Stephen King: Wolfsmond (Der Dunkle Turm 5)

Weiterhin ziehen Revolvermann Roland von Gilead und seine Gefährten dem Dunklen Turm entgegen, der Zentrum und Stütze des Universums darstellt. In der Mittwelt – Ort der Handlung – tun sich Dimensionsportale, Zeitfallen u. a. Hindernisse auf. Zusätzlich aufgehalten wird die Gruppe von den Bewohnern eines Grenzdorfes, das von einer Horde maskierter Finsterlinge belagert wird. Gemeinsam nimmt man den Kampf gegen eine gewaltige Übermacht auf … – Der fünfte Band der „Dark-Tower“-Serie ist ein Episoden-Epos mit enormen Längen, das Substanz durch Geschwätz, nur vorgeblich geheimnisvolle Andeutungen und das Recycling früheren King-Werken ersetzt. Zwar gelingen dem Verfasser durchaus fesselnde Szenen, die aber durch generellen Leerlauf entwertet werden: ein Buch für jene, die wissen wollen, wie‘s weitergeht.

Das geschieht:

Ihre Reise durch die Mittwelt, eine parallele Welt, die durch mysteriöse Portale mit unserer Erde verbunden ist, hat den Revolvermann Roland Deschain von Gilead und seine drei durch Dimension und Zeit zu ihm gekommenen Gefährten Susannah (aus 1964), Jake (1977) und Eddie Dean (1987) dem mystischen „Dunklen Turm“ ein Stück näher gebracht. Er stellt das symbolische Zentrum des geordneten Universums dar, weshalb ihn die Mächte des Chaos unter dem Einfluss des Scharlachroten Königs in ihre Gewalt bringen wollen. Gelingt es, ist die Welt, wie wir oder die Bewohner von Mittwelt sie kennen, verloren.

Aktuell ziehen Roland und seine Begleiter durch ein Grenzland im Westen. Hier leben die Menschen nach eigenen Gesetzen und Regeln. Der Alltag ist hart, der Boden karg, gefährliche Bestien streifen durch die Nacht. Die Männer und Frauen, die in oder um die kleine Stadt Calla Bryn Sturgis leben, kennen es nicht anders. Doch nun kündigt sich Böses an: Die „Wölfe von Calla“ unternehmen einen ihrer Raubzüge. Söldner des Bösen sind es, die in Werwolf-Gestalt für grässliche Herren kämpfen, durch das Land ziehen und von ihren Opfern Ausrüstung, Verpflegung – und Zwillingskinder fordern! Diese werden einer unbekannten Prozedur unterzogen, die sie als hirnlose, in groteske Höhe wachsende „Minder“ zurückkehren lässt.

Tian Jaffords will seinen Nachwuchs nicht den Wölfen überlassen. Er ruft seine Mitbürger zum Widerstand auf. Donald Callahan, der Dorfgeistliche, stellt sich auf seine Seite. Die Männer von Calla sind keine Kämpfer und scheuen die Gewalt. Doch Callahan, der einst aus den USA des Jahres 1983 nach Mittwelt kam, kennt eine Alternative. Er hat von Roland und seinen Gefährten erfahren und weiß, dass die Revolvermänner von Gilead verpflichtet sind, den Schwachen ihrer Welt zu helfen, wenn diese sie darum bitten – und Roland nimmt die uralte Pflicht ernst

Nicht alle Bürger hinter ihm stehen. Viele fürchten die Rache der Wölfe oder haben keine Kinder. Außerdem gibt es Verräter, die für die Wölfe spionieren. Ohnehin müssen Roland und seine Gefährten an zwei Fronten kämpfen: Im fernen New York gilt es die geheimnisvolle Rose, Symbol für den Fortbestand der universellen Ordnung, vor den Schergen des Scharlachroten Königs zu schützen …

Mit Volldampf voraus und doch auf der Stelle tretend

Zwanzig Bände hatte der Verfasser ursprünglich angedroht; sieben wurden es letztlich, ein Band mit ‚Nebenhandlung‘ kam nachträglich hinzu. Stephen King zog letztlich doch die Notbremse. Zuvor schwollen Teil 4 und jetzt 5 auf ein Seitenmaß an, das aus dem Gesamtwerk – zum Stapel getürmt – einem ganz eigenen Turm formt. „Getretener Quark wird breit, nicht stark“ Diese alte Binsenweisheit findet einmal mehr Bestätigung. Wer meinte, nach Turm-Band 4 („Glas“) könne es unmöglich schlimmer kommen, muss sich eines Schlechteren belehren lassen.

