So ist die Zukunft noch zu retten
Januar 2025. In Zürich gründen die Vereinten Nationen das sogenannte „Ministerium für die Zukunft“, das für die Rechte der zukünftigen Generationen eintreten soll. Für Zukunftsministerin Mary Murphy beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, denn der Klimawandel lässt sich mit konventionellen Mitteln nicht mehr aufhalten… (Verlagsinfo)
Der Autor
Kim Stanley Robinson, geboren 1952 und passionierter Bergsteiger, gehört seit seiner Doktorarbeit über Philip K. Dick und diversen Romanen zur Autoren-Mannschaft, die Mitte der achtziger Jahre als „Humanisten“ bezeichnet wurde. Damit stellte man ihn in Opposition zu den neuen „Cyberpunks“ um William Gibson und Bruce Sterling, die neue Techniktrends aufgriffen und kritisch verarbeiteten. KSR selbst hat es stets als lächerlich abgelehnt, dieses Etikett auf sich selbst anzuwenden. Er legte in seiner bekannten Orange County Trilogie (The Wild Shore; The Gold Coast; Pacific Edge; 1984-1990) mehr Wert auf gute Charakterisierung der Figuren, eine Vision gesellschaftlicher Entwicklung und die Überzeugungskraft seiner Ideen. Das hat mir immer am besten an seinen Büchern gefallen.
Wesentlich bekannter wurde Robinson mit seiner Mars-Trilogie Red Mars, Green Mars und Blue Mars, die in naher Zukunft zu einer Kurzserie fürs Fernsehen gemacht werden soll. Danach folgten die umfangreichen Romane „Antarktika“ (Umweltthriller) und „The Years of Rice and Salt“ (Alternative History), dem im Juni 2004 ein weiterer Roman folgte: „Forty Signs of Rain“, der Startband seiner bislang unübersetzten CAPTIAL-CODE-Trilogie. Im Herzen ist KSR stets ein Erforscher und Warner.
Übersetzte Werke
1) Das wilde Ufer (California 1)
2) Goldküste (California 2)
3) Pazifische Küste (California 3)
4) Roter Mars (Mars 1)
5) Grüner Mars (Mars 2)
6) Blauer Mars (Mars 3)
7) Flucht aus Kathmandu (Erzählungen)
8) Geschöpfe der Sonne (Erzählungen)
9) Die Marsianer (Erzählungen und Gedichte)
10) Antarktika
11) New York 2312
12) New York 2140
13) Aurora
14) Schamane
15) Die eisigen Säulen des Pluto
16) Sphären-Klänge
17) Roter Mond
==>18) Ministry of the Future (2020)]
19) Die Romane von Philip K. Dick
Die CAPITAL-CODE-Trilogie
1) Forty Signs of Rain (2004)
2) Fifty Degrees Below (2005)
3) Sixty Degrees and Counting (2007)
Handlung
Heiße Tage in Indien
Der amerikanische Entwicklungshelfer Frank May ist mit seinem Team in der Nähe von Kalkutta und Lucknow stationiert, als der Strom ausfällt. Die Klimaanlagen verstummen im ganzen Dorf, ebenso die Kühlschränke und die Wasserpumpen. Die Kollegen wollen Hilfe holen, er will bleiben und verlangt das Satellitentelefon. Damit erreicht er die Zentrale in Delhi: Fast in ganz Indien ist der Strom ausgefallen. Kein Regen, dafür aber enorme Temperaturen weit jenseits der 40 Grad C.
Er macht’s wie alle anderen im Dorf und geht zum See: Doch das Wasser ist alles andere als kühl. Als die Sonne wie eine Atomexplosion ihre Hitze verbreitet, steigt die Wassertemperatur, und auf einmal stirbt einer nach dem anderen an einem Hitzschlag. Frank May wird in letzter Sekunde gerettet. Er kann sich nicht erklären, warum er sich außerhalb des Sees an einer Hausmauer befand, als ihn eine Truppe von Feuerbekämpfern fand.
