Kate Wilhelm – Huysmans Schoßtierchen

Das schmutzige Geheimnis des Nobelpreisträgers

„Stanley Huysman wurde für seine bahnbrechenden Arbeiten auf dem Gebiet der Gentechnik mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Er wurde bekannt durch die Herstellung von neuen ertragreichen und resistenten Nutzpflanzen.

Nach seinem Tod bittet die Witwe Huysmans einen erfolgreichen Schriftsteller, die Memoiren ihres Mannes zu schreiben. Dieser ist zunächst wenig angetan von der Idee, doch je mehr er sich mit der Materie beschäftigt, desto neugieriger wird er. Als er schließlich den Assistenten Huysmans aufsucht, einen fanatischen jungen Gelehrten, der dessen Arbeiten unter merkwürdig geheimnistuerischen Bedingungen fortsetzt, schöpft er Verdacht.

Als ihm schließlich die Witwe Huysmans ihre wahren Motive anvertraut, dass sie den Forschungen ihres Mannes stets zutiefst misstraut habe, weil sie den Verdacht hegte, er manipuliere auch menschliches Erbmaterial, werden ihm die alptraumhaften Befürchtungen zur Gewissheit.“ (Verlagsinfo)

Die Autorin

Die 1928 geborene amerikanische Schriftstellerin Kate Wilhelm zeichnet sich durch eine sehr nah am Menschen orientierte Thematik und Darstellungsweise aus. Das hebt ihre vielfach ausgezeichneten Erzählungen und Romane über die Bindung an Moden und Tagesereignisse hinaus auf ein überzeitlich gültiges Niveau der Aussagekraft. Sie begann bereits 1956 Storys zu veröffentlichen. Mit dem Post-Holocaust-Roman „Hier sangen früher Vögel“ errang sie zahlreiche Preise, schrieb aber auch etliche Kriminalromane. Sie ist die Gattin des verstorbenen Autors und Herausgebers Damon Knight.

Wichtige Werke:

1) Hier sangen früher Vögel (1976)
2) Der Clewiston-Test (1976)
3) Inseln im Chaos (1991)
4) Huysmans Schoßtierchen (1986)
5) Margaret und ich (1971)
6) Somerset träumt (Collection)
7) Fühlbare Schatten (1981)
8) Kinder des Windes (Collection, 1989)
9) Die Tür ins Dunkel
10) Verrückte Zeit
11) Winterlicher Strand (1981, verfilmt)
12) Wacholderzeit (1979)

Handlung

Prolog

Im Frühjahr 1970 tauchen die ersten seltsamen Fälle spurlosen Verschwindens auf. Es handelt sich stets um Kinder in der sechsten Klasse, sei es in Kansas City, Oklahoma City oder anderen amerikanischen Orten. Die Kinder verschwinden genau dann, als bei ihnen Tests vorgenommen werden sollen. Mrs Hendricks erinnert sich noch genau, wie die kleine Michelle aus unerfindlichen Gründen plötzlich erstarrte und sagte, ihr sei übel. Kaum war sie daheim, packten sie und ihre alleinstehende Mutter ihre Sachen und tauchten unter. Also fingen die Tests ohne Michelle an.

Haupthandlung

Der Nobelpreisträger Stanley Huysmans ist im Alter von 85 Jahren gestorben und seine Witwe Irma, eine k.u.k. österreichische Grafentochter, hat es sich in den Kopf gesetzt, seine Biografie von keinem anderen als dem Schriftsteller Drew Lancaster schreiben zu lassen. Ihr hat seine Biografie über Eisenhower gefallen.

Doch Lancaster ist ein Exzentriker, und Irmas Abgesandter Clay findet ihn an einem abgeschiedensten Orte des Staates New York. Dort grübelt Lancaster über seine kürzlich erfolgte Scheidung von Patricia Stevens, der Tochter eines Industriellen, und der schmerzvollen Trennung von seiner Tochter Sherrynach. Die Aussicht, beide in Washington, D.C., wiederzusehen, bewegt ihn dazu mitzukommen.

