Japanische Literatur fristet in Europa in gewissem Sinne ein Schattendasein. Nur wenige Autoren bringen es auch hier zu Erfolg, und wer mehr als einen oder zwei japanische Autoren in seinem Bücherregal vorweisen kann, der darf schon fast als weltoffen gelten. Haruki Murakami kennt man hierzulande noch, Banana Yoshimoto eventuell auch noch, aber Natsuo Kirino? Nie gehört. Dabei gehört sie in ihrer Heimat zu den angesehensten zeitgenössischen Autoren. Bereits für ihren Debütroman wurde Kirino mit dem angesehensten japanischen Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet. Mit „Die Umarmung des Todes“ (Originaltitel „OUT“) gelang ihr endgültig der ganz große Durchbruch.
Dabei verspricht die japanische Literatur durchaus verlockende Abwechslung. Bücher, die in einem gänzlich anderen Kulturkreis als dem eigenen spielen, haben schon aufgrund dessen einen ganz eigenen Reiz. Sie verändern den Blickwinkel und erweitern nicht zuletzt den Horizont. So verhält es sich auch mit Natsuo Kirinos Erfolgsroman „Die Umarmung des Todes“.
Die Handlung ist am Rande von Tokio angesiedelt. Vier Frauen arbeiten dort in der Nachtschicht einer Lunchpaketfabrik. Tagsüber schmeißen sie den Haushalt und kümmern sich um die Familie, nachts schuften sie in der Fabrik, um den Lebensunterhalt aufbringen zu können. So geht es auch Yayoi Yamamoto. Während sie sich in der Fabrik abrackert, um endlich das Geld für eine eigene bescheidene Wohnung aufbringen zu können, hat ihr nichtsnutziger Gatte Kenji nichts besseres zu tun, als das Geld mit beiden Händen wieder zum Fenster rauszuschmeißen. Als er eines Abends vor Yayoi tritt und ihr offenbart, dass er die gesamten Ersparnisse der vierköpfigen Familie verspielt hat, sieht Yayoi plötzlich rot und bringt Kenji im Affekt um.
Doch was macht sie nun, mit einer Leiche am Hals? Yayoi hat Glück, dass sie sich auf ihre drei Freundinnen aus der Lunchpaketfabrik so gut verlassen kann. Kollegin Masako bietet Yayoi gleich an, bei der möglichst spurlosen Beseitigung der Leiche zu helfen. Auch die stets zupackende Yoshië ist mit von der Partie und die geldgierige Kuniko ebenso. Zusammen zerlegen sie Kenjis Leiche in Masakos Badezimmer, packen sie handlich portioniert in Müllsäcke und entsorgen sie ganz galant mit dem Hausmüll.
Doch als ganz so einfach stellt sich die Entsorgung einer Leiche eben doch nicht heraus. Glauben die vier Frauen anfangs noch, die Sache sei gut gelaufen, treten schon bald die ersten Komplikationen ein, die eine Kette von Ereignissen nach sich ziehen, die so niemand vermutet hätte. Immer tiefer geraten sie in den Sog des Verderbens, aus dem es kein Zurück mehr gibt …
Vier Frauen, die eine Leiche zerlegen und entsorgen. Das klingt zunächst einmal nach einer ziemlich krassen und blutigen Geschichte, die in Pulp-Fiction-Manier völlig überzogen sein muss. Stellenweise wirkt die Geschichte wirklich ein wenig so (insbesondere wenn es um das eigentliche, recht rational und in kühler Logik vollzogene Zerlegen des leblosen Kenji geht) und man fragt sich unweigerlich, was ein Quentin Tarantino wohl aus diesem Stoff machen würde. Den Roman aber auf diesen Aspekt zu reduzieren, würde einen gänzlich falschen Eindruck erwecken. Ich denke, Kirinos Intention ist auch eine ganz andere. Sie zeigt vielmehr vier Frauen, die aus ihrer ohnehin schon gesellschaftlich schwierigen Lage immer weiter an den Rand rücken. Sie lassen die Normalität hinter sich und überschreiten eine Grenze, ohne dass es für sie ein Zurück gäbe, und sie bereuen es nicht – zu keinem einzigen Zeitpunkt.
Um die Selbstverständlichkeit, mit der die vier Frauen die ausgetretenen Pfade ihres alten Lebens hinter sich lassen, verstehen zu können, setzt sich Kirino intensiv mit den Figuren und deren Psyche auseinander. Die Tat an sich ist nicht das eigentlich Schockierende, erschreckender sind die Konsequenzen, die sich daraus ergeben und die Art, wie die verschiedenen Personen damit umgehen.
Etwas hinterhältig ist dabei die Tatsache, dass man als Leser kaum umhin kommt, mit den Täterinnen mitzufiebern. Man drückt ihnen insgeheim die ganze Zeit über die Daumen, dass sie mit ihrer Tat davonkommen, was über kurz oder lang auch moralische Fragen aufwirft. Gut, Kenji war ein grauenvoller Ehemann und, um es ganz drastisch auszudrücken, er war ein richtiges Schwein. Aber sollte seine Frau deswegen mit einem Mord davonkommen dürfen?
