Volker Knopf/Stefan Martens – Görings Reich. Selbstinszenierungen in Carinhall

Hermann Göring, in der Nazi-Hierarchie direkt hinter Adolf Hitler stehend, ließ 1933 ein Jagdhaus errichten, das er zu einem Privatschloss ausbaute und mit geraubter Beutekunst vollstopfte. Carinhalls Mythos als Hort märchenhafter Schätze und geheimer Nazi-Bunker wurde durch die Zerstörung 1945 vollendet. Die Realität wurde für dieses Buch akribisch recherchiert und vorbildlich ausgebreitet. Carinshalls Geschichte wird sie mit der Biografie Hermann Görings verklammert. Hinter dem Nazi-Monument treten Größenwahns und brutaler Menschenverachtung zutage. Zahlreiche selten oder nie gezeigte Fotos, Pläne und Karten runden das informative und spannende Werk ab.

Inhalt:

Hermann Göring (1893-1946), im NS-Reich Adolf Hitlers nominell der zweite Mann hinter dem „Führer“, errichtete in der Schorfheide, ca. 65 km nördlich der „Reichshauptstadt“ Berlin, 1933 ein Jagdhaus und ab 1936 eine Residenz, die eines mittelalterlichen Raubritters oder indischen Potentaten würdig gewesen wäre. Immer neue, wuchtige NS-Protzbauten breiteten sich aus, es entstanden riesige Säle, Gewölbe, Zimmerfluchten, in denen Göring als inoffizieller Außenminister Staatsmänner aus aller Welt empfing und feudal mit seiner Familie residierte. Als seine Macht verfiel, zog er sich nach Carinhall zurück, hing absurden Träumen nach und stopfte sein privates Reich bis unter das hektargroße Dach mit Kunstschätzen voll, die er in ganz Europa billig ‚kaufen‘ und immer öfter rauben ließ.

Carinhall wurde 1945 auf Anordnung Görings gesprengt; es verschwand als Ort aus der Geschichte. Zwei Historiker unternahmen den Versuch, ihn in akribischer archivalischer und quasi archäologischer Kleinarbeit neu erstehen zu lassen. Volker Knopf und Stefan Martens unterscheiden drei Carinhall-Phasen: das „Refugium des Preußischen Ministerpräsidenten – Jagdhaus Carinhall 1933 bis 1936“, den „Familien- und Repräsentationssitz – Waldhof Carinhall 1936 bis 1939“ und die „Residenz des Reichsmarschalls – Carinhall 1939 bis 1945“. Dabei werden die Architekturen der verschiedenen Anlagen und ihre Einrichtungen detailliert in Wort und Bild vorgestellt.

Zwischengeschaltet sind Kapitel, die den NS-Funktionär und Menschen Hermann Göring vorstellen. Carinhall war kein isolierter Spleen eines exzentrischen Individuums, sondern durchaus ein Indiz für die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes.

Ein abschließendes Kapitel erzählt von Carinhall nach 1945; es ist wiederum ein Beleg dafür, dass sich ungeliebte Kapitel aus der Historie nicht tilgen lassen, wie es der DDR-Staat aufwändig versuchte. Abgerundet wird das Werk durch einen Anhang, der Görings irrwitzige Prunksucht durch die nüchterne Auflistung seiner Residenzen neben Carinhall, seiner Sonderzüge und Yachten verdeutlicht. Görings Geltungsbedürfnis illustriert eine Tabelle, die seine unzähligen Ämter aufführt. Außerdem gibt es eine kommentierte, sehr detaillierte Zeittafel, einen umfangreichen Anmerkungsapparat, ein Quellen-, Literatur- und Abbildungsverzeichnis und ein Personenregister.

Ein Ort – und ein irrer Traum

„Carinhall“ – das ist zunächst der Name eines Ortes. Gleichzeitig ist es die Stätte einer bizarren Selbstinszenierung, die insofern gelang, als Hermann Göring und sein Palast fast sagenhaft in die Geschichte eingingen. Als genialer Politiker, großer Jäger, kundiger Kunstsammler, sinnlicher Renaissancemensch, mit einem Wort: als überlebensgroßer Repräsentant des ‚neuen Menschen‘ setzte sich Göring in Szene. Carinhall wird dadurch zu einem Mosaikstein jenes Gefüges, aus dem sich das nachträglich schwer verständliche Gesamtbild Nazideutschlands zusammensetzt. Prunk und Einschüchterung, gegründet auf Unrecht und Menschenverachtung: Hermann Göring und sein Carinhall symbolisieren die Kriminalität des „Dritten Reiches“ ebenso wie die Wirrnis, die intellektuelle Armut und die Geschmacklosigkeit seiner ‚Führer‘.

