Wenn jemand sich mit seiner schlafenden Liebsten in ein Zimmer eingeschlossen hat und einen recht einseitigen Dialog mit ihr hält, weiß der versierte Leser von Horrorstorys: Besagte Liebste ist tot, der angebliche Geliebte hat sie umgebracht und erklärt nun sich selbst und dem Publikum, wie es dazu kommen konnte. Man findet diese Konstellation immer wieder in immer neuen Variationen. Interessant an diesen ist nicht mehr das Was, sondern das Wie – Schafft es der Autor, dem Leser die Zerrissenheit des Protagonisten nahe zu bringen, die Welt außerhalb des gestörten Geistes von diesem verfremdet darzustellen und so das eigentliche Grauen zu erzeugen, das nicht den äußeren Zutaten (der Liebsten entnommene Eingeweide, eine Badewanne mit Natron etc.) entfließt? Markus K. Korb gelingt es, in „Concetta“, der ersten Geschichte des Venedig-Zyklus seines Buches – mit dem zugleich eine neue Reihe von [BLITZ]http://www.blitz-verlag.de startete: Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek (Herausgeber: gleichfalls Markus K. Korb).
Das Buch, von Gustav Wölkl wirklich schön illustriert, besteht aus zwei Zyklen zu je 4 Geschichten, die in den grausamen Städten Venedig und Berlin spielen. Es ließe sich an dieser Stelle viel Kluges über Parallelitäten innerhalb der Zyklen und zwischen diesen sagen, doch da dies bereits Eddie M. Angerhuber in ihrem fundierten Nachwort tut, seien alle Interessenten an eben dieses verwiesen. Hier kommt im Folgenden vor allem der Leser zu Wort, der sich von der Atmosphäre hat anrühren lassen oder keinen Zugang zu einer Geschichte gewann.
Insgesamt erst einmal: Mir erscheint dieser Einstieg in eine neue Reihe gelungen. Der „innere Bezug zu Poes Ideenwelt“, den Herausgeber Korb in einem kurzen Vorspruch beschwört, ist zweifelsohne gegeben, ebenso das Aufgreifen Poe’scher Motive und der Anspruch, sich nicht „in bloßen Nachahmungen“ zu erschöpfen, sondern „Eigenständigkeit und Originalität“ zu besitzen. Freilich ist in diesem Kontext „Originalität“ ein sehr hohes Wort, genau wie die Bemerkung, die in der Reihe erscheinenden Werke sollten innovativ sein und die Phantastische Literatur fortentwickeln. Leiser Zweifel: Wird diese Latte nicht – wenigstens gelegentlich – gerissen werden? Welchem Autor kann man schon bescheinigen, im Phantastischen innovativ und ein Fortentwickler zu sein? Mir fallen Namen wie Hoffmann, Poe, Kafka, Ligotti ein, aber schon bei Lovecraft komme ich ins Grübeln, denn in Sprache und Komposition ist er nicht innovativ, man könnte allenfalls seine Kosmogonie in die Waagschale werfen. Auch fragt man sich natürlich, ob Autor Korb einlösen kann, was Herausgeber Korb verspricht. Es wäre schon viel, finde ich, wenn einem gute Geschichten erzählt würden oder wenn man, wie im Nachwort beschworen, hier ein Forum schafft für die vorhandenen deutschen Talente, die Chancen brauchen, veröffentlicht und gelesen zu werden. Bei derlei Ankündigungen wäre mir ehrlich gesagt wohler. Denn so gut mir z. B. „Concetta“ auch gefallen hat – innovativ ist die Story nicht.
