Keith Roberts – Die Hexe Anita. Hexengeschichten

Witzig und hintersinnig: Abenteuer einer Junghexe

In den Wäldern von Northamptonshire steht eine kleine, strohgedeckte Kate, deren Ähnlichkeit mit einem Hexenhaus kein Zufall ist. Dort lebt die noch etwas ungeübte, dafür aber umso reizvollere Junghexe Anita mit ihrer Großmutter, einer Meisterin ihres Fachs. Nach ihrer Hexenweihe erobert die schöne abenteuerlustige Anita sich die Welt. Ihre Begegnungen mit den Menschen, wie etwa mit jungen, gutaussehenden Männern in roten Sportwagen, beschreibt Keith Roberts anspielungsreich und mit viel Witz und Hintersinn. (Phantastik-Couch.de)

Der Autor

Keith John Kingston Roberts (* 20. September 1935 in Kettering, Northamptonshire; † 5. Oktober 2000 in Salisbury, Wiltshire) war ein britischer Science-Fiction-Autor und Illustrator. Er veröffentlichte auch unter den Pseudonymen Alistair Bevan, John Kingston und David Stringer.

Roberts’ erste beiden Kurzgeschichten veröffentlichte er 1964 im britischen SF-Magazin Science Fantasy, bei dem er 1966 selbst Herausgeber wurde (es hieß zu diesem Zeitpunkt „Impulse“). Weitere Erzählungen von Roberts erschienen in Folge auch im Magazin New Worlds.

Dem Erstlingsroman „The Furies“ (1966, dt. Der Neptun-Test, Goldmann) folgte bereits zwei Jahre später sein wohl wichtigster Roman: „Pavane“ ((https://en.wikipedia.org/wiki/Pavane_(novel))), in Deutschland zunächst von Heyne vertrieben als „Die folgenschwere Ermordung Ihrer Majestät Königin Elisabeth I.“, spätere Auflagen unter dem Originaltitel.

In „Pavane“ geht es um eine Alternativwelt, in der Königin Elisabeth I. ermordet wurde und die spanische Armada siegreich war. England ist deshalb in Folge im 20. Jahrhundert durch die Herrschaft der Katholischen Kirche geprägt.

Im Jahre 1990 wurde ihm die Diagnose Multiple Sklerose gestellt, zehn Jahre später erlag er den Folgen der Krankheit. (Quelle: Wikipedia.de)

„Die Hexe Anita“ ist (wie „Pavane“) ein aus Erzählungen zusammengesetzter Fix-up-Roman. Die erste der Geschichten erschien bereits 1970, u.a. im bekannten „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ (11/70, p.5).

Romane

• The Furies (1966) – Katastrophenroman
• Pavane (1968) – verbundene Kurzgeschichten
• Anita (1970) – verbundene Kurzgeschichten
• The Inner Wheel (1970) – verbundene Kurzgeschichten
• The Boat of Fate (1971) – historischer Roman am Ende des Imperium Romanum
• The Chalk Giants (1974) – verbundene Kurzgeschichten
• Molly Zero (1980) – Roman in einem Dystopia (übersetzt)
• Kiteworld (1985) – verbundene Kurzgeschichten
• Kaeti & Company (1986) – verbundene Kurzgeschichten
• Gráinne (1987) – Slipstream-Roman
• The Road to Paradise (1989) – ein Thriller
• Kaeti on Tour (1992) – verbundene Kurzgeschichten
• Drek Yarman (2000) – ein Roman mit dem Hintergrund von „Drachenwelt“

Auf Deutsch erschienen:

1) Pavane
2) Die Kreideriesen
3) Drachenwelt
4) Molly Zero
5) Die Hexe Anita

Die Erzählungen

1) Die Hexe

Die Junghexe Anita lebt bei ihrer Großmutter Thompson in einem alten Hexenhäuschen, das verborgen im Wald von Foxhanger steht. Heute steht Initiation auf dem Programm: Eine junge Hexe muss dem Fürsten der Hölle geweiht werden. Was für ein grässliches, stinkendes Zeug, das die Oma da auf Anitas edle Haut schmiert! Draußen vor der Tür streunt Anita erst durch den Wald und klinkt sich mit ihren acht Sinnen in den Verstand der kleinen nachtwesen ein.

