Jack Kerley – Den Wölfen zum Fraß (Carson Ryder 3)

Bittere Erkenntnis: Die eine Hand gibt, die andere nimmt

Carson Ryder, Alabama-Polizist mit Psychologieausbildung, und sein Partner Harry Nautilus werden zum Schauplatz eines grausigen Verbrechens gerufen. Eine junge Reporterin wurde auf brutale Weise ermordet. Der Mann, dessen Fall sie untersuchte, stirbt im Gefängnis an Gift. Bei einem Hochhausbrand kommt eine Prostituierte ums Leben. Ryder und Nautilus kombinieren messerscharf – und glauben nicht an das Werk eines einzelnen Psychopathen. (Verlagsinfo)

_Der Autor_

J. A. Kerley ist ein ehemaliger Werbeautor und stammt aus Newport, Ohio, hat aber eine Zeitlang an der Küste von Alabama gelebt. Dort kennt er sich ebenso gut aus wie in Ohio und Kentucky. Kerley ist verheiratet und hat zwei Kinder. Mehr Info findet man auf seiner Webseite.

Romane aus der Carson Ryder-Reihe:

1) Einer von hundert (The Hundredth Man, 2004)
2) Der letzte Moment (The Death Collectors, 2005)
3) Den Wölfen zum Fraß (A garden of vipers / The Broken Souls, 2006)
4) Bestialisch(Blood Brother, 2008)
5) In the Blood
6) Little Girls Lost
7) Krank (Buried Alive, 2010)
8) Her Last Scream
9) The Killing Game
10) The Death Box
11) The Memory Killer
12) The Apostle
13) The Death File

_Handlung_

Es regnet gerade wie aus Eimern, als die Mobile Detectives Ryder und Nautilus über Polizeifunk von einer Leiche in einem Auto hören. Doch auch Detective Pace Logan, der kurz vor der Pensionierung steht, hört die Meldung. Es beginnt ein Wettrennen, das Logan mit seinem jungen Partner Shuttles gewinnt: Der hat ein Beweisstück gefunden. Aber Logan wirft nur einen Blick auf die Leiche im Auto und überlässt den Fall gleich Ryder und Nautilus.

Nautilus öffnet die Wagentür, und Gestank schlägt ihm entgegen. Der jungen Frau wurde die Kehle durchgeschnitten, ihr Darm hat sich entleert. Doch er wundert sich nicht darüber, sondern warum zehn Zentimeter Wasser im Wageninneren stehen. Und Ryder entdeckt, dass der Frau drei Finger gebrochen wurden. Der Täter hat sie erst noch gefoltert. Wollte er von ihr bestimmte Informationen, fragt er sich.

Der Trucker, der sie gefunden hat, liegt im Krankenhaus: Er erlitt einen Herzinfarkt, überlebte ihn aber. Doch er hat den Täter gesehen, eine „Art Affen“ oder „Wookie“. Auf einem Phantombild, das ein Polizeizeichner verblüffend schnell und genau erstellt, erscheint der Täter, der auf den Trucker losgehen wollte, wie ein wütender Yeti, so viele Haare hat er im Gesicht. War wohl lange nicht beim Barbier.

Logan findet heraus, dass die Tote Taneesha Franklin heißt und beim Fernsehsender WTSJ arbeitete. Sie war eine Kollegin von Ryders Freundin Deedee Danbury, die nun um die nette Anfängerin trauert. Taneesha war an einer Story über einen bestimmten Schwerbrecher dran: Leland Harwood. Doch als Ryder diesen Typen im Knast besucht, erleidet Leland einen Zusammenbruch: Er ist vergiftet worden. Ryder fällt das versteckte Lächeln auf, das ein anderer Insasse aufblitzen lässt – und dieser gerade wird von einem teuer gekleideten Anwalt besucht.

Später geht er diesen beiden Gestalten auf den Grund. Doch vorerst hält ihn Deedee in Atem: Es stellt sich heraus, dass sie ein Verhältnis mit Buck Kincannon hat, dem „Thronfolger“ der mächtigsten Familie von Mobile, der auch ihr Sender gehört. Jetzt wird Ryder auch klar, warum Deedee zur Nachrichtenmoderatorin befördert wurde und nun doppelt so viel verdient wie bisher. „Buckie Boy“ stellt sie sogar auf seiner Sender-Party vor, wo sie sich artig bei ihm bedankt – mit einer innigen Umarmung.