Es gibt in diesem Buch auch andere Texte, die mir eher wie Versuche vorkommen. „Carnevale a Venezia“, ein weiterer innerer Monolog, schickt einen Professor der Kunstgeschichte mitten im Karneval einer seltsamen Maske hinterher – zuerst scheint es sein Schwager zu sein, dann ein Privatdetektiv, den seine Frau auf ihn angesetzt hat, dann die Frau selbst. Am Ende fragt der Ich-Erzähler, ob er einem Phantom gefolgt ist, um dann fortzusetzen: „… tat ich das nicht schon seit Jahren? Habe ich nicht stets eine Idee, eine menschliche Vorstellung von Unsterblichkeit verfolgt? Kann es sein, dass diese Idee für eine kurze Zeit in der magisch aufgeladenen Luft des venezianischen Karnevals Gestalt angenommen hat?“ So leitet der Autor zum eigentlichen Thema des Textes hin, das in einer Vision gipfelt, die dem Protagonisten den Verfall der „ewigen“ Kunst und des Menschenwerkes zeigt: Venedig wird versinken, die Touristen werden mit U-Booten durch seine unterseeischen Kanäle fahren, in nicht allzu ferner Zeit. Nun gewinnen auch die relativ langen Ausführungen des Professors zu den Kunstwerken der Stadt ihren Sinn, aber mir scheint, dass dieser Text nicht organisch gewachsen ist, dass der Umschwung „Schwager / Detektiv / Frau – Idee“ doch allzu krass und unmotiviert erfolgt.
„Das Ikarus-Prinzip“ hingegen ist eine gelungene Geschichte über einen Einbrecher, der den Dionysos-Rubin aus dem Palazzo Dario stehlen will und dabei ein mysteriöses Erlebnis hat. Korb hält bis zum Schluss alles offen, es gibt mehrere Erklärungen für das Geschehen, erst das Ende deutet an, welche Lesart den Vorzug gewinnt. Der Reiz resultiert hier aus gekonnt inszenierter Unbestimmtheit, die schließlich gebührend aufgelöst wird.
Es folgt mit „Insel der Gräber“ – die Friedhofsinsel San Michele fasziniert Korb – eine Geschichte, zu der ich ein zwiespältiges Verhältnis habe. Ich finde sie gut, denn sie greift das Sujet des ahnungslosen Protagonisten auf, der ungewollt und plötzlich aus dem normalen Alltag in das Grauen hinübertritt. Der Ministrant Paulo wollte ja nur einmal sehen, wo auf San Michele die Toten ruhen, ein Jungenstreich, nichts weiter … Was daraus wird, ist bis hin zum wahrhaft monströsen Ende gut erzählt. Der Autor findet für die venezianische Sage vom Lagunengott oder -unhold eine originelle (ja, hier passt das Wort!) und natürlich grauen-volle Erklärung. Ich habe nur das Gefühl, dass die Bezüge zu Lovecrafts Kosmos die Originalität des Werkes schmälern; wenn das Wort „Shub-Niggurath!“ fällt, ist eigentlich (fast) alles klar. Ein wenig schade!
Auch in „Tief unten“, der abschließenden Geschichte des Berlin-Zyklus, verarbeitet Korb Mythologisches. Diesmal ist es die germanische Saga vom Ende der Welt, von den Ragnarök, denen ein langer Winter vorausgeht, an dessen Ende die letzte Schlacht geschlagen wird, aus welchem Anlass der Fenris-Wolf von seiner Fessel loskommt. Korb verlegt die Handlung in das Berlin einer nicht allzu fernen dystopischen Zukunft: Russland/China und die USA bedrohen einander wieder einmal mit Atomraketen, und in Deutschland feiern Faschos blutige Urständ. Wer kann, zieht sich zurück, zum Beispiel in die Welt der Bunker unter der Stadt, wo schräge Endzeit-Partys steigen. Auf einer solchen erhält der Caver Woffo von einem zwielichtigen Ungarn eine Karte mit dem Weg zu einem noch unentdeckten Nazi-Bunker. Er sucht ihn auf und findet dort einerseits eine V3, deren Zählwerk gegen Null rast, andererseits geht ihm auf, dass der unterirdische See in der Nähe des Bunkers etwas viel Monströseres beherbergt, nämlich Fenris, der nur noch ein Opfer braucht, um loszukommen … Bei allem Respekt vor dem Engagement dieses Warntextes: Ich halte ihn für den schlechtesten des Buches. Die Mischung zweier Handlungsstränge – Nazis provozieren den Dritten Weltkrieg und leiten zugleich die Ragnarök ein – überspannt den Bogen völlig, zumal die Vorstellung, Fenris hause unter Berlin und steige als riesiges Monster aus dem See empor, den Mythos ins Banale hinüberzieht. Hier wäre weniger eindeutig mehr gewesen.
