. Im Landhaus eröffnet Carl seinem neuen Freund Wystan, was auf keltisch „Krieger, Streitaxt“ bedeutet, neue Welten des Wissens.

Ganz anders ergeht es im altenglischen Mittelalter dem jungen Erzähler und seinem Vater. Sie leben in Brenleah, das auf drei Seiten vom Wald des Königs Cynewulf umgeben ist, dem der Vater einst als Lehrer und Mentor diente. Da brachen friedliche Zeiten an, die nun aber beendet werden, seit der aggressive Halbbruder des Königs, Halric, durch Erbfolge auf den Thron gelangt ist.

Als der Vater von dem Kaufmann Eodmund erfährt, dass die Jäger des neuen Königs unterwegs seien, packt er sofort alle Sachen und nimmt seinen Sohn mit. Nach Tagen durch den dichten Wald gelangen sie an eine schützende Höhle. Doch der Frieden ist trügerisch. Als der Sohn im Wald ist, kommen Jäger und töten den Vater. Der Sohn kann sich ganz hinten in der Höhle verbergen und überlebt. Doch er muss sich nun als Wolfsjunge durchschlagen – bis man ihn erneut findet…

Mein Eindruck

Der angegebene O-Titel “ Wild Body“ muss natürlich „Wild Boy“ heißen. Dieses „Wolfsjungen“-Thema ist mit zwei verflochtenen Geschichten und mehreren spannenden Szenen sehr einfühlsam dargestellt. Für weibliche Leser wird schnell deutlich, wie stark sich das Erwachsenwerden eines Jungen von dem eines Mädchens unterscheidet. Gewalt ist latent oder explizit stets gegenwärtig. In beiden Schicksalen hat der Junge seinen Vater verloren oder verliert ihn noch. Er muss sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Liebe spielt leider (noch) keine Rolle.

12) Der Blick von der Venus. Eine Fallstudie (The View from Venus: A Case Study, ohne Jahr, ohne Ort)

Im Seminar über „vergleichendes Liebesverhalten“ haben die Geschichtsstudenten (der Venus?) Gelegenheit, mithilfe einer Art Chronoskop zurück ins Jahr 1969 zu blicken, in die kalifornische Stadt Berkeley. Die beobachteten Männer und Frauen spüren natürlich nichts von der psychischen Sonde und verhalten sich daher ganz normal und ungezwungen. So lautet zumindest die Annahme. Dennoch ist das Sammeln der Daten indirekt statt direkt, was einen gewissen Unsicherheitsfaktor erzeugt.

Linda lebt mit Julie, Lauren und Gretchen in einem Apartment in einem Wohnblock unweit des Campus der Uni Berkeley, als ihr Traummann in den Aufzug steigt. Sofort ist Linda beklommen und still – bis der betagte Aufzug steckenbleibt. Sie kommen ins Gespräch und es stellt sich heraus, dass der Student Dave heute in die Wohnung 201 einzieht. Dort lebt er offenbar zusammen mit den anderen Studenten Kenneth, Frank und Fred, die allesamt hereinschneien, als Linda auf einen Kaffee zu Dave rüberkommt. Soviel Testosteron auf einem Haufen ist Linda zuviel und sie verdrückt sich. Außerdem kann sie Kaffee eh nicht ausstehen, genauso wenig wie Tee oder gar Bier.

Berkeley anno 1969 ist eine Stadt im Ausnahmezustand. Gouverneur Ronald Reagan hat ein nächtliches Ausgehverbot verhängt, und Panzerwagen der Nationalgarde kontrollieren die Kreuzungen. Dennoch provozieren Dave und Kenneth die Nachbarschaft. Nun hat Dave Linda zu einer Party eingeladen, zu der sie allein gehen muss. Es wird eine denkwürdige Gesellschaft, denn die Französin Suzette erzählt ihr etwas von Venusiern, die sie. Linda, beobachten würden. Dummes Geschwätz!

Das Einzige, woran Linda denkt, ist Daves starke und schutzbietende Präsenz. Wenig später kommt es in der Penthouse-Wohnung der reichen Mrs. Kirk endlich zum ersehnten romantischen Stelldichein… Die Studenten der komparativen Liebeskunde sind entzückt.

Mein Eindruck

Linda bzw. ihre Schöpferin erwähnt drei wichtige Songtitel:

1) „Twentieth Century Fox“ von The Doors, das auf ihrem Debütalbum von 1967 zu finden ist, aber aus Copyright-Gründen auf keinem einzigen Sampler, den ich kenne. Die Trackliste ist in der englischen Wikipedia zu finden.

2) „The Weight“ (https://en.wikipedia.org/wiki/The_Weight) und

3) „Tears of Rage“ von Big Pink alias The Band https://en.wikipedia.org/wiki/Big_Pink, das sind Bob Dylan and The Band auf „Music from Big Pink“ (1968).