20 Millionen Hitzetote sind genug, erklärt die indische Delegationsleiterin der UNO-Vollversammlung. Die Inder sind stinksauer, was jeder versteht, aber haben sie nicht auch durch ihre vielen Kohlekraftwerke den CO2-Ausstoß kräftig erhöht? Die alte Regierung ist verjagt worden die neue Einheitspartei stellt alles auf erneuerbare Energien um. Doch manchen, radikaleren geistern ist klar, dass dies nicht reichen wird. Sie nennen sich Children of Kali. Kali ist die weithin gefürchtete Todesgöttin, die in ihrer Verkörperung als Durga vielfach verehrt wird.
Frank May leidet selbst noch im schottischen Exil unter seiner posttraumatischen Belastungsstörung und will etwas tun, will dem Klimawandel entgegenwirken. Doch die Aktivisten von Children of Kali, die er in seiner Stadt nahe Lucknow besucht, nehmen ihn nicht auf: Er könnte ein Informant der neuen Regierung sein und ihre Anschläge verhindern. Er soll lediglich eine Botschaft an die Weltgemeinschaft überbringen: „Entweder tut ihr was gegen den Klimawandel, oder wir bringen euch alle um.“ Klingt machbar.
Genf
Die Irin Mary Murphy, Irlands ehemalige Außenministerin, wird vom Generalsekretär der Vereinten Nationen in Genf mit der Leitung des neu geschaffenen „Ministeriums für die Zukunft“ (ZM) betraut. Ihr Stabschef Badim Bahadur kommt von Interpol. Sie sammelt ein Dutzend Experten und Expertinnen sowie Aktivisten um sich, um Wege zu finden, wie das Ziel, das Überleben der nächsten Generationen zu sichern, erreicht werden kann. Es ist bereits fünf nach zwölf, scheint der allgemeine Eindruck zu sein: Die Versicherungen versichern niemanden mehr, sagt Jürgen, der Schweizer Finanzexperte.
Die Zahlen sind ebenso kalt wie einfach: Die Kosten der Umweltzerstörung liegen bei mindestens tausend Billionen Dollar, also einer Billiarde. In drei Jahren vielleicht sogar bei fünf Billiarden. Das ZM hat ein Minibudget von gerade mal 60 Milliarden Dollar pro Jahr – für die ganze Welt. Mary ist grimmig: Damit muss alles Nötige mit alle nötigen Mitteln getan werden, „um jeden Preis“. Was meint sie bloß damit, fragt sich der Protokollführer. Er/sie/es ist die KI der Behörde, und sie trägt den schönen Namen Janus Athene.
Entführt
Nach einem erfolglosen Aufenthalt in der Antarktis und dem abgebrochenen Versuch, einen Menschen zu ermorden, kommt Frank May zu der Einsicht, dass er andere Leute braucht, um ihm zu helfen, seine Ziele zu erreichen. Denn das braucht er unbedingt, um sein Trauma zu besänftigen. Die wichtigste entsprechende Organisation ist das Ministerium für die Zukunft, denn es kann wenigstens etwas tun.
Er entführt kurzerhand Mary Murphy in ihr eigenes Haus und hat eine sehr intensive Unterredung mit ihr. Weil er ihr mit seinem irren Blick und der Pistole Angst macht, erinnert sie sich später an jedes Wort, das er sagt. Sie versichert ihm glaubhaft, dass sie alles VERSUCHT, was in ihrer Macht steht. Nicht gut und nicht schnell genug, widerspricht er. Was sie brauche, seien schwarze Operationen. Diese Black Ops seien geheime, abstreitbare Einsätze gegen Zielpersonen und Kohlekraftwerke. Dann verschwindet er, anschließend ruft und informiert sie die Schweizer Polizei, die sie unter Personenschutz stellt, was Mary hasst.
