S. 5: |“Eine Schneeflocke hat sich auf den Ärmel meines Anoraks gesetzt, ich habe hochgeschaut. Die Frau ist auf der Höhe vom sechsten Stock. Meine Mutter und ich wohnen im siebten. Die Frau auch. Sie ist unsere Nachbarin. Sie hat sich gerade aus dem Fenster gestürzt. Die Tür der Dachterrasse darüber ist abgeschlossen; kein Mieter hat den Schlüssel. Außer mir. Niemand weiß es. Der Verwalter hat ihn eines Tages im Schloss vergessen.“|
„Zacharias“ wurde von der Kritik mit Lob überhäuft, verkaufte sich in Frankreich 100.000-mal, wurde dadurch zum Bestseller und gewann den renommierten „Grand Prix RTL/Lire“. Wenn man das schmale Buch aber in die Hand nimmt und die ersten Seiten liest, wundert man sich doch ein wenig über die Lobpreisungen. Von einem psychologischen Spannungsroman ist nichts zu spüren und die kurzen aneinandergereihten Hauptsätze stören den Lesefluss erheblich. „Zacharias“ braucht einfach seine Zeit, um sich zu entwickeln … Beginnen wir beim Inhalt:
Zacharias ist zwölf Jahre alt, recht kleingewachsen und an Diabetes erkrankt. Jeden Tag muss er sich daher zwei Insulinspritzen setzen, außerdem versuchen seine Mutter und er, Standardrituale einzuhalten, um der Zuckerkrankheit Einhalt zu gebieten. Einen Vater gibt es nicht, warum, wird uns vorenthalten. Gleich in der ersten Szene beobachtet Zacharias, wie sich die Frau aus der Wohnung nebenan aus ihrem Fenster im siebten Stock in die Tiefe stürzt. Er kann genau beobachten, wie ihr Haar nach oben gezogen wird und die Frau mit den Armen rudert, kurz darauf landet sie auf dem Boden und Zacharias deckt seinen Anorak über den reglosen Körper und wundert sich, dass in der Nachbarschaft Frauen überfallen werden. Ein Mörder hat schon drei Opfer auf seinem Gewissen.
Kurze Zeit später bezieht ein unbekannter Motorradfahrer die nachbarliche Wohnung der toten Frau. Zacharias beobachtet den merkwürdigen Mann, der des Nachts von der gegenüberliegenden Seite aus die Wohnungen in Zacharias‘ Haus ausspioniert. Während bei Zacharias Zweifel und Abneigung entstehen, beginnt seine Mutter, sich auffällig für den Nachbarn zu interessieren. Doch dann hat der Nachbar – Jacob – einen schweren Unfall, bei dem er sich den Hals bricht. Fortan liegt er als Pflegefall in seiner Wohnung. Zacharias‘ Mutter, die als Krankenschwester arbeitet, springt aufgrund ihrer finanziellen Sorgen als Pflegerin für Jacob ein. Da fasst Zacharias einen Plan: Nach einem selbstinszenierten Ohnmachtsanfall in der Schule besucht er seine Mutter beim gemeinsamen Nachbarn. Er hilft bei der Pflege mit und macht sich stückchenweise für seine überarbeitete Mutter unentbehrlich. Es dauert nicht lange, bis seine Mutter ihn mit Jacob alleine lässt, um ihren Schlaf nachzuholen.
Nun kann der Plan in die nächste Phase gehen, Zacharias beginnt kleine Psychospielchen mit dem Nachbarn und verhört ihn. Handelt es sich womöglich bei Jacob um den gesuchten Mörder? Immerhin haben die Morde aufgehört seit seinem Unfall. Durch gezielte Fragen und Beobachtungen kommt Zacharias dem Mörder langsam auf die Spur …
Lange dauert es, bis man sich in diesem Buch warm gelesen hat. Zunächst ahnt man nicht, worauf die Erzählung hinauslaufen wird, außerdem sind die kurzen Sätze und die schlicht gestrickte Sprache sehr ungewohnt. Der verschwenderische Umgang mit kurzen Hauptsätzen stört den Lesefluss erheblich, da man ständig an den nächsten Punkt gerät, nach dem man neu ansetzen muss. Auch sind die Kapitel meist nur zwei oder drei Seiten kurz; so werden künstlich immer wieder Zäsuren eingefügt, die die Erzählung unterbrechen. Sprachlich empfinde ich „Zacharias“ daher als sehr ungewöhnlich, ich würde die Sprache nicht einmal als kindlich bezeichnen, sondern eher als hektisch. Die Geschichte macht den Eindruck, als wäre sie in Konzeptform flüchtig aufs Papier geworfen worden, um hinterher vielleicht einmal entsprechend ausformuliert zu werden. Doch irgendwie passt dies zu der zugrunde liegenden Geschichte, in der ein kleiner Junge sich heimlich auf die Suche nach einem Mörder macht und in dessen Kopf dabei die merkwürdigsten Ideen zu entstehen scheinen.