Die Tatsache, dass Lieder aus dem Jahr 1967 noch im Jahr 1969 gespielt werden, lässt auf deren nachhaltige Wirkung schließen. Ich gehe nicht davon aus, dass die Autorin diesbezüglich falsch recherchiert hat – sie kennt offenbar die damalige Szene aus eigener Erfahrung (siehe ihre Biografie). 1969 war nach all den politischen Morden an Bob Kennedy, M.L. King und Malcolm X wirklich die Hölle los (es gab sogar echte Terroristen, die „Weathermen Underground„), und Reagan ließ in Berkeley wirklich die Nationalgarde aufmarschieren. Das wurde im August 1969 auf dem Woodstock Musikfestival von Joan Baez und ihren Mitstreitern thematisiert.

Interessant ist auch das Phänomen des Feminismus, dem Gretchen anhängt. Sie bringt einige wichtige Argumente zur Sprache, die bis heute (leider) nicht an Aktualität verloren haben. Wenigstens ist der hier geschilderte Sexismus zurückgegangen (wenn auch nicht in muslimischen Ländern, wie wir inzwischen aus den Büchern der beinahe ermordeten Berliner Muslimin Ates wissen).

Wie schon im Poplar-Street-Experiment untersucht die Autorin indirekt die Forschungsmethode der Venusier. Mithilfe der „Absorption“-Methode fühlen sich die Studenten in das gedankliche und emotionale Geschehen der Probandin Linda ein, doch sie werden mehrfach ermahnt, ihre objektive Distanz nicht zu verlieren. Das ist natürlich ein unüberwindbarer Widerspruch. Man kann sagen, dass Erkenntnisqualität auch dieser Methode ziemlich begrenzt ist.

13) Praxis (Praxis, 1985)

Hannah ist im 22. Jahrhundert Historikerin unter ganz besonderen Bedingungen. Als Spezialistin für Massenbewegungen kennt sie sich mit der zurückliegenden Revolution aus, die durch das Attentat auf Papst Peter ausgelöst wurde. Doch nicht die Armen haben die Oberhand gewonnen, sondern die Reichen. Reiche wie Baron Himmlich, dessen Tochter Svanneshal (= Schwanenhals) Hannah als Privatdozentin unterrichtet. Die Reichen haben programmierte Cyborgs als Leibwächter, und weitere Cyborgs, die Simulanten, sorgen für ihre Unterhaltung, etwa im Theater. Sicher ist sicher, dachte sich der Baron – und programmierte alle Cyborgs mit seiner Software selbst.

Heute wird „Romeo und Julia“ gegeben. Das Finale nähert sich, allerdings ohne Bruder Lorenzo, was die Sache etwas beschleunigt. Schon bald werden erst Julia Capulet, dann Romeo Montague darniedersinken. Doch halt! Was ist das? An der Seite Hannahs sinkt die Großherzogin de Vie darnieder, und sie ist offenbar ebenfalls eine Simulantin. Der Leibwächter-Cyborg steckt gerade sein Stilett weg, und eine rote Rose erscheint auf der Brust der Großherzogin. Der Baron ist keineswegs entsetzt, sondern zufrieden. Er streift der Sterbenden den einen Handschuh ab. Hannah erkennt die Seriennummer in der Handfläche. Nicht menschlich – oder nur Tarnung?

Was tun, fragt sich Hannah. Sie steht vor einer jener Entscheidungen, die eine ganze Gesellschaft auf den Kopf stellen können: Individuum, Zeit, Ort und Folgen können darüber entscheiden, und es liegt in ihrer Hand, den Cyber-Soldaten des Mordes an einem Menschen anzuklagen. Da flüstert ihre Schülerin Svanneshal in ihr Ohr, eindringlich schildert sie die schrecklichen Folgen: „Nur die Cyber stehen zwischen uns und den Armen.“ Das heißt, zwischen der Zivilisation und dem Chaos…

Mein Eindruck

Die Revolution ist gekommen und gegangen, aber sie brachte nicht die Volksherrschaft, sondern die des Feudalismus. Machthaber wie Baron Himmlich halten das Volk mit Maschinen nieder, den „Cybers“. Zur Unterhaltung dienen weitere Androiden, und wer wäre besser geeignet als Schauspiellieferant als der gute alte Shakespeare?

Unserer Chronistin Hannah geht es keinen Deut besser als deutschen Hauslehrern Ende des 18. Jahrhundert, heißen sie nun Hölderlin, Lenz oder Büchner. Sie gerät unverhofft in eine Situation, in der sie die Geschichte so entscheiden könnte, dass sich die Machtverhältnisse ändern. Doch der Moment geht ungenutzt vorüber, und alles bleibt beim Alten.