Enthüllt
Mary erzählt Badim davon und geht dabei wesentlich weiter als gegenüber der Polizei. Was er denn von Black Ops halte, will sie wissen. Sie würden bereits ausgeführt, verrät er schließlich einer ungläubigen Mary. Tja, die müssten ja abstreitbar sein, deshalb könne man sie, Mary, nicht darüber informieren. Die Manipulation von Kohlekraftwerken und deren Finanzierung sei so ein Mittel gibt er zu. Vielleicht habe deswegen die neue indische Regierung alle Kohlekraftwerke abgeschaltet und Sonnenkraftwerke und Windanlagen errichtet.
Geo-Engineering
Genau dieses Geoengineering, das die Inder betreiben, interessiert Mary, und so fährt sie mit Badim nach Delhi. In Karnataka wird bereits ein Modell der kommunistischen Bauerngenossenschaft aus Sikkim übernommen, damit das Land nach ökologischen, nonkapitalistischen Prinzipien bebaut und eine weitere Dürre vermieden wird. Außerdem haben die Inder die Bestäubung der Stratosphäre begonnen, um die Temperatur durch Verminderung der Sonneneinstrahlung um mindestens ein bis zwei Grad zu senken. Denn die 20 Mio. Toten gab es erst, als die Tagestemperatur auf 35 Grad Celsius gestiegen war. (Bei 40°C kocht Eiweiß.) Der stärkste Eindruck ist jedoch die Zurückweisung jeder Art von Kolonialismus und Ausbeutung durch den Westen oder andere Länder.
Ausgesaugt
Einer von Marys Experten hat darauf hingewiesen, dass das Abschmelzen der Gletscher in der Antarktis und auf Grünland den Meeresspiegel um mindestens sechs Meter steigen lassen würde, zumindest bis zum Jahr 2100. Doch die Gletscher schmelzen deshalb so rasch ab, weil sie durch Schmelzwasser an ihrer Sohle wie durch Schmiermittel ins Rutschen gekommen sind. Man braucht also bloß dieses Schmelzwasser abzusaugen und schon knallt der Gletscher auf festen Fels, wo er sich festhakt. Soweit die Theorie.
Vor Ort wird diese geniale Idee am Thwaite-Gletscher der Antarktis in die Tat umgesetzt, und Pete griffen, der Veteran, ist dabei. Es werden sogar Wetten unter den Post-Docs abgeschlossen, ob das hinhaut. Es klappt! Pete hofft, dass dieses Verfahren Schule macht. Sein Problem ist, dass er nicht an Geld glaubt. Mary ist ebenfalls ungläubig, als ihr ein Experte darlegt, welche Effekte der jeweils geltende Diskontsatz innerhalb von 100 Jahren haben kann. Es ist verwirrend, aber dieser Zinsabschlag bewirkt mehr, als man sich vorstellen kann. (Und das zu erklären, würde hier wirklich zu weit führen.)
Abgelehnt
Als die KI Janus Athene nicht nur eine CO2-Steuer als „peitsche“, sondern auch, quasi „als Zuckerbrot“, eine neue Währung namens Carboncoin vorschlägt, fliegt Mary damit nach Washington, D.C., wo sich die Federal Reserve Bank befindet. Jane Yablonski ist seit neun Jahren oberste Währungshüterin des Amerikanischen Dollar-Imperiums und zeigt sich alles andere als begeistert. Nicht nur, dass sie für neue Währung gar nicht zuständig ist, sondern sie hält auch mit einer Drohung nicht hinterm Berg, sollte es dem Ministerium für die Zukunft einfallen, eigenmächtig eine solche Währung einzuführen. Die Europäer sind neutral, nur der Chinese liebäugelt ein wenig mit Carboncoin, traut sich aber nicht, etwas zu sagen.
Vorwärts!