Die Fledermaus führt sie aus dem Wald an die Landstraße. Dies führt zum Dorf und wird von jungen Männern in dicken Sportwagen befahren. Sie braucht bloß ihren Zauber wirken zu lassen, und schon hält der nächste an. Sie führt seinen Kurs in eine verschwiegene Seitenstraße…

2) Anita

Anita ist neugierig auf Menschen. Echte Menschen. So beobachtet sie ein Pärchen, das an einem See zu flanieren pflegt. Der Zigeunerjunge und das Bürgermädchen scheinen verliebt zu sein. Doch eines Tages steht das Mädchen am See und ist allein. Anita gesellt sich zu ihr. Das Mädchen nennt sich Ruth Draper und ist in der Tat von dem Zigeunerjungen Jem allein gelassen worden. Er musste wohl weiterziehen, doch später bekommt Ruth von ihrem rassistischen Vater gesagt, dass die Polizei diese nichtsnutzigen, dreckigen und diebischen Zigeuner vertrieben hätte.

Als Ruth dies erfährt, bricht ihr das Herz, denn ihr Vater ist so gehässig, und es gibt keine Zukunft ohne diese eine Liebe. Sie geht ins Wasser des Sees, ganz tief, bis er mit ihr ein Ende macht. Alle Tiere im Wald sind aufgeregt, wenn eine Seele geht, und so bekommt es Anita mit. Mit ihrer Telekinese holt sie Ruths toten Körper aus dem Grund des Sees und setzt ihn in Bewegung. So erscheint ein Zombie in der Neubausiedlung der braven Bürger, doch was Anita dann anstellt, spottet jeder Beschreibung. Erst Oma Thompson gelingt es, Anita wieder zu beruhigen.

3) Ambulanter Patient

Der junge Douglas Carter ist krank und hütet das Bette, denn alle Symptome sprechen dafür, dass er Asthma hat. Dabei ist er ein leidenschaftlicher Naturkundler, der nur zu gerne die Tiere des nahen Waldes studieren würde. Eines Abends, nachdem der Arzt keine Ursache bei ihm festgestellt hat, klopft eine Eule an sein Zimmerfenster. Er lebt in der Neubausiedlung, in der auch Ruth Draper aufwuchs. Neugierig öffnet er das Fenster, doch die Eule ist fort. Kaum ist er im Bett, steht eine barfüßige junge Frau daneben! Sie nennt sich Anita. Weil er so gern die Tiere des Waldes studieren würde und so nett ist, will sie ihm zwei Gefallen tun, so etwa sein Asthma zu heilen. Misstrauisch hakt er nach: ist sie nicht bloß ein Traum? Nein ist sie nicht, denn sie küsst ihn auf die Stirn und lässt ihn einschlafen. Am nächsten Morgen geht es ihm besser.

Sie kommt allnächtlich zwei Wochen lang, doch dann bleibt sie aus. Sein Misstrauen erwacht erneut. Er ahnt es nicht, aber sein Fenster hat sich verklemmt und lässt sich nicht öffnen – und außerdem hat Anita wichtige Dinge zu erledigen (siehe unten). Als sie endlich durch das reparierte Fenster, das der Arzt geöffnet hat, einsteigen kann, nimmt sie ihn mit zu Granny Thompson in die Hexenküche. Die Alte ist sicherlich bekloppt und ihr Akzent kaum zu verstehen, der Gestank ist kaum auszuhalten, aber Doug will unbedingt sein Asthma loswerden. Also harrt er aus und erduldet allerlei Handhabungen. Denn schließlich hat ihm Anita auch noch einen zweiten Gefallen versprochen: den Besuch einer Fledermaushochzeit…

4) Das Heilkraut für die Liebe

Anita hat sich in Roger, den Londoner mit dem roten Sportwagen verliebt und will ihn heiraten. Die Granny ist entsetzt und droht mit Konsequenzen seitens der Herren, die in der Hölle herrschen. Der schwarze Kater erscheint und knurrt Anita böse an. Allerdings ist Anita schon volljährig und kann tun und lassen, was sie will. Und wenn Granny 50 Jahre jünger wäre, würde sie vielleicht nochmal was mit einem Menschenmann anfangen.