Patricia ist die Assistentin des Senators William Wiley aus Virginia und glaubt an seine Sache. So sehr, dass sie sich vorstellen kann, ihn letzten Endes zu heiraten. Diese Vorstellung findet Lancaster so grässlich, dass er sich von Sherry zu einer Party der Wileys einladen lässt, um dort seinen Schabernack zu treiben. Am nächsten Tag steht in der Klatschspalte der Lokalzeitung, Lancaster habe sich mit Wiley geprügelt und dessen Bekanntgabe seiner Kandidatur als Gouverneur durch einen Stromausfall vereitelt.

Was gar nicht mal so weit von der Wahrheit entfernt ist. Wenigstens gelingt es ihm, in Pat die Saat des Zweifels zu säen: Sind die beiden Männer, Stevens senior und Wiley junior, wirklich so altruistisch, wie sie vorgibt? Als sie in alten Akten stöbert, macht sie eine bestürzende Entdeckung: Wiley, der verstorbene Gouverneur, hat Huysmans Experimente bezahlt.

Lancaster ist in seiner Beschäftigung mit Huysmans Werk auf Experimente mit Schimpansen gestoßen, die sehr teuer gewesen sein mussten und die jemand finanziert haben muss. Bei den Experimenten ging es darum, eineiige Zwillinge zu erzeugen und deren bis dato unerklärte Kommunikation zu erforschen. Die Akten über diese Versuche sind verschwunden, wie so vieles aus der Zeit zwischen 1953 und 1973, als Huysman aus der Fachwelt kritisiert wurde und diese Versuchsreihe einstellte.

Die Klinik der Mutanten

Deshalb fährt Lancaster mit seiner Tochter Sherry zu Dr. Claude Dohemy, dem damaligen Assistenten Huysmans. Dohemy hat zu Drews Überraschung eine kirchlich finanzierte Klinik für schizophrene Jugendliche aufgebaut. Das Haus und seine Gelände sieht alles sehr proper aus, und die Jugendlichen sehen aus wie aus der TV-Reklame. Doch das Kellergeschoss ist noch voller Zellen mit Stahltüren – angeblich aus der Zeit als Offiziers-Sanatorium, aber Lancaster weiß es besser. Denn Dohemy verplappert sich und sagt statt „Schimpansen“ „Menschen“. Da wird ihm klar, dass die Jugendlichen in Wahrheit Gefängnisinsassen sind.

Als wäre dies nicht genug, macht er die Bekanntschaft von Lisa Robbins, einer 24-jährigen Grafikerin, die eine besondere Eigenschaft aufweist: Sobald sie auch nur in die Nähe von Huysmans ehemaliger Klinik gelangt, fällt sie in Ohnmacht. Lisa hat eine psychische Verbindung, denn sie ist einer von eineiigen Zwillingen, die ihre Mutter Laura einst für Huysmans gegen Entgelt zur Welt brachte.

Aber um das Puzzle zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, fehlen noch ein oder zwei Teile. Leider ist Lancaster der Secret Service auf den Fersen, der glaubt, er decke einen raffinierten Geldfälscher. Wenn der Secret Service glauben gemacht werden könnte, dass Lancaster eben diesen Fälscher innerhalb der Mauern von Dohemys Klinik entdeckt hat, könnte man Dohemy vielleicht das Handwerk legen.

Da kommt Lancaster der Zufall zu Hilfe. Aber ist es wirklich Zufall – oder etwas anderes, fragt er sich. Wozu sind diese Mutantenkinder wirklich fähig?