Einziger Lichtblick bleibt für Mary ihr Besuch in Sausalito: Ein gewaltiger 3D-Modell von Nordkalifornien zeigt die Fortschritte, die der Bundesstaat – wirtschaftsmäßig die Nr. 5 aller Länder – mit dem Programm „California Forward“ Richtung Nachhaltigkeit gemacht hat. Es sieht fast so aus, als könnten diese Genies den Klimawandel ausgleichen, der zu mehr Dürren und Buschfeuern geführt hat. Sogar die Wildtiere dürfen wieder in aufgeforstete Wälder und renaturierte Backläufe.
Digitale Münzen
Marys Werbetour bei den Zentralbanken, um für CarbonCoins zu werben, ist ein Schlag ins Wasser, selbst wenn die deutschen Banker noch am ehesten für die Idee dahinter zu interessieren sind: Eine von Zentralbanken abgesicherte Währung soll durch Zinsausschüttung in Form einer Digitalwährung belohnen, wenn Tonnen an CO2 vermieden werden. Die Deutschen wissen aus zwei Weltkriegen, wie übel die sich anbahnende Klimakatastrophe werden kann. Anschließend hat sie die Gelegenheit, Frank May zu besuchen. Er ist anhand seiner DNS erkannt und verhaftet worden. Doch diese regelmäßigen Besuche sind vorerst ergebnislos.
Terror
Dafür feiern die Children of Kali Triumphe. Sie holen mit ihren Bomben so viele Geschäfts- und Privatflugzeuge vom Himmel, dass den Fluggesellschaften die Kunden weglaufen. Die Children lassen nur noch batteriebetriebene Kurzstreckenjets, die kein CO2 ausstoßen, unbehelligt. Denn die Leute wollen unbedingt weiterhin von A nach B reisen statt an Online-Konferenzen teilzunehmen.
Abgesoffen
Die Zahl der Wetteranomalien nimmt weltweit zu. Ein Beispiel ist die Überflutung des umfangreichen Beckens von Los Angeles durch Dauerregen, der an den umgebenden Bergketten niedergegangen ist. Erstmals kommt den überlebenden Rettern in den Sinne, all die untergegangenen zersiedelten Stadtviertel neu und besser wiederaufzubauen. Im fortschrittlichsten Bundesstaat der Erde, Kalifornien, ist das leicht gesagt, aber die US-Regierung ist, wie auch Mary zur Genüge weiß, die reaktionärste Institution der Welt. Ebenso wie ihre Federal Reserve Bank unter Jane Yablonski. Doch das soll sich schon bald ändern.
YourLock
Denn Mary gibt ihrer KI Janus Athene das grüne Licht, eine genossenschaftliche organisierte Weltbank im Internet zu gründen. Alle Einzelheiten sind genau ausgetüftelt und werden schrittweise in die Tat umgesetzt. Es dauert indes eine Weile, bis die Bankkunden es gerafft haben, dass YourLock ebenso sicher ist wie eine Bank, sie aber nicht mit Gebühren abzockt, sondern sie vielmehr nach dem Vorbild der baskischen Genossenschaft Mondragon an den Erträgen beteiligt. Da die Einlagen durch die Blockchain-Technologie nahezu hundertprozentig diebstahlsicher sind, übertragen immer mehr Sparer ihr Geld auf YourLock. Weltweit gehen die ohnehin verschuldeten Banken in die Knie, denen keine Regierung mehr wie 2008 oder 2020 mit Steuergeldern den Rettungsring zuwirft.
In der Klemme
Allmählich erkennen die Zentralbanken den Ernst der Lage, nicht nur in der Umwelt, sondern v.a. in der elitären Wirtschaftsschicht der Superreichen. Denn wenn in der Umwelt keine Lebensmittel mehr angebaut werden können, dann haben auch die Superreichen (2 Prozent der Weltbevölkerung) nichts mehr zu beißen. Hunderte von Millionen Menschen fliehen vor Klimakatastrophen, Verteilungskriege sind an der Tagesordnung, und das Wasser der Ozeane steigt unaufhaltsam.
