Kerr, Philip – Esau

„Aber Esau, mein Bruder, ist ja ein haariger Mann, und ich bin ein glatter Mann.“
1. Mose 27.11

Der Kalifornier Jack Furness gehört zu den Besten seiner Zunft. Kaum ein Gipfel, den er noch nicht bezwungen hat, bevorzugt ohne Sauerstoffgerät, dafür nur mit Eispickel, Steigeisen und einem Halteseil bewaffnet. Diesmal hat er sich im Annapurna-Gletschergebiet ausgerechnet den Machhapuchhare vorgenommen – den heiligsten aller Berge, von der nepalesischen Regierung seit Jahrzehnten zum Sperr- und Schutzgebiet erklärt. Und als wollten die Götter der Berge ihn und seinen Begleiter Didier für diesen Frevel strafen, gibt es scheinbar einen Meteoriteneinschlag in den schneebedeckten Gipfeln und eine Lawine fegt die beiden Eindringlinge hinab in die weiße Hölle des Eises. Jack überlebt den enormen Absturz, eingebettet in die dämpfenden Schneemassen, und erwacht in einer Gletscherhöhle, wo er einen höchst absonderlichen und gut erhaltenen fossilen Schädel findet, den er für seine Freundin Swift einpackt und mitnimmt.

Doch zuvor ein Szenenwechsel zum Pentagon: Perrins wird mitten in der Nacht wegen Datenmaterials der höchsten Sicherheitsstufe SCI zu einer Dringlichkeitssitzung in das offiziell gar nicht existierende Amt für Weltraumsysteme gerufen. Pakistan und Indien liegen am Rande eines offenen Konfliktes und sind kurz davor, ihre Nuklearwaffen abschussbereit zu machen. Ein Zwischenfall und die zugespitzte Lage machen die Aufklärung des Krisengebiets Indien/Pakistan/Nepal/Tibet/China dringend notwendig. Als der erste Versuch kläglich scheitert, kommt ein Bericht über das Bergunglück von Jack und Didier gerade richtig, ein nur den Geheimdiensten nützlicher Hinweis ist darin zu finden und man beschließt, einen Agenten loszuschicken. Dabei kommt die Initiative von Jack und Swift recht gelegen…

Swift, eigentlich Doktor Stelle Swift, ist Paläoanthropologin an der Universität Berkeley, einer der bedeutendsten Brutstätten menschlichen Forschungswissens. Jacks Besuch unterbricht ihre Lehr- und Forschungsarbeit jäh und mit unerwarteten Wendungen, denn dieser Schädelfund will so gar nicht in das Schema der Schulweisheiten passen. Und so recht fossil wirkt er auf Swift auch nicht. Nach allerlei Untersuchungen und der Beratung von Spezialisten verschiedener Fachrichtungen, von denen Swift in Berkeley glücklicherweise Weltspitzenkräfte zur Verfügung hat, wird ein waghalsiger Entschluss gefasst: Eine Expedition zum Machhapuchhare, die natürlich als Reise zum erlaubten Gebiet des Annapurna ausgegeben wird. Ein Spezialistenteam wird unter Schweigeverpflichtung engagiert, und obwohl die Expedition zunächst von den Geldgebern abgewiesen wird, kommt es verspätet doch noch zu einer Erlaubnis. Jack kommt etwas daran nicht ganz geheuer vor, und so steigt er freikletternd in ein Bürogebäude des Prüfungsausschusses ein, nur um dort Unterlagen über eine Involvierung der Geheimdienste zu finden. Jemand im Team ist also nicht ganz das, was er vorzugeben scheint. Jack behält dieses Wissen zunächst für sich und hält die Augen offen. Was weder er noch die Auftraggeber der Geheimdienste ahnen und zu spät erfahren: Der Agent hat eine zunehmend instabile Persönlichkeitsneurose, die ihn unberechenbar macht.

Wer bei der Verbindung zwischen Himalaja und anthropoiden Schädelfunden, die sich nicht einordnen lassen, an den berüchtigten Schneemenschen Yeti (eigentlich „Felsenmensch“) denkt, liegt natürlich richtig. Und auf der Suche nach Spuren menschlicher Vergangenheit stürzt sich das Forschungsteam in ein waghalsiges Abenteuer, das mehr Komplikationen und Bedrohungen mit sich bringt, als ohnehin schon von den erfahrenen Bergsteigern und Wissenschaftlern befürchtet…

Philip Kerr, der zu jenem Zeitpunkt bereits mit „Game over“ und „Das Wittgensteinprogramm“ für Aufmerksamkeit in der Thrillerwelt sorgte, ist mit „Esau“ ein vielschichtiger Thriller gelungen, der von Bergsteigerdrama und Wissenschaftsutopie über Agenten-Thriller bis hin zu Philosophie und Metaphysik so einiges zu bieten hat. Die Detailtiefe ist dabei erstaunlich, in allen nötigen Wissenschaftsbereichen wird profunde Kenntnis dargeboten, jedes Verfahren, jedes technische Instrument und jeder Theorieansatz werden sachkundig beschrieben, die Lokalitäten sind präzise illustriert, die Charaktere glaubwürdig ausgeformt; insbesondere die Hauptakteure Jack und Swift, wobei die emotionalen und psychologischen Ebenen ebenfalls nicht vergessen werden. Wer sich für wissenschaftliche und technische Details nicht zu begeistern weiß, wird über einige Strecken dieses Buches etwas überfordert sein; aber erst die realistische Tiefe dieser Darstellungen, die bis hinein in die örtlichen Sprachkenntnisse sowie religiösen und kulturellen Betrachtungsweisen reichen, erwecken die Thematik von „Esau“ zum Leben. Der Schreibstil ist zwar nicht sonderlich gehobener Prosa zuzuordnen, jedoch stets präzise und ohne Plattitüden formuliert. Dafür versteht Kerr, der wie beschrieben in jedem Falle seine Hausaufgaben als Autor sorgfältig erledigt hat, ganz besonders etwas von dramaturgischer Dichte und davon, hier und dort mit Andeutungen und einem sich erst nach und nach entfaltenden Informationsfluss zu arbeiten, der die Spannung aufrecht erhält. Zudem lesen sich weite Strecken des Romans wie die bildhafte Beschreibung zu einem Drehbuch (dem Ende zu leider etwas zu viel Abenteuergeschichte und zu wenig neue Erkenntnisse und Wendungen), die lebendige Bilder vor des Lesers Augen aufleben lässt, und die Geschichte selbst ist faszinierend und fesselnd genug für ein eindringliches Leseabenteuer, das auf gut 500 spannenden Taschenbuchseiten zudem viel Wissenswertes in sich birgt und zum Nachdenken über die Diskussionen und Theorien über die Menschheitsentwicklung und das Menschsein anzuregen weiß. Leider kann Kerr das Niveau in Spannung, Erzählfluss und originellen Ideen nicht immer aufrecht erhalten und über Strecken wird ein rein beschreibender Reisebericht daraus, bei dem die Staunmomente fehlen, aber ich kann das Buch dennoch zu einer erhellenden und fesselnden Lektüre empfehlen.