Mein Eindruck

Ein verrückter Wissenschaftler, mächtig unheimliche Mutanten, korrupte Politiker und die Geschichte einer Läuterung – was begehrt des SF-Lesers Herz mehr? Doch wer sich mit solchen Versatzstücken und Klischees begnügt, ist bei Kate Wilhelm in aller Regel auf dem Holzweg. Denn sie packt ihre Geschichten immer von der Seite des unwahrscheinlichsten Zugangs an. Ein männliches Hirn, wie meines, wird ständig durch unerwartete Wendungen und Kombinationen verwirrt – und auf diese Weise permanent auf Trab gehalten. Deshalb habe ich diesen unscheinbaren Roman in nur drei Tagen gelesen.

Mutanten ohne Klischee

Die Mutantenkinder stehen überhaupt nicht im Vordergrund. Deshalb nützt es nichts, wenn sich der Leser auf Vorbilder wie Olaf Stapledons „Insel der Mutanten“ oder John Wyndhams mehrfach verfilmten Roman „The Midwich Cuckoos“ besinnt und den vorliegenden Roman damit vergleicht. Der Ansatz der Autorin ist nicht ausgrenzend, sondern integrativ: Wir sind die Mutanten!

Nicht die Mutanten müssen auf die einsame Südseeinsel auswandern, sondern wir haben eine gehörige Kopfwäsche nötig: Die Mutanten gehörig nicht missbraucht und ausgegrenzt, sondern als unseresgleichen angenommen und beschützt. Und wir sollten schämen, auch nur daran zu denken, sie zu missbrauchen, und sei es auch nur für die Sensationspresse.

Verantwortung & Erkenntnis

In Spiralen und Kreisen bewegt sich die Handlung auf das Geheimnis zu, das die von Huysman und Dohemy geschaffenen Kinder umgibt. Der Schwerpunkt liegt nicht auf der Ergründung dieses Geheimnisses, sondern auf der moralischen Frage, was erwachsene Menschen wie Drew Lancaster und Pat Stevens mit der Erkenntnis anfangen, dass ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit (nämlich die Experimente) begangen wurde.

Lancaster denkt immer wieder daran, dass er eigentlich abhauen könnte und das Problem, das er gar nicht als seines anerkennt, den anderen überlassen könnte. Pat hingegen sucht eine Aufgabe, die sie sowohl ausfüllt als auch für die Nachwelt im Gedächtnis sein lässt, einen bleibenden Wert. In einem gewundenen, turbulenten Prozess, der auch das Kitten ihrer einstigen Liebe erfordert, gelangen sie zu der Erkenntnis: Sie selbst müssen sich für die Mutantenkinder einsetzen, wenn überhaupt das Richtige passieren soll. Vielfach kommt es dabei zu den komischsten Situationen.

Schräge Charaktere

Mutanten wie Lisa Robbins oder Franklin Silberfuchs können in ihrem eigenen kleinen Kreis wirken, doch ohne den Schutz der Erwachsenen wie etwa Irma Huysman wären sie den Behörden ausgeliefert oder fänden keinen Weg, in die Festung, wo ihre Geschwister gefangen sind, einzudringen. Der Autorin sind schön schräge Charaktere eingefallen, die als Helfer fungieren. So etwa den Geldfälscher Sorbies, der Dohemy überlistet, und Franklins Adoptivgroßvater Jack, einen ehemaligen Helfer des Fälschers, der als Indianer im armen Oklahoma aufwuchs.

Der Geheimagent

Hinter beiden ist Leon Lauder vom Secret Service her. Auch er ist kein Abziehbild, sondern teils beruflich Besessener, teils privat Unterdrückter – er würde viel lieber Rosen züchten als Fälscher jagen. Wie frustrierend, dass die eigenen Mitarbeiter so inkompetent sind, sich von KINDERN austricksen zu lassen und wie lästig, von den eigenen Bossen das Geld gekürzt zu bekommen. Von den Lügen dieses zwielichtigen Drew Lancaster ganz zu schweigen. Es ist Lauder, der in Lancasters Plan unwillentlich die Hauptrolle spielt – und dies zähneknirschend sowohl erkennt als auch mitmacht. Denn sonst könnte er überhaupt keine Ergebnisse vorweisen.