Zwei weitere Frauen werden überfallen, eine vollschlanke Frau, die gerade am Bankomaten Geld ziehen wollte, und eine Prostituierte namens Carole Ann Hibkins, die ihrem Apartment erst mit Handschellen gefesselt und anschließend in Brand gesteckt wurde. Auf sie hat der Täter gefoltert, indem er ihr die Finger brach. Dieser Bursche ist offenbar auf einem ganz schlechten Trip, denkt Ryder.

Er entdeckt ihn erst auf Taneeshas Trauerfeier. Der Kerl macht sich in Verkleidung an den Vorgesetzten Taneeshas heran, um sein Beileid zu bekunden. Doch vor der Kirche ruft er Ryder zu Hilfe, weil er gerade entführt werden soll. Kaum hat ihm Ryder geholfen, als er auch schon untertaucht. Doch der Flüchtige hat eines nicht bedacht: Es gibt hier im Umkreis jede Menge Videokameras. Und auf einem der Überwachungsvideos entdeckt Ryder ein Gesicht, das ihm sehr bekannt vorkommt …

Mein Eindruck

Der dritte Thriller der |Carson Ryder|-Reihe weist eine ganz andere Struktur und Erzählweise als etwa „Bestialisch“. Der Aufbau erfolgt durch die Schilderung mehrerer Verbrechen, die alle ziemlich blutig sind – wie das heute eben so üblich ist. Das Besondere dabei ist die zweifache Perspektive: Der Überfall auf die Lehrerin am Bankomaten wird erst durch die Augen von Ryder & Nautilus gesehen, dann durch die des Täters.

Irreführung

Diese doppelte Betrachtungsweise zieht sich durch den ganzen Roman. Der Trick dabei ist jedoch wirklich ausgefuchst: Weil wir den Blickwinkel eines anderen Mannes mitgeteilt bekommen und dies stets nach einem der Verbrechen, assoziieren wir (meist unterbewusst), dass er auch der Täter sein muss. Später stellt sich heraus, dass die grausigen Verbrechen auf das Konto eines ganz anderen Mannes gehen. Wir werden also absichtlich in die Irre geleitet, und zwar von Anfang an. Wer dies nicht erkennt, wird am Schluss ziemlich verwirrt aus der Wäsche gucken.

Rote Heringe

Die erste Hälfte des Romans ist diesen Verwirrspielen gewidmet, in denen der Autor jede Menge falsche Fährten legt, sodass Ryder schließlich stöhnt: Jede Menge Fangarme, aber kein Oktopus weit und breit. Das bedeutet aber nicht, dass die Story langweilig wäre, ganz im Gegenteil. Es ist nur so, dass sich aus den vielen Bausteinchen noch kein Bild ergibt, weil keiner der Cops einen Schlüssel findet, um das Muster zu etwas Sinnvollem anzuordnen.

Erst das Auftauchen eines gewissen Crandell – er ist der Typ im Knast und auf dem Überwachungsvideo – weist in die Richtung der Kincannons, die bislang mehr oder weniger am Rande des Bildes zugegen waren. Denn Crandell ist der Henkersknecht, der Mann für alle Fälle, und er schreckt vor nichts zurück. Seine Attacke führt dazu, dass Ryder in seinem Kajak von einem Motorboot überfahren und gefangengenommen wird …

Romantik

Doch neben grausigen Szenen und Action bietet der Roman auch noch ganz andere Qualitäten. Dass Deedee Danbury ihren Freund Ryder mit Buck Kincannon betrügt, führt zum Bruch zwischen den beiden. Selbst wenn sie das Geschehene zutiefst bedauert, so ist doch nichts mehr zu kitten. Mit seinem lädierten Seelenleben wendet sich Ryder an die Rechtsmedizinerin Clair Peltier, die elf Jahre älter ist als er, nämlich 44. Dennoch entwickeln sich zarte Liebesbande von Zuneigung.

Die Kincannons

Den harten Kontrast zu dieser Romantik bilden die Zustände im Hause Kincannon. Diese lernt Ryder nach seiner Gefangennahme viel näher kennen, als ihm lieb ist. Er befindet sich in einem Trakt von Zellen, in denen die Missgeburten Maylenes und ihr angeblich totgeborener Sohn Freddy munter weiterleben. Papa Kincannon ist irgendwo versteckt, denkt Ryder. Unterdessen kämpfen die „wohlgeratenen“ Söhne und Firmengeschäftsführer Buck, Nelson und Racine mit harten Bandagen um Mamas Gunst und die Macht in der Firma. Ryder ist erstaunt, als er von einem vierten Sohn namens Lucas erfährt. Wo mag sich dieser wohl herumtreiben?