Bei einem Gipfeltreffen in Zürich setzt Mary den Vertretern der Zentralbanken, der EZB und der Bank für internationalen Zahlungsverkehr mit Zuckerbrot und peitsche zu. Sie weiß die Chinesen auf ihrer Seite, denn die glauben, sie wären das Vorbild für das, was Mary vorschlägt: die allgemeine Akzeptanz des CarbonCoin und vieles mehr.
Der Anschlag
Zunächst passiert wieder mal nichts. Bis die Superreichen merken, dass sie nicht mehr die Gunst der Zentralbanken genießen und ihnen ihre Kapitalerträge davonschwimmen. Eines Nachts wird die Zentrale des Zukunftsministeriums, die in der Zürcher Hochstraße liegt, von einer Bombe verwüstet. Zwar wurde glücklicherweise niemand verletzt oder getötet, doch Mary muss sich erneut unter den verhassten Personenschutz stellen lassen – und eine Zuflucht in den Bergen aufsuchen. Als sich herausstellt, dass sie auch hier nicht sicher ist, begibt sie sich auf eine abenteuerliche und riskante Flucht durch die Alpen…
Mein Eindruck
In diesem Magnum Opus hat der Autor einfach die Übertragung des Themas aus CAPITAL CODE von New York City und Washington, D.C. auf die ganze Welt ausgeführt. Leider ist CAPITAL CODE 1 bis 3 hierzulande nicht übersetzt worden, aber dafür die beiden New York City Romane. Letztere können, soweit ich gesehen habe, jeweils eine spannende Handlung vorzuweisen, was ich bei CAPITAL CODE erst noch entdecken muss…
Wie man an meinem minimalen Handlungsabriss ablesen kann, packt der Autor in sein Buch Unmengen von Informationen. Sie werden, anders etwa bei Michael Crichtons „Welt in Angst“, aber Stimmen in den Mund gelegt, so dass sie nicht gar so unpersönlich wie Zahlentabellen daherkommen. Ganz im Gegenteil: Bei bestimmten Stimmen ist es die Aufgabe des Lesers zu erraten, wer da gerade spricht. Es ist im seltensten Fall eine Person. Solche Tricks kann sich ein Schriftsteller nur in einer so multidimensionalen Stilform wie dem Roman leisten. Und das macht gute Laune.
Die oben skizzierte zentrale Handlung stellt nur das absolute Skelett des Romans dar. Am anregendsten ist natürlich derjenige Erzählstrang, in dem Mary auftritt, ergänzt durch Frank. Hier kann der Leser emotional andocken. Die spannendste Episode ist wohl Marys Flucht durch die Berge. Hier legt der Autor seine eingehende Ortskenntnis an den Tag, aber wir fühlen Marys Furcht vor den kalten, abweisenden Bergen – sie stammt aus dem relativ flachen Irland – mit und bangen mit ihr, wenn sie einen steilen Steig erklimmen muss, der zum entscheidenden Pass führt, hinter dem endlich der Kanton Wallis (mit dem Matterhorn usw.) liegt.
Aber auch die „Fridays for Future“-Anhänger müssen nicht lange suchen, bis sie fündig werden, um konkrete Ideen und Vorschläge geboten zu bekommen. CarbonCoin ist eine Kryptowährung, und die haben inzwischen einen schlechten Ruf. Aber YourLock ist eine vielleicht bessere Idee: Sie löst Banken ab und ermächtig Sparer, ja, es belohnt sie fürs CO2-Sparen. Es gibt noch viele weitere Ideen, so etwa das Absaugen des Sickerwassers unter einem Gletscher. Dass es auch Öko-Terroristen geben wird, überfordert die Vorstellungskraft keineswegs. Alles, was der Leser für die Fülle dieser Angebote braucht, ist Geduld – die Infos kommen aus dem Buch. beispielsweise der Katalog der Permakulturen auf Seite 541ff. Wat is’n Permakultur? Ein bisschen Wissen darf der Leser schon mitbringen; anderenfalls kann er die Bedeutung solcher Öko-Termini, die auf jedem Weltklimagipfel (COP) umherfliegen, einfach aus dem Kontext erschließen.