Anita muss zuerst den Bus nehmen, der sie zum Regionalbahnhof bringt, und im Expresszug sitzt sie neben ihrem lieben Roger, der sie nach Hampstead bringen will. Sie soll ihm von ihren Träumen und Fantasien erzählen, und das macht sie mit Freuden. Doch als sie von Gestaltwandel, Telepathie und Telekinese und all den anderen schönen Dingen erzählt, die sie tun kann, entgegnet er, dass sich der Pfarrer in Hampstead schon sehr für interessiere und dass er da einen guten Hirnklempner kenne, der sie behandeln könnte. Anita schreit…

Ein Bauernbursche findet Anita auf der Landstraße. Sie hinkt und blutet am Bein. Sie erzählt, dass sie den Zug mit der Notbremse gestoppt habe und sich am Stacheldrahtzaun die Haut aufgerissen habe. Sie berichtet ihm, was die landplaner mit ihrer Heimat vorhaben – schreckliche Dinge. Erschöpft gelangt sie auf einen Bauernhof, wo sie im Heuschober schlafen darf.

5) Das Amulett

Anita tappt eins Tages, als sie im Wald streunt, in eine Hexenfalle. Sie kann sich nicht bewegen und schaut nach unten: eine eiserne Kette umgibt sie. Bekanntlich ist Eisen pures Gift für Hexen. Ein Mann tritt aus dem Gebüsch und stellt sich vor: Sir John Carpenter, seines Zeichens Sammler von magischen Artefakten und Zaubersprüchen. Auf ihre Bitte, sie zu befreien, reagiert er nicht. Ihr Versuch, mit einem Bannspruch zu belegen, geht nach hinten los und haut sie selbst um.

Sie solle ihm zu Willen sein, fordert er, nicht hinsichtlich körperlicher Dienste, sondern um ein Artefakt zu untersuchen. Dann würde sie ihren Schatten und ihr Spiegelbild zurückbekommen. Weil sie diese beiden unentbehrlichen Begleiter wiederbekommen will, willigt sie ein. Er nimmt sie mit auf sein Anwesen. Dort zeigt er ihr, um was es sich handelt: eine kleine Messingkugel aus Drähten, in deren Innerem Figuren zu sehen sind. Das Amulett stamme aus Tibet, meint er, und sei von unbekannter Wirkung. Es könnte alles Mögliche sein, findet Anita und lässt erst einmal ihre Granny dieses seltsame Teil prüfen. Großmutter „entschärft“ das Artefakt soweit möglich.

Dann kann das Experiment beginnen. Wie sich schon bald zeigt, handelt es sich bei der heftig rotierenden Kugel aus Tibet um eine ziemlich eigentümliche Art von Zeitmaschine…

6) Der Hausgeist

Weil es heftig regnet, kann Anita den kleinen, silbern schimmernden Waldgeist sehen. Er hüpft und springt wie eine kleine silberne Blase. Aber als sie ihn auf einen Baum getrieben hat, kann sie ihn erwischen, obwohl er sie zu beißen versucht. Er liebt eben seine Freiheit. Sie bringt ihn nach Hause zu Granny Thompson, die ihn in eine alte, leere Teedose stopft. Doch was tun mit dem kleinen Monster, fragt sich nicht nur Anita.