Die DuCaines

Solche Familiendynastien gibt es natürlich nicht bloß im Süden der USA. Aber sie haben eine literarische Tradition auf der Grundlage von Margaret Mitchells Bestseller „Vom Winde verwehrt“. An einer Stelle wird sogar Scarlett O’Hara parodiert. Leider gibt es auch eine weniger feine Abkunft der Kincannons: Maylene entstammt einem Haus von geistig degenerierten Individuen, den DuCaines. Dabei unterstellt der Berichterstatter, ein alter Freund von Kincannons senior, dass bei den DuCaines eventuell Inzest gegeben haben könnte. Na, und daraus kann ja nichts Gutes entstehen, oder?

Die Übersetzung

Ich hatte die Möglichkeit, die Übersetzung mit dem Original zu vergleichen. Das Ergebnis fiel nicht sonderlich erfreulich aus. Der Text wurde stellenweise gekürzt, so etwa auf Seite 123, als der Tatort von Carole Anne Hibkins Feuertod besichtigt wird. Man kann davon ausgehen, dass die Übersetzerin Bettina Zeller auch woanders gekürzt hat.

Auch sonst hat sie sich etliche Freiheiten herausgenommen. Aus den „dozen hours“ (Dutzend Stunden) der Vorlage machte sie auf Seite 343 kurzerhand „24 Stunden“. Es macht aber schon einen Unterschied, wie lange die Galgenfrist noch währt, oder?

Aus einem Crystal-Meth-Junkie macht sie auf Seite 129ff einfach einen „Crackhead“, so als wären Crystal Meth und Crack ein und dasselbe oder als könnten deutsche Leser das nicht unterscheiden. Auch deutsche Leser dürften inzwischen mitbekommen haben, als Crack aus der Mode gekommen ist, es aber in den ganzen USA illegale Privatküchen für die Herstellung von Crystal Meth gibt, meist draußen auf dem Lande. Die Vertauschung, die die Übersetzerin vornimmt, ist also nicht OK, sondern eine Irreführung.

Unterm Strich

Ich habe diesen Thriller in drei Tagen gelesen, hätte ihn aber auch in anderthalb Tagen schaffen können, denn er ist spannend geschrieben und täuschend einfach erzählt. Doch genau darin liegt die Raffinesse der Erzählweise: Weil wir denken, dass der zweite Blickwinkel, der uns gezeigt wird, der des gesuchten Täters sein muss, lassen wir uns aufs Glatteis führen – genau wie Ryder und Nautilus, die wegen dieses Irrtums beide schwer in die Bredouille geraten. Es kommt eben darauf an, wie eine Story erzählt wird.

Allerdings hat mir nicht so gut gefallen, dass der Aufbau der Story der des ersten und zweiten Thrillers der Reihe ähnelt. So wirkungsvoll der Aufbau auch sein mag, so müsste sich der Autor doch mal was Neues einfallen lassen, dachte ich. Das tat er denn auch in „Blood Brother / Bestialisch“ und „Buried Alive“ (s. o.).

Wie auch immer: Das dreifache Finale entschädigte mich für diese Wiederholung voll und ganz. Nur soviel sei verraten: Bei der missratenen Familie Kincannon ändert sich so einiges. Die Sozialkritik des Autors richtet sich gegen die egoistischen Praktiken solcher selbstherrlichen Konzernbosse. Sie beuten nicht nur Menschen wie Deedee Danbury aus, sondern können auch ganze Wohnviertel zugrunde richten, von den langfristigen Folgen ihrer Umweltsünden ganz zu schweigen. Hinter der Fassade der Wohltäter – die gebende Hand – versteckt sich oftmals knallhartes Kalkül: Diese Hand nimmt, und zwar alles, was sie kriegen kann.

Taschenbuch: 444 Seiten
Originaltitel: A Garden of Vipers / The Broken Souls (2006)
Aus dem US-Englischen von Bettina Zeller
ISBN 978-3-548-28101-8
www.ullsteinbuchverlage.de

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