Jim Kelly – Tod im Moor

In der englischen Provinz tauchen die bizarr zugerichteten Leichen nie gefasster Krimineller auf. Ein vom Leben gebeutelter Journalist und ein überforderter Polizeibeamter stoßen auf die Spur eines alten, nie geklärten Verbrechens, das zu neuem, gewalttätigem Leben erwacht … – Ausgezeichnetes Krimi-Debüt eines neuen Autoren; spannend und düster aber mit trockenem Witz erzählt und mit sympathischen, einprägsamen Figuren besetzt: ein Lese-Spaß ohne gravierende Einschränkungen.

Das geschieht:

Ely, eine Stadt in der Provinz der südenglischen Grafschaft Cambridgeshire, wird von den nahen Sümpfen des Great West Fen geprägt, das besonders im Winter trostlos und verlassen wirkt. Der Journalist Philip Dryden, der für den „Crow“ – eine ums Überleben kämpfende Lokalzeitung – arbeitet, hasst die kalte Jahreszeit. Zwei Jahre zuvor wurden er und seine Frau in ihrem Wagen von der Straße in einen Entwässerungskanal abgedrängt. Dryden wurde von dem unbekannten Fahrer gerettet, der Laura jedoch im halb überfluteten Wrack zurückließ. Sie wurde später geborgen, liegt aber seither im Koma.

Nun steht Dryden am Ufer des Flusses Lark und beobachtet, wie die Polizei wieder ein Auto aus dem Wasser zieht. Ein Versicherungsbetrug, so wirkt es zunächst – bis im Kofferraum die in einen Eisblock eingefrorene, fast geköpfte Leiche eines Mannes entdeckt wird. Ein Glücksfall für den Journalisten, Pech für Detective Sergeant Andy Stubbs, der wegen einer peinlichen dienstlichen Fehlleistung ohnehin unter Druck steht.

Vollends rätselhaft wird die Sache durch einen neuen Fund: An einer steinernen Wasserspeier-Figur auf dem Dach der Kathedrale von Ely lehnt ein menschliches Skelett! Ein kleiner Ganove hat hier vor über drei Jahrzehnten ein unschönes Ende genommen. Mit zwei Kumpanen hatte dieser Thomas Shepherd Anno 1966 eine Tankstelle überfallen und die Besitzerin durch einen Schrotschuss ins Gesicht schwer verletzt und auf ewig entstellt. Kurz nach der Tat war das Trio verschwunden – untergetaucht, wie die Polizei vermutete, doch nun taucht es wieder auf: buchstäblich, denn auch die Leiche aus dem Kofferraum gehörte zu der Bande!

Wer ist es, der nach so vielen Jahren Rache übt – und wieso? Für Dryden wird das Rätsel zur persönlichen Odyssee in die verhasste Vergangenheit, denn es sieht so aus, als ob es da auch noch Verbindungen zu jenem Unfall gibt, der sein Leben nachhaltig beeinflusste …

Bewährtes Handwerk im modernen Gewand

Selten gelingt es einem neuen Autor, Leser wie Kritiker gleichermaßen schon auf den ersten Seiten eines Romans in den Bann zu ziehen. Jim Kelly gehört eindeutig zu den Ausnahmen. „Tod im Moor“ ist nicht nur ein gelungenes Debüt, sondern ein wunderbarer Krimi, bei dem fast alles stimmt.

Der Plot beginnt verheißungsvoll und bleibt es lange auch. Wer hätte gedacht, dass es in Sachen Mord & Totschlag noch Variationen gibt, die sich nicht auf immer detailfreudigere Metzel-Szenen beschränken? Als Leser möchte man unbedingt wissen, was hinter den absurden Leichen-Präsentationen steckt. Die Spannung wird vom Verfasser kräftig und mit Ausdauer geschürt. Allerdings merkt der erfahrene Leser nach etwa 150 Seiten doch, wie der Hase laufen wird.

Ein zweiter Handlungsstrang rankt sich um das persönliche Schicksal des Philip Dryden. Auch dieses Rätsel interessiert, zumal sich bald herausstellt, dass es zwischen den Morden und dem Unfall, der Gattin Laura ins Koma warf, (natürlich) einen Zusammenhang gibt. Das Finale findet ganz klassisch in dunkler, kalter Nacht auf dem Höhepunkt einer grandiosen Überschwemmungs-Katastrophe statt. Kelly demonstriert, dass er auch von der Kunst der verzögert auf die Spitze getriebenen Enthüllung des Schuldigen etwas versteht. An Spannung und Logik lässt dieses Ende jedenfalls nichts zu wünschen übrig.