Granny ist ziemlich sauer über den ungebetenen Gast. Doch als Granny zum Einkaufen fort ist, hat Anita den rettenden Einfall: Sie verwandelt ihn in eine Katze. Dass es eine bunte gefärbte Katze ist, macht ja nichts. Fortan hat sie einen Hausgeist.

7) Die Meerjungfrau

Als Anita und Granny am Meer spazierengehen und Granny ein Schläfchen hält, empfängt Anita den Ruf. Sie folgt ihm und stößt in einer Felshöhle auf eine Meerjungfrau. Sie hat keinen Namen, aber meterlanges grünes Haar und einen wurmartig biegsamen Körper. Sie erzählt der Junghexe von ihrem Haus unter dem Meer und lädt sie auf einen Besuch ein.

Aber wie soll sie dorthin gelangen, wundert sich Anita. Ganz einfach: Der große alte Meeresdrache, der seit Anbeginn im Ozean lebt, würde sie dorthin bringen, wie eine Art Transporter. Granny Thompson ist natürlich dagegen. Sie findet Meerjungfrauen sehr zwielichtig und diese glitschigen Dinger seien eklig. Was für ein Unsinn, hält Anita dagegen. Sie trifft ihre Vorbereitungen und als Granny mal wieder schläft, begibt sie sich nach Dorset zum Durdle Door, einem Felsentor in den Küstenklippen.

Sie schwimmt hinaus aufs Meer, und sendet ihren Ruf aus, und tatsächlich: Der Drache kommt, lang wie ein Riff und grünblau leuchtend. An den Zügeln und Bändern kann sie auf ihn klettern und ihn lenken, dann geht es hinunter in die Tiefe. Sie lässt sich Kiemen wachsen, um atmen zu können. Dann beginnt ihr der Drache vom Anbeginn der Welt zu erzählen…

8) Das Zwischenreich

Am Fynebrook-Bach, der ihr kleines Reich durchfließt, stößt Anita auf einen Geist. Er ist erstaunt, dass sie ihn sehen kann. Sein Name lautet David Fox-Gardiner, sie nennt ihren. Ganz behutsam – denn Geister können schrecklich schwierig werden – fragt sie nach dem Grund, dass er noch nicht ins Jenseits expediert worden ist, wie es die Regeln vorsehen. Er verzehrt sich nach seiner Verlobten, einem süßen Mädchen, das sich die Augen ausgeweint hat, weil er vor der Zeit gestorben war: Nach einem feuchtfröhlichen Junggesellenabend verunglückte er mit seinem Sportwagen auf einer Landstraße. Anita ist gerührt und beschließt, etwas für ihn zu unternehmen.

Der Controller der unterirdischen Fürsten ist eine Mischung aus Bürokrat, Fluglotse und Telefonvermittler. Hinter ihm steht seine Zuckerpuppe, die immer am Daumen lutschen will, doch er gibt ihr dann eins auf die Finger. So dauert es eine Weile, bis er auf Anitas Anliegen reagiert. Schließlich reißt ihr der Geduldsfaden und droht, ihn tieferen Orts zu melden. Das rüttelt ihn wach. Zusammen finden sie eine frisch verstorbene Lady für David Fox-Gardiner. Fehlt nur noch ein klitzekleines Detail: Der Übergang in die Parallelwelt, wo sie zusammenleben können, erfordert ein explosives Spezialrezept…

9) Der Krieg in Foxhanger

Granny Thompson ist auf hundertachtzig: Die Marmelade geliert nicht, die Milch ist sauer und die Hausgeister laufen weg! „Daran ist bloß diese Aggie Everett schuld!“, schimpft sie. Sie geht zum Gegenangriff über und feuert einen Zauberspruch nach dem anderen ab. Auch Anita hat nichts zu lachen: Ihr Stelldichein mit einem frisch zugezogenen Burschen im Heuschober nimmt ein jähes Ende, als es Schlängen und Spinnen von den Wänden regnet. Sie nimmt Reißaus und schließt sich Granny an. Allerdings, so stellt sich heraus, kam DIESER Angriff von Garnny selbst.