Carinhall wurde 1945 wie gesagt geräumt und gesprengt; Görings Refugium sollte den Siegern des Weltkriegs nicht in die Hände fallen: Wenn ich es nicht behalten kann, soll es auch kein anderer haben! Die Trümmer wurden vom späteren DDR-Regime geschleift, die Stätte wurde bepflanzt. Statt in Vergessenheit zu geraten, wucherte Carinhall fast obligatorisch zum Mythos: Unterirdische Kavernen, vollgestopft mit Göring-Schätzen, wurden auf dem Gelände vermutet und vor allem nach der Wende immer wieder gesucht.

Aber auch das reale Carinhall geriet einerseits in Vergessenheit und wurde andererseits verklärt. So wurde es höchste Zeit für eine Aufarbeitung dieser historischen NS-Episode. Volker Knopf und Stefan Martens widmeten sich mehrere Jahre dieser komplexen und komplizierten Aufgabe. Die Geschichte von Carinhall ist schwer zu rekonstruieren, weil die Belege entweder zerstört oder in alle Winde zerstreut wurden. Doch die Verfasser verbissen sich in das faszinierende Thema, förderten verschollene Unterlagen, Pläne, Karten und vor allem Fotos zu Tage, fanden Zeitzeugen, die Carinhall als Bedienstete, Wachen, Bauarbeiter kannten. Dieses Material illustriert den fabelhaften Text hervorragend.

Düstere Wahrheit hinter dem Mythos

So trennten die Autoren Märchen und Wahrheit, wobei letztere wie so oft weitaus stärker fesselt. Carinhall ist kein Fuchsbau unterirdischer Bunker und Geheimgänge, in denen der „gute Hermann“, der sich bei seinen ‚Untertanen‘ so gerissen volkstümlich in Szene zu setzen wusste, Gold, Diamanten und Kunstschätze verschwinden ließ und auf diese Weise seinen Häschern noch aus dem Gefängnis und später aus dem Grab eine Nase drehen konnte.

Das eigentliche Bild ist vielschichtiger – und dunkler: Carinhall ist – in dieser Reihenfolge – das mit Blutgeld erkaufte Spielzeug eines skrupellosen, kranken, verzweifelten Mannes, der über die Macht verfügte, seinen inneren Dämonen Zucker zu geben. So sagt Carinhall viel über den Menschen Hermann Göring aus. Dabei geht es nicht einmal so sehr um die bizarren Details; so ließ der Hausherr u. a. für seine kleine Tochter eine vollständig eingerichtete Kopie des Hohenzollernschlosses Sanssouci bauen – die Front maß 50 Meter in der Breite -, Göring selbst schmückte sich mit grotesken Fantasiekostümen, spielte gern mit gleich zwei der weltgrößten Modelleisenbahnen und forderte geladene Diplomaten auf, aus den Gleisen gesprungene Wagen aufzustellen.

Hinter dem Wahnsinn lauerte freilich zunächst Methode, wie die Autoren herausfanden. Der überaus intelligente Göring mimte den lauten Genussmenschen mit dem Kinderherzen auf der Zunge, um seine Gäste – hohe, besorgte Politiker aus dem Ausland – über das traurige Realität Nazideutschlands zu täuschen, sie unvorsichtig werden zu lassen und für das Regime zu werben. Auf diese Weise konnte er seine abgelenkten Gegenüber aushorchen und gegeneinander ausspielen.

Fluchtburg eines Unbelehrbaren

Als Görings Stern bei Hitler zu sinken begann, wurde Carinhall sein privates Fantasiereich, in dem er das Sagen behielt. Während die nazideutsche Welt in Trümmer ging, spann Göring sein Garn von einem ins Gigantische vergrößerten Carinhall, das 1953 als „Hermann-Göring-Museum“ die (selbstverständlich geraubten) europäischen Kunstschätze des Mittelalters und der frühen Neuzeit beherbergen sollte. (Das 18. und 19. Jahrhundert behielt sich der gleichfalls fleißig plündernde „Führer“ für sein Privatmuseum in Linz vor.) Immer hektischer wurden seine Beutezüge, das zusammengeraffte Gut blieb oft in den Kisten.

Auch als Ruine blieb Carinhall problematisch. Das DDR-Regime wollte die ungeliebte Erinnerung und einen potenziellen Wallfahrtsort für unbelehrbare Nazi-Verehrer tilgen. Heute sähen zeithistorisch bewegte Gruppen hier gern eine Gedenkstätte. Die Verfasser legen Für und Wider der Diskussion dar. Das Thema gibt ihnen außerdem die Möglichkeit, Carinhall im 21. Jahrhundert zu zeigen: ein Waldstück, in dem hier und da Steinbrocken aus dem Boden ragen. Auf diese Weise bleibt Carinhall weiterhin geisterhaft präsent; wir haben nun verstanden, wieso dies so ist.

Gebunden: 206 Seiten
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