Diese Fragen sind auch deswegen so interessant, weil Kirinos Täterinnen von Anfang bis Ende ziemlich naiv wirken. Besonders Yayoi neigt dazu, die Wirklichkeit auszuklammern, getreu dem Motto, dass Probleme schon verschwinden werden, wenn man sie nur lange genug ignoriert. Eine ähnlich verzerrte Wahrnehmung hat Kuniko. Sie lebt in einer Traumwelt und orientiert ihr Leben an den Fotos diverser Hochglanzmagazine. Sie ist oberflächlich und auf Äußerlichkeiten fixiert. Sobald sie auch nur ein paar Yen in der Tasche hat, gibt sie sie auch schon wieder für neue Klamotten aus. Wie sie ihre Rechnungen bezahlen soll, darüber macht sie sich erst Gedanken, wenn sie sie nicht mehr bezahlen kann.
Yoshië ist die Arbeitswütige der vier Frauen. Sie schleift die anderen bei der Arbeit mit durch, schuftet am Band für zwei und das, obwohl sie tagsüber noch die Pflege ihrer undankbaren, übel gelaunten Schwiegermutter am Hals hat. Masako ist von dem Quartett noch die Weltgewandteste. Als Yayoi sie anruft, weiß sie schnell, was zu tun ist und obwohl auch sie sich zunächst überwinden muss, steht sie zu ihrem Plan der Leichenbeseitigung. Logik und Rationalität siegen über den Ekel.
Jede der vier hat Probleme zu Hause, jede hat selbst schon genug Sorgen am Hals, auch ohne sich noch die möglichst spurlose Beseitigung einer Leiche aufzubürden. In gewisser Weise zeigen die Familien der vier Frauen einen recht bunten gesellschaftlichen Querschnitt. Als Teilzeitkräfte auf Nachtschicht nehmen sie alle eine gesellschaftliche Randstellung ein und haben es als Frauen und Mütter ohnehin schon schwerer als die Männer, wenn es um Anerkennung geht. Und so schlummert oft schon in den teils recht ausführlichen Beschreibungen der Figuren ein Ansatz von Kritik am spannungsreichen Kontrast Japans zwischen alten Traditionen und moderner, verwestlichter Konsumgesellschaft.
Vertieft wird Kirinos Sozialkritik durch weitere Nebenfiguren. Da wäre Kazuo, der Brasilianer japanischer Abstammung, der seinen Platz in der japanischen Gesellschaft nicht so recht findet und sie als Außenstehender betrachtet. Und dann wäre da noch die Figur des Kredithais Jumonji, der gleich zwei japanische Klischees gleichzeitig bestätigt. Er spielt sich gerne als Möchtegern-Yakuza auf und hat eine Schwäche für Oberschülerinnen. Kirino lässt ihren Figuren viel Raum zum Agieren, belebt die Handlung durch das Wechselspiel unterschiedlicher Charaktere und gibt der Geschichte trotz der Oberflächlichkeit und Naivität ihrer Hauptfiguren eine gewisse Tiefe.
Im Kern von Kirinos Geschichte steht nicht der Mord an sich und das Beseitigen der Leiche. Selbiges nimmt lediglich das erste Drittel des Buches ein. Interessanter und spannender sind die Verwicklungen und Folgen der Tat. Wie geht es danach weiter? Verraten sich die vier Frauen irgendwie, vielleicht sogar nur zufällig? Kirino zeigt, wie sich die Figuren unter dem Einfluss des Erlebten zu verändern beginnen und stellt damit die Psyche der Täterinnen und die Abgründe der menschlichen Seele in den Mittelpunkt. Die vier Frauen geraten durch die Tat in einen dunklen Sog, der sie immer weiter ins Verderben zieht. Die Geschichte nimmt dabei teils recht absurde und verrückte Züge an und wird mit jeder Wendung der Ereignisse schwärzer – „Nippon Noir“ eben.
Kirinos Erzählweise wirkt jederzeit souverän. Sie hält gekonnt alle Fäden zusammen, wechselt immer wieder die Perspektive, beleuchtet teilweise das gleiche Ereignis aus unterschiedlichen Blickwinkeln und baut einen kontinuierlich ansteigenden Spannungsbogen auf. Der Plot ist in sich stimmig und bis ins Detail ausgefeilt, die Sprache klar und gradlinig. Ohne, dass man es großartig merkt, fängt man beim Lesen mit der Zeit an, das Buch zu verschlingen. Man ist zunächst merkwürdig fasziniert und später mitgerissen von Handlungsverlauf und Figurenentwicklung. Kirino weiß den Leser um den Finger zu wickeln und verabschiedet sich am Ende mit einem furiosen Finale aus der Geschichte, über das man noch eine Weile nachsinnen kann.
Unterm Strich ist Natsuo Kirino mit „Die Umarmung des Todes“ ein wirklich gelungener Roman geglückt. Für den durchschnittlichen Europäer schon aufgrund des interessanten Einblicks in den japanischen Alltag interessant, aber darüber hinaus ein Roman, dem eine spannungsreiche Symbiose aus präziser, sozialkritischer Betrachtung und düsterer, psychologisch ausgefeilter Krimihandlung zugrunde liegt. Für Freunde düsterer, etwas ausgefallener Krimikost absolut zu empfehlen.