Sie beschließen den Frontalangriff. Aggies Anwesen liegt oben auf dem Hügel hinter dem Foxhanger-Wald, mit einem schönen Blick über den Fynebrook-Bach. Als Hasen verkleidet rasen sie den Hügel hinauf – nur um im nächsten Moment selbst von den Hausgeist-Hunden der Hexe gejagt zu werden. Granny sich verwandeln und verteidigen, doch die junge Anita flüchtet in einen tiefen Brunnen. „Iiih! Würmer!“ heult sie auf.

Es ist nicht einfach, jemandem vom Grund eines so tiefen Brunnens heraufzuholen, deshalb müssen sich die beiden Erzfeindinnen zusammenraufen und einen Zauberbesen, wie nur Aggie einen hat – „Schaubudenzauber!“, schnauft Granny – dazu veranlassen, Granny wie auf einem Hubschrauber in den Schacht hinunterzutragen. Na, wenn das mal gutgeht…

10) Mattscheibe

Die Zivilisation macht auch vor der Kate der Thompsons nicht halt: Anita hat einen dieser neumodischen Fernseher bestellt. Als die Handwerker die Antenne installieren wollen, entgehen sie um Haaresbreite einem Zauberstreich der erzürnten Großmutter. Den kann Anita gerade noch ablenken. Sie will unbedingt nicht noch einen langweiligen, tiefen Winter wie im Vorjahr vermeiden.

Mit der Zeit gewöhnt sich auch Granny an die seltsamen Sendungen, und am besten gefallen ihr die Quiz-Sendungen. Es dauert nicht lange, und sie findet die alten Frauen ziemlich doof und bewirbt sich selbst um die Teilnahme an der Quiz-Show, nach dem Motto: Was die können, kann ich schon lange. Anita bringt den Brief zur Post, steckt aber vorher noch ein Foto von ihr selbst ein. Kein Wunder, dass die Bewerbung angenommen wird. Nach London! Oje, London! Anita stibitzt ein Kursbuch der Bahn und einen Stadtplan der Metropole. Los geht’s!

Das TV-Studio ist wie fremdes Territorium, doch der Quizmaster ist noch schlimmer: Er lässt die Kamera voll auf Anitas Ausschnitt draufhalten und als er Granny befragt, behandelt er sie wie ein ahnungsloses Kind. Das macht Oma Thompson zunehmen ärgerlich, leider hat man vergessen, ihr den Zauberstab abzunehmen. Das Themengebiet ist „Folklore“. Erstes Frage: Was ist ein Kobold? Granny kann’s ihm ganz genau sagen. Und so weiter, doch als die Frage lautet, welche Rheumamittel Granny Thompson empfiehlt, ist Schluss mit der Sympathie des Publikums: Sie erwähnt unaussprechliche Dinge wie etwa Schafsdung.

Als der Quizmaster sie zum Schweigen bringen will, entfesselt die Oberhexe von Foxhanger ein Inferno, an das man sich beim Sender noch lange erinnern wird…

Mein Eindruck

Anita, die Hauptfigur, ist das Interessanteste, was dieser Geschichtenzyklus zu bieten hat. Kurz gesagt: Sie ist in der Natur, und die Natur ist in ihr. Wie Tolkiens Zauberer Radagast kümmert sie sich um die Sorgen und Wunden der Waldbewohner von Foxhanger. Und weil sie telepathisch mit den Tieren verbunden ist, ja, das „Lied des Waldes“ sie erfüllt, kennt sie auch alle die Vorgänge aus erster Hand. Insofern sind sie und Granny Thompson Waldgeister und, ja, echte „Hexen“.

Die Probleme fangen erst an, als sie es mit Menschen zu tun bekommt. Sie lernt die Rätsel der Liebe kennen, verliebt sich selbst und wird enttäuscht, denn die Menschen haben leider gar keinen Sinn für die Belange der Waldbewohner – und erst recht nicht für die von Hexen. Anita setzt ohne nachzudenken „weibliches“ Verhalten um, wie man sich in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts so vorstellte. Sie bürstet ihr langes Haar, schmückt sich mit Ringen und dergleichen, womöglich auch mit duftenden Essenzen des Waldes. Weil ihre Großmutter ständig an ihr herumkrittelt, muss sie abhauen, wenn sie mal einen Mann treffen will.

Glücklicherweise entwickelt sich keine Tragödie à la „Romeo und Julia“, denn dafür ist in einer der kurzen Geschichten einfach kein Platz. Vielmehr hat sie alle Hände voll damit zu tun, sie selbst bleiben zu können. Roger will sie in die große Stadt bringen, und was fällt ihm als erstes ein? Sie darf keine Hexe sein, muss brav mit anderen Haus-Frauen im Haus herumsitzen, sich vom Pfarrer zum Christentum bekehren und von Psychiater den Kopf verdrehen lassen. Nein, dafür ist Anita viel zu selbständig und eigensinnig. Wenn sie keine Hexe mehr sein kann, wozu ist ihr Leben dann noch gut? In diesem Sinn legen die Geschichten auch eine feministische Haltung an den Tag. (Der Autor hat noch viele Male über Frauenfiguren geschrieben, so etwa in dem Episodenroman „Molly Zero“, dt. bei Heyne ).

Granny Thompson

Es ist verwunderlich, aber es gibt noch eine zweite Hauptfigur: Granny Thompson. Diese verkörpert die lange Vergangenheit des traditionellen, naturbelassenen England und entspricht mehr dem althergebrachten Klischee von einer europäischen Hexe: Sie braut Zaubertränke, hat ihre Seele dem Herrn der Unterwelt verschrieben, ist hässlich wie die Nacht und treibt Umgang mit allerlei dubiosem Getier. Was in der Übersetzung überhaupt nicht angemessen zum Tragen kommt, ist die Tatsache, dass Granny breitesten Dialekt spricht. Selbst heutige Engländer dürften damit ihre Schwierigkeiten haben. (Mehr dazu siehe unten.)

Der ungewohnte und ungewöhnliche Dialekt von Northamptonshire grenzt Granny eindeutig von den modernen Menschen ab, mit denen sie es ab und zu zu tun bekommt, vor allem aber mit den hochnäsigen Leuten beim Sender. Denen zeigt sie, wozu eine ECHTE Hexe imstande ist und stellt das Studio kurzerhand auf den Kopf. Hier trifft Magie auf Technik und Wissenschaft und, wie könnte es anders sein, die Magie siegt.

Geister

In der Episode „Der Hausgeist“ besorgt sich Anita ihren eigenen Hausgeist und verwandelt ihn in eine bunt gescheckte Katze. Die Episode „Im Zwischenreich“ macht Anita mit einem verstorbenen Mann bekannt, der nicht nur um sein nutzlos vertanes Leben weint, sondern sich auch um seine verlorene Verlobte grämt. Wäre er hat nicht besoffen zu schnell gefahren, könnte sie ihm vorwerfen. Aber das weiß er ja selbst.

Vielmehr gewinnt ihr gutes Herz. Als sie ihm hilft, legt sie sich mit den Autoritätspersonen der Hölle an. Das ist das einzige Mal, dass sie soweit geht. Ansonsten ist die Hölle eher ein Netzwerk aus streng geschützten Bezirken, die alle überwacht werden. Für ihre Hexentätigkeit in einem anderen als dem zugewiesenen Bezirk bekommt Anita mächtig Ärger, so etwa in der Episode „Die Meerjungfrau“.

Die erstaunlichsten Geister hingegen sind jene, die Anita mithilfe des Amuletts ihres Entführers erblickt. Es ist, wie gesagt, eine sonderbare Art von Zeitmaschine, die in der Lage ist, die Geister der Vergangenheit, die im LAND schlummern, zu beschwören: Römer, Viktorianer und etliche andere. Die Geschichte ist indirekt eine Geschichtsstunde für junge Leser. Ganz nebenbei erfahren diese Leser auch, dass Hexen, genau wie Elfen, gegenüber Eisen verwundbar sind: Sie lassen sich damit einfangen und binden.