Es stört bereits die Unmöglichkeit, als nicht Eingeweihter in die Geschichte einzusteigen; der Verfasser selbst warnt in seinem Vorwort allzu wagemutige Leser: Es gilt sich durch vier Bände zu kämpfen, will man den Anschluss finden. Gravierende Kritik richtet sich weiterhin gegen die Kluft zwischen Ambition und Ausführung. Lässt man sich durch Kings Wortdonner oder seine allgegenwärtigen Andeutungen auf angeblich gewaltiges Geschehen im geheimnisvoll multidimensionalen Gefüge des Universums (das bei ihm eher ein Multiversum ist) nicht beeindrucken, kann man „Wolfsmond“ in zwei simpel gestrickte Handlungsstränge zerlegen.

Da ist zum einen die Fortsetzung der Reise zum Dunklen Turm. Obwohl es inzwischen angeblich eilt ihn zu erreichen, bevor der böse Gegner sich seiner bemächtigt, bummeln Roland & Co. gemächlich durch Zeit und Raum. Sie haben mehr als genug damit zu tun, das immer schwerer werdende Gepäck unbewältigter Konflikte mich sich zu schleppen, welches ihnen King in den vergangenen vier Bänden aufgebuckelt hat. Identitätskrisen, üble Flashbacks, Streitigkeiten, diverse Besessenheiten – ständig sucht eine neue Plage unsere kleine Schar heim, die stets ausführlich diskutiert werden muss.

Die nicht so glorreichen Vier

Strang Nr. 2 ist wahlweise als genialer Schachzug oder als bodenlose Unverfrorenheit zu bewerten. King macht gar keinen Hehl daraus, dass der Kampf gegen die Wölfe der Calla eine (sacht) ins Fantastische verfremdete ‚Hommage‘ an den Westernklassiker „The Magnificent Seven“ (dt. „Die glorreichen Sieben“) aus dem Jahre 1960 ist: Die friedlichen Bewohner eines abgelegenen Dorfes werden regelmäßig von Banditen überfallen. Um sich zu wehren, heuern die Bürger eine Schar professioneller Revolvermänner an, die den Schurken nach vielen Schlachten und unter großen Verlusten den Garaus macht.

Zwar weist King darauf hin, dass sich auch Hollywood diesen Stoff bereits ‚entliehen‘ hatte – er basiert auf Akira Kurosawas „Sieben Samurai“ von 1954 -, doch anders als die Macher der US-Version kann er nicht für sich beanspruchen, aus der Vorlage etwas Originelles geschaffen zu haben. Also versucht er es gar nicht bzw. will seine Leser auf seine Seite ziehen, indem er sie mit nerdigen Insider-Mätzchen ablenkt. So finden wir unter den Bewohnern der Calla viele, die in Gestalt und Benehmen den Figuren klassischer Westernfilme und -geschichten gleichen. Einige tragen bekannte Namen; so heißt ein prominenter Dorfbürger Wayne D. Overholser – realiter ein Verfasser bekannter Wildwest-Romane. „Calla Bryn Sturgis“ erinnert an John Sturges, der „Die Glorreichen Sieben“ inszeniert hat.

Weil es inzwischen kaum noch möglich ist, sich im Gestrüpp der „Turm“-Saga zurechtzufinden, schaltet King immer wieder Rückblenden ein – und noch mehr Rückblenden. Das Geschehen wird ständig komplizierter, Auflösungen werden auf das Finale verschoben. King täuscht auf diese Weise eine Tiefe vor, die seine Geschichte bei kritischer Betrachtung nicht (mehr) hergibt.

Alles kommt in die Wurst

Womit die Verflechtungen gerade erst anfangen. King hat damit begonnen, nicht nur die „Turm“-Saga”, sondern auch sein eindrucksvolles Gesamtwerk zu einem eigenen Kosmos zu formen. Er bezieht sich immer wieder auf Ereignisse, die nicht in der Mittwelt ihren Ursprung nahmen. So ist Pater Callahan, den unsere Reisenden in der Calla treffen, eine Figur aus „Salem’s Lot“ (1975; dt. „Brennen muss Salem“). Plötzlich mischen auch die Vampire aus dem Marstenhaus beim Kampf um den Turm mit. King scheint es gleichgültig zu sein, wie bemüht das wirkt.