Wir begleiten Zacharias stets in seinen Gedanken, er präsentiert uns seine Ideen und seinen Plan, wir sind dabei, wie er in der Schule den Ohnmachtsanfall provoziert, wie er seinen Arzt genau beobachtet und wie er sich nachts mit seinem neu erworbenen Fernglas davonstiehlt, um ebenfalls fremde Wohnungen auszuspionieren. Doch obwohl wir eigentlich immer dabei sind, enthält Zacharias uns gewisse Informationen vor, er präsentiert uns gefiltert nur die Dinge, die er uns zeigen möchte. Am Ende erfahren wir, was er uns verschwiegen hat, sodass der Leser hinterher einige Bilder verwerfen muss, die beim Lesen entstanden sind. So führen uns John La Galite und Zacharias geschickt vor, denn die meisten Leser werden von dem uns dargebotenen Ende sicher überrascht sein.
So schlicht wie „Zacharias“ erzählt ist, so tiefsinnig ist das Buch doch auch. Obwohl die Hauptfigur erst zwölf Jahre alt ist und durch seine kleine Statur und die Zuckerkrankheit so verletzbar wirkt, schafft Zacharias es dennoch, durch oscarreife Schauspielleistungen sein Umfeld zu täuschen. In kleinen psychologischen Spielchen zeigt er, dass er nicht nur seine Mutter im Griff hat, sondern dass er auch den schwer verletzten Jacob beeinflussen kann, auch wenn er hier erstmals an seine Grenzen zu stoßen scheint. Vordergründig werden uns die Figuren nur recht oberflächlich beschrieben, doch zwischen den Zeilen kann man so viel mehr herauslesen. Nur durch Zacharias‘ Denken und Handeln können wir uns ein adäquates Bild zurechtlegen, wobei man hier mit viel Einfühlungsvermögen zu Werke gehen muss, da Zacharias nicht nur seine Mutter hereinlegen möchte, sondern auch seine Leser. Dadurch erhält das Buch aber seinen besonderen Reiz, da man somit viel in die Erzählung hineininterpretieren kann, aber am Ende dann doch überrascht wird. So sitzt man im Anschluss an die Lektüre erst einmal da, blättert im Buch zurück, liest einige Passagen noch einmal und muss den Aha-Effekt nachvollziehen. Hier kann der Groschen schon einmal pfennigweise fallen, aber dann trifft uns die Erkenntnis mit voller Wucht. Klasse gemacht!
Wer jedoch mit den Erwartungen an einen (Psycho-)Thriller nach bekanntem Strickmuster an das Buch herangeht, der dürfte enttäuscht werden. Trotz der nur zweihundert Seiten, braucht „Zacharias“ mehr als hundert davon, um ins Rollen zu kommen. Die Geschichte beginnt zwar mit einem Knalleffekt, nämlich dem Fenstersturz der Nachbarin, doch anschließend plätschert die Handlung ein wenig vor sich hin und der Leser ahnt nur ganz allmählich, welchen Plan Zacharias verfolgt. Der kleine Junge ist uns immer mindestens einen Schritt voraus und nur er weiß, was noch passieren wird. Wir tappen im Dunkeln und warten auf den Beginn der Verhöre und auf die ersten Schritte auf der Mörderjagd. Doch müssen wir uns lange Zeit gedulden, denn zunächst erfolgt eine ausführliche Vorstellung von und durch Zacharias. Diese Figur steht immer im Mittelpunkt und die Suche nach dem Mörder geschieht eigentlich nur am Rande. Allerdings erfahren wir am Ende auch, wie beides miteinander zusammenhängt, erst auf der allerletzten Seite fügt sich das letzte Mosaiksteinchen in das Gesamtbild ein und rundet die Erzählung ab.
„Zacharias“ ist ungewöhnlich, unaufdringlich und anders, die Sprache schreckt etwas ab und wirkt ziemlich holperig und unausgegoren, doch ist sie ein bewusst eingesetztes Stilmittel, welches durchaus in das Gesamtkonzept passt. John La Galite präsentiert uns eine innovative Geschichte, die zu allerlei psychologischen Mitteln greift und den Leser zum Miträtseln auffordert. Alles scheint klar und eindeutig, aber das ist es nicht; am Ende wartet eine Überraschung auf uns, die es in sich hat. Man muss sich schon auf die spezielle Erzählweise des Buches einlassen und seine normalen Erwartungen an einen Spannungsroman abschalten, dann überzeugt diese so unauffällig daherkommende Geschichte und begeistert sogar, allerdings erst, nachdem man noch einmal eine Nacht darüber geschlafen und die Eindrücke auf sich wirken gelassen hat.