„Wir sehen alle besser aus in Schwarz und Weiß“, der dritte Text des Zyklus, variiert abermals das Concetta-Motiv: innerer Monolog, gestörter Geist, umgebrachte Eltern, stumme Zwiesprache mit der Mutter, die der verlorene Sohn auf den richtigen Weg bringen wollte, schließlich wiederum (wie im „Ikarus-Prinzip“) ein Sprung in die Tiefe. Doch was mir hier gefällt, was die Geschichte auch besser als „Concetta“ macht, ist die Wahnidee hinter dem Ganzen: Der Erzähler meint, dass die Farben lügen; nur eine Welt in Schwarz-Weiß wie die der alten Filme scheint ihm ehrlich zu sein, und es ist seine Mission, dies allen Leuten zu verkünden – was er konsequent bis zum Ende tut. Ein schöner, dichter Text, der das Prädikat „originell“ zumindest im Fach „Wahnvorstellung“ verdient.
Besessen ist auch der Künstler, der in „Insomnia“ Werke der Weltkunst nachschafft – in einer brodelnden Atmosphäre des Berlin der Zwanziger, in der alles möglich scheint. Zum wirklich gelungenen Sujet, zum rasanten Erzählton kommt hier noch das, na ja, morbid Reizvolle des Ratespiels hinzu: Welches Kunstwerk ist gemeint? Und: Korb spielt in diesem Text seine Stärke der atmosphärisch dicht und detailgetreu gezeichneten Milieus voll aus. Die übrigens belebt auch die schwächeren Texte. Die grausame Stadt, nicht der einzelne Mensch, ist jeweils das Üble, Böse – die menschlichen Täter lassen sich von ihr nur infizieren und setzen handelnd um, was sie vorzeichnet.
Genaues Milieu schildert auch „Der Schlafgänger“ – für mich der Höhepunkt des Buches, eine Geschichte, die den hohen Anspruch wirklich einlöst. Mit brutaler Präzision stellt Korb den alltäglichen Horror des Lebens einer Arbeiterfamilie um 1892 dar. Bei dieser mietet sich täglich von sieben bis drei ein Schlafgast ein – das hilft der Familie, ihr mageres Budget aufzubessern. Details werden sparsam, aber gezielt und daher äußerst effektiv eingesetzt – allein die Überlegung, nach drei dann noch einen zweiten Gast aus einer anderen Schicht aufzunehmen, spricht Bände! Der Ich-Erzähler, der sich als Erwachsener an alles erinnert, beobachtet nun, wie der mysteriöse, Furcht erregende Fremde sich allnächtlich seinem kleinen Bruder nähert, der von Tag zu Tag schwächer wird. Der Junge findet bei den Erwachsenen kein Gehör für seine Befürchtungen und beschließt, selbst zu handeln … Das klassische Vampir-Sujet? Nicht wirklich. Beeindruckend: die Darstellung der schließlich enthüllten Gestalt des Fremden, noch beeindruckender aber: wie der Autor die scheinbar klare Geschichte am Ende umkippen lässt. Wieder arbeitet Korb mit der Unbestimmtheit – aber was in „Carnevale a Venezia“ leicht enttäuscht und in „Das Ikarus-Prinzip“ nicht übers Bekannte hinausgeht, lenkt hier den Blick unerwartet in die Abgründe der Seele, des Vorurteils und der Schuld. Der Leser wird gleich mit hineingelockt … So ist „Der Schlafgänger“ auch ein Spiel mit Versatzstücken und Erwartungen. Ich bin von dieser Geschichte schlichtweg begeistert.
Sie zeigt auch, was Eddie M. Angerhuber im Nachwort beschwört und was der Vorspruch programmatisch deklariert: Es gibt Talente in der deutschen Phantastik, die ihre Wurzeln in der internationalen, aber auch in der großen nationalen Tradition des Genres haben. Man muss ihnen nur die Gelegenheit geben, öffentlich wahrgenommen zu werden. Freilich wird nicht jeder Text – des Buches und, denke ich, auch der Reihe – als innovativer Geniestreich gelten können, aber Perlen finden sich hier und anderswo unstreitig. Man muss sie nur aus der Tiefe holen. Das ist freilich ein riskantes Unterfangen – aber Verleger, die kein Risiko eingehen, verdienen den Namen nicht.
Leser übrigens auch nicht …
_Peter Schünemann_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de veröffentlicht.|