Längst lappt das „Turm“-Universum umgekehrt in die ‚normalen‘ King-Werke hinein. „Black House“ (2001; dt. „Das Schwarze Haus“) ist so etwas wie eine ‚inoffizielle‘ Episode. „Hearts of Atlantis“ (1999; dt. „Atlantis“) knüpft ebenfalls Gemeinsamkeiten. „Glas“ spielte u. a. in der Welt von „The Stand“ (1978/90; dt. „Das letzte Gefecht“). Weitere Querverbindungen aufzulisten überlasse ich denen, die solche Nitpicker-Spielereien schätzen. (Ganz zu schweigen von der Fahndung nach kingfremden ‚Gaststars‘ wie den „Schnaatz“ aus den „Harry-Potter“-Abenteuern.) Das Ergebnis straft den Aufwand Lügen. King verzettelt sich in einer Fleißarbeit, die er lieber in eine straffe Handlung investieren sollte.

Bleiben bei allem Gemurre eigentlich auch positive Aspekte? Selbstverständlich, denn King war und ist ein gewandter Geschichtenerzähler, der sein Handwerk beherrscht. Zuverlässig stößt man genau dann, wenn man den „Wolfsmond“ eigentlich in einem einsamen Winkel des Bücherschranks untergehen lassen möchte, auf eine fesselnde Passage, mit der King zeigt, was er kann. Souverän weiß er zudem die Genres zu mischen: „Wolfsmond“ ist Fantasy, Science Fiction, Horror, Western, Thriller, Liebesgeschichte – und im großen Finalkampf zieht das Tempo endlich an.

Helden mit Auflösungserscheinungen

Roland von Gilead hat Arthritis. Susannah ist mit einem Dämonenbaby schwanger und wieder schizophren. Gatte Eddie macht sich berechtigte Sorgen. Nesthäkchen Jake wird erwachsen und begehrt gegen Ersatzvater Roland auf. Ansonsten keine besonderen Vorkommnisse in der Schar unserer Revolverhelden. Was immer diese bewegt, kennen wir bereits, denn es sind nur Variationen (allzu) bekannter Seelenqualen.

Die Bewohner der Calla sind Statisten aus einem Italo-Western, der in den Kulissen der Cowboy-Seifenoper „Gunsmoke“ (dt. „Rauchende Colts“) gedreht wurde. Handfestes Landvolk, schlicht im Geiste, aber gut und mutig – dieses Lied singt King auf so vielen Buchseiten, dass man es rasch über hat. Er beherrscht die Klaviatur der menschlichen Alltäglichkeiten so gut wie bisher, doch was nützt das, wenn es ihm misslingt, uns diese „Howdy“-Phrasen dreschenden Popanz-Pioniere wirklich nahezubringen?

Pater Callahan ist keineswegs die tragische Gestalt, die der Autor gern aus ihr gemacht hätte. Für den King-Historiker ist es zweifellos interessant zu erfahren, welche ‚Fortsetzung‘ die Ereignisse aus „Brennen muss Salem“ nahmen. Hier dehnen sie sich allerdings über mehrere Rückblenden aus, die fast ein eigenes Buch füllen könnten. Mit dem eigentlichen Geschehen haben Callahans Erlebnisse grundsätzlich nichts zu tun, obwohl King eine dürftige Verbindung konstruiert.

Was sich sonst diesseits und jenseits der Dimensionsportale tummelt, ist so turbulent, dass es schwerfällt den Überblick zu behalten. Wichtig ist es allerdings nicht. Die Bösen treten in immer neuen Masken auf. Der King-Fachmann erkennt erneut manchen alten Bekannten. Immerhin gelingt dem Verfasser manchmal ein Glückstreffer: Service-Roboter Andy macht als Parodie auf den Blechmann aus „Der Zauberer von Oz“ eine gute Figur. Allerdings gibt es auch eine Drohung: Wie es aussieht, tritt King im Schatten des Turms womöglich höchstpersönlich in seine literarische Welt – und das muss wirklich nicht sein.

Taschenbuch: XVI + 939 Seiten
Originaltitel: The Dark Tower V – Wolves of the Calla (New York : Scribner 2003)
Übersetzung: Wulf Bergner
http://www.stephenking.com
http://www.stephen-king.de
http://www.randomhouse.de/heyne

eBook: 2452 KB (Kindle)
ISBN-13: 978-3-641-02559-5
http://www.randomhouse.de/heyne

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