Die Autorin hat sich wieder einmal ein hübsches Experiment ausgedacht, in der die Theorien der Politologen – sie ist ja selbst eine – den Praxistest bestehen müssen: Was wäre, wenn man die feudalistische Revolution rückgängig machen könnte, um eine echte Demokratie zu schaffen? Die Aussage fällt pessimistisch aus: Die Historikerin bleibt passive Beobachterin, obwohl es einen Mord gegeben hat. (Es ist nicht sicher, ob sie nicht selbst ebenfalls eine Androidin ist, ohne es zu wissen.) Es ist etwas ganz anderes nötig, um solche Passivität abzulösen. Aber was? Da alles programmiert ist, kann es sich nur um einen Hacker handeln (aber das wird nicht gesagt).

Die Übersetzung

S. 88: „und wu[r]de immer langsamer. Das R fehlt.

S. 202: „Meine Mutter hieß U[n]dine“. Das N fehlt, denn es geht ganz klar um die legendäre Nixe.

S. 245: „Rä[t]sel“: Das T fehlt.

S. 249: „Das hab ich dieses kleine geschmackliche Bild ins Fenster gestellt.“ Dave meint wohl „dieses geschmackvolle Bild“, denn „geschmacklich“ existiert nur als Adverb, nie als Adjektiv, beispielsweise als „geschmacklich interessant“. Leider gibt der Heyne-Verlag dafür keinen Übersetzer an, aber es ist davon auszugehen, dass es sich um den Gesamtübersetzer Peter Robert gehandelt hat.

Hinweis: Der O-Titel basiert auf dem Gedicht „Notes to a Supreme Fiction“ von Wallace Stevens (1954). So steht es in den Credits zu der ersten Story.

Unterm Strich

Die Geschichten lassen sich grob in zwei Kategorien unterteilen: persönliche Veränderung und gesellschaftliche Veränderung. Dass das eine eng mit dem anderen verknüpft ist, dürfte klar sein. Soziale Veränderung, wie sie etwa eine Alien-Invasion oder ein Herrscherwechsel mit sich bringen, wirkt sich früher oder später auf das Schicksal des Einzelnen aus.

Der besondere Dreh der Politologin Fowler besteht darin, soziale Veränderungen wie etwa anno 1969 in Berkeley durch eine Experimentsituation zu objektivieren (bis hin zur Ironisierung), andererseits aber Einzelschicksale zu verallgemeinern, bis der soziale Umbruch erkennbar oder zumindest erahnbar wird. Man könnte also von „Social SF“ sprechen. K.S Robinson sieht in seinem Statement (s.o.) ebenfalls die Geschichte als Generalthema. Und diese wird von Schicksalen geformt.

Jane Austen & Co.

Bei den Einzelschicksalen ahnt man, dass Fowler Jane Austen liebt. So sehr, dass sie sogar einen verfilmten Bestseller-Roman über den (fiktiven?) „Jane Austen Book Club“ geschrieben hat. Während der Leser bei der englischen Pfarrerstochter aus den Einzelschicksalen auf die Gesamtgesellschaft bzw. die Schicht des niederen Adels (Landed Gentry) schließen muss, macht es einem Fowler viel leichter. Ohne die Revolution wie in „Rosenkrieg“ und „Praxis“ selbst zu schildern, zeigt sie uns die Folgen für die Individuen. Diese sind in aller Regel Frauen, es gibt nur eine Ausnahme, nämlich „Wilde Jungs“. Sie erlaubt es ihren Leserinnen, das Potential von Veränderungen an Beispielen zu erforschen, die nachvollziehbar und anrührend sind. In dieser Hinsicht liegt Fowler auf einer Wellenlänge mit Ursula K. Le Guin und Joanna Russ. Es lohnt sich, jede geschichte mindestens zweimal zu lesen. Jeder Satz darin zählt.

Weitere Werke

Seit diesen Erzählungen aus den achtziger Jahren scheint die Autorin aus der SF verschwunden zu sein. Aber dieser Eindruck liegt nur daran, dass sich Fowler zwar in den Mainstream bewegt hat (wo das Publikum viel größer ist), aber ihre Romane wie „Sister Noon“ oder „The Case of the Imaginary Detective“ hierzulande gar nicht erst übersetzt wurden. Die Ignoranz ist also hausgemacht. Die Lage hat sich indes seitdem gebessert, als 2005 „Der Jane Austen Club“ und als 2015 „Die fabelhaften Schwestern der Familie Cooke“ übersetzt wurden.

Fazit: 4.0 von 5 Sternen.

Michael Matzer © 2019ff

Taschenbuch: 284 Seiten
Originaltitel: Artificial things, 1986
Aus dem Englischen von Peter Robert.
ISBN-13: 9783453050105

www.heyne.de

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