Die Übersetzung

Die Texte sind Gerhard Beckmann durchweg korrekt und gut lesbar übersetzt worden, doch es ist relativ gewöhnungsbedürftig, dass er sämtliche Apostrophe weggelassen hat. So tauchen also Wörter wie „dus“ und „ists“ auf. Wer wie ich das Original kennt, weiß, dass Granny Thompson breitesten Dialekt spricht. Dies hat der Übersetzer mit Formen wie „nix“ und „nich“ anzudeuten versucht. Mehr konnte er sich wohl nicht herausnehmen, um nicht Unverständlichkeit zu riskieren.

S. 20: „Es war das erstemal, dass sie ein[e] Freundin hatte.“ Das E fehlt.

Unterm Strich

Anita existiert nicht als Selbstzweck, ebensowenig wie ihre Geschichten. Sie zeigt der jungen Leserin, was sich alles erleben, erfahren und bewerkstelligen lässt, selbst wenn man a) als Frau und b) als Hexe ganz anders ist, als die tonangebenden Männer bzw. „Muggels“. Tatsächlich lebt man als Hexe in einer Parallelwelt: im Wald, auf dem Land, man kann seine Gestalt wandeln und es mit der Welt von Technik und Wissenschaft aufnehmen. Das zeigt sich v.a. in der letzten Episode „Mattscheibe“.

Das einzige, was Anita nicht kann, ist offenbar die Fortpflanzung. Dabei hat sie doch offenbar kein körperliches Problem mit Männern; die Probleme fangen erst an, als ihr Verehrer sie ihrer Hexennatur berauben will, also des Kerns ihres Daseins. Dabei hat Roger sie nicht einmal gezwungen, ihrer Abstammungslinie und der Hölle abzuschwören.

Nimmt der Leser diesen Aspekt von Anitas Existenz ernst (und warum auch nicht?), so wird deutlich, dass diese Geschichten ganz schön ketzerisch sind: eine unabhängige Frau, die auch noch den Höllenfürsten dient – darf das sein? Nicht, wenn es nach der Zensur geht. Ebenso subversiv ist die Vorstellung, dass die Hölle, wie die Oberirdischen, ihre eigenen Verwaltungsbezirke hat, die streng überwacht werden.

Im Rückblick verwundert es allerdings nicht: Alle Herrschaftsformen müssen dafür sorgen, dass die Beherrschten nach strengen Regeln handeln. Ihr Verhalten muss überwacht, kontrolliert und bei Regelverstoß bestraft werden. Sonst könnte man ja gleich die Anarchie einführen…

An diesen Reibungsflächen entzündet sich häufig ironischer Humor, mit dessen Hilfe der Leser lernt, seinen eigenen Standpunkt etwas relativer zu sehen. Auch bei mir blieb es nicht aus, dass ich über die Torheiten von verliebten Männern, hochnäsigen TV-Moderatoren und vorwitzigen Hexenjägern schmunzeln musste. Für Action sorgt vor allem der Hexenkrieg im Foxhanger-Wald.

Schwäche

Was den Geschichten fehlt, ist der Rote Faden, der sie alle nicht nur auf der Ebene der Figuren verbindet, sondern auch auf der Ebene der Handlung. Einen Rahmen gibt es nicht, nicht einmal eine Erzählerin, die sie einem Zweck oder Sinn unterordnen würde. Das verleiht den Geschichten etwas Willkürliches und Verspieltes. Aus diesem Grund wagt es auch der deutsche Verlag nicht, dieses Buch einen Roman zu nennen.

Taschenbuch: 200 Seiten
O-Titel: Anita, 1970, 1986 und 1990
Aus dem Englischen von Gerhard Beckmann.
ISBN-13: 9783423-121279

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