Die Übersetzung
S. 206: „Vertrauen auf Propagandavorträge“: Hierzulande wird Vertrauen IN etwas gesetzt. Es müsste also besser „Vertrauen in Propagandavorträge“ heißen.
S. 258: „ein großes Zelt, indem gekocht wurde“: Damit der Bezug stimmt, muss „indem“ getrennt werden, so dass es „Zelt, in dem gekocht wurde“ heißt.
S. 309: “Distributed-Ledger-Konto”: wird nicht erklärt, muss man nachschlagen. Gemeint ist ein Konto, das in einem rein digitalen, verteilten Hauptbuch (Ledger) verzeichnet ist und das mit Blockchain-Technologie abgesichert ist.
S. 311: eine Liste von einfallsreichen Namen, die Marys Sinn für Humor verraten.
S. 541 ff: Katalog der Permakulturen
Unterm Strich
Ich habe für die über 700 Seiten eine Weile gebraucht. Denn der Plot ist ja keiner der üblichen Krimi- oder SF-Konstrukte, sondern die Neuformung einer ganzen Welt. Und das ist eine Sache, die der Autor schon vor 30 Jahren mit seiner Mars-Trilogie durchexerziert hat. Leider wagt er sich nicht mehr an solche dramatische Szenen wie etwa das Kappen des Mars-Kabel (Roter Mars), die Überflutung einer Kolonistenstadt oder den Treck durch dünne Marsluft (Grüner Mars).
Immerhin gibt es auch in „Ministerium“ Entführungen, Anschläge, Fluchten und Anschläge. Diese Aktionen werden ausgeglichen durch dröge, aber für Insider sehr spannende Konfrontationen in Vorstandszimmern: bei der Fed, bei der Deutschen Bank – und natürlich im ZM selbst. Warum sollte Mary draußen im Feld etwas bewegen wollen, wenn doch die wahren Weltbeweger in den Vorstandsetagen hocken und dafür sorgen wollen, dass alles beim Alten bleibt? Der Kampf gilt letzten Endes nicht den schmelzenden Gletschern, sondern der Kapitalistenelite der obersten zwei Prozent der Weltbevölkerung. Der Klimawandel ist ja nicht die Ursache der Katastrophe, sondern ihre Folge.
Der Autor hat eine Menge neue Konzepte entwickelt – siehe oben. Sie lassen sich mit dem entsprechenden politischen Willen umsetzen. Doch wird das reichen, fragt sich der Leser lange bang. Am Schluss gewinnen die Permakulturen, also jene nachhaltig konzipierten Projekte, die den Unterschied zwischen Untergang und Überleben ausmachen. Man sollte auch bedenken, dass die Spezies homo sapiens eine Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern für alle anderen Arten auch hat. Der Anthropozän hat jetzt schon das gewaltigsten Massensterben der Neuzeit bewirkt. Man kann den Erfolg des ZM für naiv oder verfrüht oder was immer halten. Auf jeden Fall ist das Überleben schöner zu lesen als der Untergang der Welt.
Vielleicht hätte dem Roman eine Straffung gut getan. Ich finde, dies alles musste hineingepackt werden. Irgendjemand meckert immer, dass dieses oder jenes fehle. Eines aber kann man dem Autor nicht vorwerfen: dass er nicht auf der Höhe der Zeit gewesen sei, als er sein Buch im Jahr vor der Pandemie abgeschlossen hatte, bevor es 2020 auf den Markt kam. Robinson ist regelmäßiger Besucher auf den Klimakonferenzen (COPs).
Taschenbuch: 717 Seiten
O-Titel: The Ministry for the Future, 2021,
717 Seiten,
aus dem US-Englischen von Paul Bär;
ISBN 9783453321700
https://www.heyne.de
Der Autor vergibt: