Die gegenwärtige Weltlage lädt förmlich dazu ein, das Nibelungenlied als Beispiel zu nehmen, um aufzuzeigen, welches Ende blutrünstige Rachefeldzüge nehmen können. Die Situation vor 800 Jahren war der heutigen recht ähnlich, es war die Zeit der Kreuzzüge der Christen gegen den Islam und die Juden. Diese Parallele nimmt der Autor Rudolf Kreis zum Anlass, den unbekannten Dichter des Nibelungenliedes zu entchristianisieren und in ihm einen Juden bzw. dem Judentum Nahestehenden zu vermuten. In Worms verfügte die jüdische Bevölkerung damals über die gleichen Rechte wie die eigentlichen Bürger auch. Die rabbinische Gelehrsamkeit strahlte stark auf die christliche Theologie ab. Für das europäische aschkenasische Judentum war Worms das „Jerusalem“ des Westens. Seit dem 9.Jahrhundert kontrollierten die jüdischen Kaufleute von Worms den Fernhandel mit dem Orient bis Indien und China. Neben der Synagoge existierte eine Talmudschule von überregionalem Rang, der den der bis dahin führenden Hochschule von Babylon übertraf.
Kreis sieht im Nibelungenlied eine versteckte Kritik an der aufkommenden Judenfeindlichkeit und den Kreuzzügen. Dessen Routen decken sich auch weitgehend mit der des Nibelungenzuges. Durch die durchziehenden Kreuzfahrer kam es auch ab 1095 zu ersten Massakern an Juden in Köln, Mainz und Worms, die das Blutbad unter den Juden bei der Eroberung Jerusalems vorwegnahmen. Nicht unbedeutend an der antijüdischen Stoßrichtung war auch die bei Worms lebende Äbtissin und Heilige Hildegard von Bingen (1098 – 1179). Dass 1187 dann Jerusalem fällt und die Franken und Templer durch Saladin geschlagen wurden, könnte das Vorbild für das Ende der Nibelungen in Etzelburg gewesen sein.
Im Nibelungenlied reitet Siegfried (Synonym für Christus und dessen spätere Ermordung) mit zwölf „Kreuzritter-Aposteln“ nach Worms. In Hagen kann somit das Ideal des Anti-Kreuzzugkriegers gesehen werden. Siegfried verfällt der Kriemhild (Synonym der jungfräulichen Maria), die er auch im entsexualisierten Minnedienst verehrt. Im berühmten Königinnenstreit sieht Kreis eine zensierte Form des Sieges des christlichen Liebesideals gegenüber der nackten Fleischeslust, dem jüdischen Hohelied Salomos. Im Nibelungenlied wird Brunhild auch zweimalig als „Braut des Teufels“ bezeichnet. Im sportlichen Dreikampf, mit dem die jungfräuliche Brunhild besiegt wird, sieht Kreis eine verdeckte Satire auf die irdischen Komplikationen des dreieinigen Gottes. Brunhild wird dem gemäß auf dieselbe Weise betrogen wie das jüdische Volk durch eine angeblich unbefleckte Empfängnis Marias. Ihre Kraft von zwölf Männern stehen für die zwölf Stämme Israels und Siegfrieds Zwölferkraft ist ein Hinweis auf die zwölf Apostel, die über das Judentum trotzen. Auch der später notwendige dreieinige Beischlaf – Siegfried, Brunhild und Gunther – ist eine einzige Parodie auf den Mystizismus des Minnedienstes. Der ihr dabei entwendete Ring und der silberdurchwebte Gürtel ist übrigens das traditionelle Geschenk der jüdischen Braut an ihren Bräutigam.
Durch das Kreuzeszeichen auf dem Rücken, das beim Drachenblutbad die Unsterblichkeit vereitelt, stirbt Siegfried christusähnlich durch Hagen, dem psychoanalytisch als Tatmotiv homoerotische Eifersucht zugesprochen wird. Seine Stellung als Tronjer im damaligen Wormser Reich ist historisch mit den den Wormser Juden garantierten kaiserlichen Privilegien, die sie von jeglichem Untertanen- oder Leibeigenenverhältnis befreiten, zu identifizieren. Erst Richard Wagner geht auf dieses Bild im „Ring der Nibelungen“ wieder ein. Seine Nibelungen-Juden Alberich, Minne und Hagen als Karikaturen des jüdischen Wesens haben aber nur wenig mit der Urquelle des Nibelungenliedes zu tun.
Die Trauer um Siegfrieds Tod trägt übersteigerte Züge der Passion Christi und Marias. Siegfrieds Nibelungenreich war ein überirdisch geistiges Reich und der Nibelungenschatz eine Metapher dafür, vergleichbar dem heiligen Gral. Hagen versenkt diesen im Rhein, ohne sich dessen Möglichkeiten zu bedienen und rettet ihn damit vor dem rachsüchtigen Zugriff Kriemhilds. Der König Etzel des Nibelungenliedes hat nichts gemein mit dem historischen Hunnenkönig, vielmehr aber mit dem Großmut und der Toleranz von Saladins Herrschaft über Jerusalem nach der Schlacht von 1187. Historisch wahrscheinlich wäre auch der Bezug zur Gründung der Ungarischen Kirche, gegründet von Stephan I. (997 – 1038), unter der Christen, Juden und Heiden sehr tolerant miteinander umgingen. Was das Nibelungenlied im „großen Mord“ von Etzelburg bündelt, ist historisch genau das, was die Christenheit auf ihren Kreuzzügen von Xanten bis Jerusalem über die Juden brachte, und möglicherweise auch der Feuertod der Templer 1187. Dieser Krieg währt aber noch bis heute. Er spiegelt sich in Hitlers Kreuzzug und der Niederlage in Stalingrad, für die Göring den Nibelungentext sogar als Kommentar benutzte. Und mit dem amerikanischen Feldzug gegen das „Böse“ und die eingeforderte Nibelungen-Treue könnten wir schon wieder in die tragische Nähe des Epos gerückt sein.
Der unbekannte Autor des Nibelungenliedes scheint also entweder ein jüdischer Gelehrter zu sein oder ein mit beiden Seiten vertrauten Ketzer, der sich einen genialen Witz erlaubte. Hagen könnte das Alter Ego des Autors gewesen sein, der sich gegen die heiligen Siegfriede der Kreuzzüge wehrte. Die These von Kreis ist so ungewöhnlich wie plausibel und löst unter den Nibelungen-Experten Empörung oder Totschweigen aus. Deren christlich vermuteten Autoren Walther von der Vogelweide, Konrad von Fussesbrunnen, Abt Sigehard von Lorsch oder Bligger von Steinach steht das Potenzial einer jüdischen literarischen Elite gegenüber, die durchaus in der Lage gewesen wäre, ein Anti-Kreuzzugs-Epos von höchstem Rang in Mittelhochdeutsch zu verfassen. Rudolf Kreis sucht aber nicht den Streit mit den vorhandenen Experten um „ihre“ Autoren und nennt seine These deswegen „Täterprofil“.
Taschenbuch: 113 Seiten
Ursprünglich erschienen im Magazin [AHA]http://www.aha-zeitschrift.de
Ausgabe 02/2004