Krimi als klischeearme Zone

Quasi eine weitere Dimension gewinnt „Tod im Moor“ durch die eindringlichen Landschaftsbeschreibungen. Der Verfasser bedient sich einer Kulisse, die er kennt, denn Ely in Cambridgeshire existiert wirklich, und Kelly ist ein Bürger dieser Stadt. Ob deren Honoratioren glücklich mit seiner Schilderung werden, kann nicht beantwortet werden. Kelly schont seine Heimat jedenfalls nicht bzw. nutzt die Gelegenheit, offenbar reale Missstände in der örtlichen Politik für seine Geschichte verfremdend aufzugreifen.

Philip Dryden ist zwar ein Journalist, doch ohne jene klischeeschweren Züge, die im Roman oder im Film gern den Mitgliedern seines Standes zugeschrieben werden. Stattdessen ist er ein Mensch, der gern Neuigkeiten recherchiert und berichtet. Das ist ein Job wie jeder andere und meist ohne Glanz, was Dryden glaubhaft zu einem ganz normalen Zeitgenossen werden lässt, dem sein Beruf die für diesen Krimi sehr nützliche Mobilität verschafft: Dryden kann sich berufsbedingt an den Brennpunkten von Ely blickenlassen.

Andy Stubbs ist alles andere als ein Held. Ein dummer Fehler ist ihm, der ausgerechnet der Sohn eines hohen Polizeibeamten ist, unterlaufen. Das wird sich ungünstig auf seine ohnehin in eine Sackgasse führende Karriere auswirken. Wie er sich der Herausforderung trotzdem zu stellen versucht (und permanent scheitert), ist für den Leser wiederum eine Freude zu verfolgen.

Ruhig aber alles andere als friedlich

Stets präsent obwohl ohne Bewusstsein ist Laura Dryden. Sie tritt in kurzen Rückblenden auf, welche die Tragödie ihres Schicksals umso deutlicher hervorheben. Für die Handlung ist sie wichtig, weil sie Philip Dasein und Denken in allen Bereichen beeinflusst und ihn als Figur kräftig formt.

Die übrigen Figuren: typische, boshaft karikierte Kleinstadt-Politiker, Miniatur-Wirtschaftszaren und andere selbst ernannte Mitglieder provinzieller Eliten: Karrieristen und Wichtigtuer, wie sie jeder Bürger einer ähnlichen Stadt kennenlernt, sobald er die Tageszeitung aufschlägt. Daneben gibt es liebevoll in Szene gesetzte Exzentriker und Verlierer wie den scheidungsgeschädigten Fahrer Humphrey, der in seinem antiken Taxi wohnt, oder Pfarrer Tavanter, der einst den unseligen Entschluss fasste, seine Gemeinde von der Kanzel herab über seine Homosexualität zu informieren. Drydens Kollegin Kathy Wilde hat ihr eigenes psychisches Päckchen zu tragen, die immerhin stattfindende Liebesgeschichte endet realistisch unerquicklich.

Damit mischt Kelly nicht nur die Karten für diesen gelungenen Kriminalroman, sondern bereitet auch das Feld für eine ganze Serie von Thrillern vor, die in Ely und Umgebung spielen. Sieben Bände umfasste sie schließlich, als ihr Verfasser sie 2013 (vorläufig?) beendete.

Autor

Jim Kelly, geboren am 1. April 1954, stammt aus der ostenglischen Stadt Ely. Er ist langjähriger Korrespondent der „Financial Times“. Bereits mit seiner ersten Buchveröffentlichung war er erfolgreich: Sein 2002 erschienener Roman „Tod im Moor“ („The Water Clock“) gelangte in die Endausscheidung des renommierten „Dagger Award“ für den besten britischen Krimi des Jahres. „Kalt wie Blut“ („The Coldest Blood“) wurde 2007 von den öffentlichen englischen Büchereien mit einem „Dagger Library Award“ ausgezeichnet.

Kelly setzte den Kleinstadt-Journalisten Philip Dryden bis 2013 in weiteren sechs Romanen ein, die in Ely und Umgebung spielen – der Heimat des Verfassers, die eine zentrale Rolle in seinen Romanen spielt und deren Historie immer wieder Auslöser für diverse Kriminalfälle ist. 2008 begann Kelly eine zweite Serie mit den Kriminalbeamten
DI Peter Shaw and DS George Valentine.

Taschenbuch: 383 Seiten
Originaltitel: The Water Clock (London : Michael Joseph Ltd./Penguin Books 2002)
Übersetzung: Carsten Meyer
http://www.randomhouse.de/blanvalet
Website des Verfassers

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