Frauen und noch mehr Frauen

Bei einem weiblichen Autor liegt es nahe, dass viele weibliche Figuren mitspielen. Pat, Lisa, Sherry, Florence, Julianna – es handelt sich um lauter mehr oder weniger kompetente oder aufgeweckte Frauen. Sherry etwa ist eine aufgeweckte Zwölfjährige, die mit ihrem Vater Drew Dialoge führt, die an Absurdität kaum zu überbieten sind. Und sie treibt dauernd Spiele mit ihm. Was ihre Mom Pat regelmäßig auf die Palme bringt, denn Pat hält sich für vernünftig. Sagt sie jedenfalls, es sei denn, sie wird von Drew am ganzen Körper geküsst. Dann verliert auch sie den Verstand. Diese Liebesszenen zwischen Drew und Pat sind so frisch und glaubwürdig geschildert, dass die Figuren fast von der Seite ins wirkliche Leben hüpfen.

Das Geheimnis

Die Autorin bemüht die Quantenmechanik, um die unsichtbare psychische Verbindung zwischen eineiigen Zwillingen annähernd zu erklären. Sie erwähnt das Phänomen des Singuletts, bei dem zwei Partikel miteinander interagieren. Diese Erklärung ist aber für den Handlungsverlauf vordergründig unerheblich. Es könnte aber der Grund sein, warum sich auf einmal so viele günstige Zufälle im Leben von Drew und Pat ereignen. Wer will, der kann dies als rationale Erklärung mit nach Hause nehmen. Dann lacht sich die Autorin bestimmt ins Fäustchen.

Die Übersetzung

Die Übersetzung durch Irene Bonhorst liest sich flüssig und klingt natürlich. Ich fand so wenige Druckfehler, dass deren Aufzählung nicht lohnt. Ärgerlich fand ich lediglich den sehr blassen Druck der Seite 104. Sie war kaum zu lesen. Wenigstens fehlte sie nicht. Dieses bedauerliche Schicksal widerfuhr ja einst der letzten Seite der Erstauflage von Dan Simmons‘ „Hyperion“.

Unterm Strich

„Schoßtierchen“ oder „Schloßtierchen“? Manche Buchhändler scheinen sich einen Spaß daraus zu machen, Leser und Buchkäufer irrezuführen. In jedem Fall hält der Käufer einen amüsanten Gesellschaftsroman in der Hand, der rein zufällig auch etwas mit Menschenexperimenten zu tun hat. Die Handlung konzentriert sich nicht auf das eh schon von den Nazis bekannte Verbrechen – Huysman hat in Deutschland studiert -, sondern auf den Umgang mit der Erkenntnis, dass es a) dieses verbrechen gab, dass es b) immer noch weitergeht und c) dass dessen Ergebnisse lebende Menschen mit allen Rechten sind. Nur mit dem Unterschied, dass diese Jugendlichen gefangen gehalten und missbraucht werden.

Die „Oh Mensch!“-Dramatik ist der Autorin fremd, und sie verschmäht die naheliegende Holzhammermethode. Vielmehr führt sie den bestens unterhaltenen Leser aufs moralische Glatteis. Soll er nun entscheiden wie Leon Lauder, der Geheimagent? Soll er sich auf die Seite des Wissenschaftlers schlagen und Erkenntnisse suchen? Oder sollte er es doch mit den human denkenden Frauen und Männern um Drew Lancaster halten, die die Mutantenkinder befreien wollen? Die Autorin verurteilt nicht und sie erzwingt vom Leser keine Entscheidung. Aber sie legt die moralisch richtige Entscheidung natürlich nahe.

Mir jedenfalls hat der Roman bestens gefallen und ich bin sicher, noch viele weitere Wilhelm-Romane lesen zu wollen.

Der Autor vergibt: (5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (2 Stimmen, Durchschnitt: 3,00 von 5)

Originaltitel: Huysman’s Pets (1986)
Aus dem US-Englischen von Irene Bonhorst
ISBN-13: 978-3453034624

www.heyne.de