Erik Kellen – „GezeitenZauber – Die Bestimmung“

Oberflächlich betrachtet scheint Nilah ein ganz normaler Teenager zu sein. Aber als ihre Großmutter stirbt und Nilah mit ihrem Vater nach Irland zur Beerdigung fliegt, geschehen innerhalb weniger Tage eine Menge seltsamer Dinge: Im Kondolenzbuch stehen Sätze, die niemand außer ihr sehen kann; sie wird von fremdartigen Geschöpfen angegriffen, und der Mann, der sie rettet, ist nackt und blau bemalt; während sie in der Wanne untertaucht, gefriert die Wasseroberfläche. Nilah fürchtet, den Verstand zu verlieren, und will Irland so schnell wie möglich verlassen. Doch was immer ihr im Cottage ihrer Großmutter begegnet ist, scheint nicht allein auf die grüne Insel beschränkt zu sein …

Nilah gehört zu den Menschen, die ganz genau wissen, was sie wollen, und auch kein Blatt vor den Mund nehmen, wenn es um Themen geht, die ihnen wichtig sind. Und doch hat sie auch etwas Unruhiges, Haltloses an sich, als spüre sie ganz unbewusst, dass da mehr unter der Oberfläche schlummert, etwas gänzlich Unvertrautes, mit dem sie nicht recht umgehen kann.

Nilahs Retter, Liran, dürfte eine der einsamsten Figuren der Literatur überhaupt sein. Der keltische Krieger wird, nachdem er bereits seine gesamte Familie verloren hat, aus seiner eigenen Zeit herausgerissen, um eine junge Frau zu beschützen, die mehr als zweitausend Jahre später lebt, und muss dazu auch noch seine Heimat verlassen. Dabei ist er des Kämpfens längst überdrüssig.

A’kir Sunabru heißt der Kerl, der an all dem schuld ist. Ein mächtiger Magier, dem jegliche menschliche Regung völlig abgeht. Aber so muss man wohl sein, wenn man die gesamte Welt beherrschen will.

Im Großen und Ganzen ist die Charakterzeichnung sehr gelungen, zumindest was Nilah und Liran angeht. Beide sind weit über reine Nachvollziehbarkeit hinaus lebendig und eindringlich dargestellt. Vom Antagonisten kann man das leider nicht behaupten. Obwohl seine unmenschliche Grausamkeit ebenso intensiv geschildert ist wie sein Aussehen oder die Kälte, die ihn begleitet, ist er doch nicht mehr als einer von vielen austauschbaren Bösewichtern mit Allmachtsfantasien in den Weiten des Genres, weil der Leser sonst nichts über ihn erfährt. Schade.

Die Handlung lässt sich grob in zwei Teile gliedern. Der erste Teil spielt hauptsächlich in Irland und verläuft nach einem recht dramatischen Einstieg eher ruhig. Während dafür gesorgt wird, dass Nilah und Liran aufeinandertreffen, überwiegt eine teils mystische, teils melancholische Stimmung. Ganz deutlich wird hier die Liebe des Autors zur irischen Seele spürbar. Im zweiten Teil, zurück in Hamburg, zieht das Erzähltempo merklich an. Die Verfolger kommen Nilah und Liran immer näher, und bald sind sie fast ausschließlich mit Kämpfen oder Fliehen beschäftigt.

Das klingt nach einem recht einfachen Aufbau, gegen Ende des Buches stellt sich allerdings heraus, dass es ganz so einfach nicht ist. Denn A’kir Sunabru ist nicht der Einzige, der es auf Nilah und Liran abgesehen hat, erkennbar an der Tatsache, dass der letzte Angreifer im Völkerkundemuseum auch Sunabrus Schergen attackiert.

Leider endet das Buch nach 378 Seiten an einer Stelle, die noch völlig offen ist. Und leider hat der Leser zu diesem Zeitpunkt noch nicht allzu viele Antworten auf seine Fragen erhalten. Oma Eddas geheime Nachricht an Nilah ist noch nicht entschlüsselt – wobei ich an Nilahs Stelle die Ogham-Schrift Liran gezeigt hätte, die Wahrscheinlichkeit, daß er sie lesen kann, dürfte ziemlich groß sein, schließlich kann er sogar Latein. Es ist auch noch nicht klar, was Sunabru mit Nilah vorhat, denn offensichtlich will er sie nicht töten. Und was hat es mit der Statuette auf sich, die Nilah in der Höhle gefunden hat?

Das finde ich deshalb schade, weil 378 Seiten nicht allzu viel ist für ein Buch. Statt dessen hätte ich mir gewünscht, der Autor hätte den Schnitt zum nächsten Band ein Stück weiter hinten gesetzt, nachdem der Leser zumindest ein wenig mehr erfahren, die Handlung sich noch ein wenig mehr entwickelt hat.

Eine besondere Erwähnung wert ist Erik Kellens Schreibstil, und zwar deshalb, weil Standardvergleiche hier nahezu völlig fehlen. Erik Kellen hat seine Metaphern selbst gewählt. Manche davon klingen durchaus ungewöhnlich, aber alle sind sie von einer Eindringlichkeit, die nahelegt, daß der Autor das, was er beschreibt, selbst erlebt hat, ganz gleich, ob es sich dabei nun um das Wetter zu Beginn des ersten Kapitels handelt, oder um die irische Landschaft. Ich fand es beeindruckend. Außerdem ist der Text nahezu fehlerfrei. Da hab ich schon lektorierte Texte in schlechterer Qualität gelesen.

Ebenfalls erwähnenswert sind die Illustrationen, die in unregelmäßigen Abständen zwischen den Kapiteln eingestreut sind und die Gesamtstimmung des Buches dezent unterstützen. Obwohl ich sonst in einem Roman Bilder eher als störend empfinde, war das hier überhaupt nicht der Fall. Die schlichte Gestaltung als Schwarz-Weiß-Zeichnung sorgt für Unaufdringlichkeit, und die Motive stehen zwar im Kontext der Erzählung, sind aber klein gehalten und stellen meist Details dar, die nicht allzu ausführlich beschrieben wurden, sodass die eigenen Vorstellungen des Lesers dadurch kaum beeinflusst werden.

Insgesamt hat mir die Geschichte sehr gut gefallen, sowohl der stimmungsvolle erste Teil als auch der lebhaftere zweite. Die Charaktere sind sehr glaubhaft, es fällt leicht, sich mit ihnen zu identifizieren. Vor allem Nilahs Verwirrung und Lirans Einsamkeit sind sehr gut nachvollziehbar. Allein Sunabru darf noch ein wenig mehr Persönlichkeit entwickeln, zum Beispiel einen Grund, warum er tut, was er tut, damit er ein wenig aus der Standardschiene des 0815-Antagonisten herauskommt. Die Handlung entwickelt sich vielversprechend und zunehmend spannend. Der Cliffhanger am Ende des Buches tut ein übriges, obwohl ich sicherlich auch ohne ihn weiterlesen würde. Ich hoffe, der nächste Band lässt nicht allzu lange auf sich warten.

Erik Kellen lebt in Hamburg und hat schon eine ganze Reihe Jobs hinter sich. „Die Rückkehr des Kriegers“ ist sein erster Roman und der erste Band der Reihe |Dragonsoul|.

Broschiert 378 Seiten
ISBN-13: 978-1481838498

http://www.erik-kellen.de

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