Lehrreiche Abenteuer eines Tunichtguts
Nils Holgersson ist ein Tunichtgut. Erst als ein Wichtelmännchen ihn in einen Däumling verwandelt und er sich den Wildgänsen anschließt, machen ihn die vielen Abenteuer bei den Tieren zu einem guten Menschen. Am Schluss revanchiert er sich dafür, zum Lohn wird er in einen Menschen zurückverwandelt.
Die Autorin
Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf (* 20. November 1858 auf Gut Mårbacka in der heutigen Gemeinde Sunne, Värmland, Schweden; † 16. März 1940 ebenda) war eine schwedische Schriftstellerin. Sie ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen des Landes und gehört zu den schwedischen Autoren, deren Werke zur Weltliteratur zählen. 1909 erhielt sie als erste Frau den Nobelpreis für Literatur.
Ein sehr bekanntes Werk Lagerlöfs ist „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“, das sie 1906 schrieb. (Quelle: Wikipedia)
Der Sprecher/Die Inszenierung
Die Rollen und ihre Sprecher:
Erzähler: Roland Hemmo
Nils Holgersson: Henri Färber
Holger Nilsson: Frank Gustavus
Alma Nilsson: Reinhilt Schneider
Wichtelmännchen: Sven Plate
Akka: Dagmar von Kurmin
Martin: Jan Panczak
Daunenfein, die Graugans: Uschi Hugo
Asa: Sophia Abtahi
Klein-Mats: Mathis Färber
Vater: Dietmar Wunder
Hahn: Patrick Roche
Katze: Antje von der Ahe
Majros: Monika Barth
Smirre, der Fuchs: Stefan Kaminski
Storch Ermenrich: Friedrich Georg Beckhaus
Sirle, das Eichhörnchen: Matti Klemm
Kranich: Michael Deffert
Rotkopf, die Kuh: Eva-Maria Werth
Hund: Sascha Rotermund
Tiere: Sabine Arnhold, Marie Bierstedt, Stephan Bosenius, Marc Gruppe und Luisa Wietzorek
Regie führten Marc Gruppe, der auch das Skript schrieb, und Stephan Bosenius, die Produzenten. Die Aufnahme erfolgte in den Planet Earth Studios und bei Kazuya. Die Titelillustration stammt wie immer von Firuz Askin. Die Musik wurde entliehen bei Edvard Grieg, Anton Dvorak, Sergej Prokofjew und anderen Komponisten.
Handlung
Der 14-jährige Nils Holgersson spielt auf dem Bauernhof seiner Eltern in Schonen allen Tieren und Menschen nur dumme Streiche. Und er will auch nicht zur Kirche gehen. Als er sonntags daheim bleibt, damit er dort die Predigt lernt und das Evangelium liest, entdeckt er in der Truhe seiner Mutter ein Wichtelmännchen. Er packt es und lässt es erst frei, als es ihm Geld verspricht. Sobald er es losgelassen hat, verschwindet es – nicht ohne ihn zuvor zu ohrfeigen. Doch er selbst sieht sich alsbald in einem Zimmer voller Riesenmöbel – und im Spiegel ein Wichtelmännchen!
Dafür kann er auf einmal die Sprache der Tiere verstehen. Keines der Tiere auf dem Bauernhof will ihm helfen. Kein Wunder, denn alle haben unter seinen Streichen zu leiden gehabt. Ja, er kann froh sein, wenn ihn nicht die Katze verspeist. Er will aber keine Schelte hören und nichts aus seinen Fehlern lernen. Als eine Schar Wildgänse über den Hof nach Norden fliegt, rufen sie ihn. Zu gerne würde er mit ihnen nach Lappland ziehen und Abenteuer erleben. Er überredet die Gans Martin, ihn auf sich sitzen zu lassen und mit den Gänsen mitzufliegen.
Schon bald keucht und schnauft der fette Martin, der solche Anstrengungen nicht gewohnt ist. Erst am Abend landen die Wildgänse zu einer Rast an einem See. Hier müssen Martin und Nils sich der Anführerin Akka vorstellen. Denn es handelt sich um vornehme Gänse aus bestem Hause, die wissen, was sich gehört. Als herauskommt, dass Nils ein Mensch ist, entsteht entsetzter Aufruhr. Nur weil sich Martin für den Däumling verbürgt, darf er bei ihnen bleiben.
Und das stellt sich als Glück heraus. Die Gänse schlafen auf einer Eisscholle, ebenso Martin und Nils. Doch die Schollen werden von der Strömung ans Ufer getrieben. Dort freut sich bereits Smirre, der Fuchs, auf die fette Beute, die ihm da serviert wird. Er packt bereits Akka am Flügel, als Nils erwacht und der um Hilfe rufenden Gans zu Hilfe eilt. Er packt Smirre am Schwanz und beißt ihm in den Allerwertesten. Nicht fein, aber sehr wirksam: Der Fuchs lässt die Gans los, die das Weite sucht. Nils aber flüchtet sich auf einen Baum, wo er den Fuchs lange warten lassen kann.
Die Gänse sind gerettet, und der Fuchs muss unverrichteter Dinge Abziehen. Doch er schwört dem Däumling bittere Rache. Und so soll es auch kommen …
Mein Eindruck
Noch viele Abenteuer geben Nils Gelegenheit, den Tieren beizustehen und sie vor Schaden zu bewahren. Dafür wird er belohnt, indem er als erster Menschen dem Kranichtanz zuschauen darf. Als er auch zwei Waisenkindern hilft, revanchiert sich deren Vater, indem er Nils‘ Eltern, auf denen ein Schuldenberg lastet, ein Darlehen anbietet. Das wolle diese aber nicht annehmen. Sie wollen viel lieber ihren Sohn zurückhaben. Dieser Wunsch wird ihn zum Glück gewährt.
Dies ist unter anderem eine Geschichte von Schuld, Belehrung und Erlösung, wie es sie um 1904, als die Geschichte spielt, zu Dutzenden gab. Gleich am Anfang lädt Nils jede Menge Schuld auf sich: Er geht nicht in die Kirche (Todsünde), treibt nur Schabernack, faulenzt (noch eine Todsünde), begehrt stattdessen Geld. Keiner Wunder also, dass er bestraft wird.
Auf seinem Flug mit den Gänsen zu den Tieren des Waldes bekommt er es mit einem fiesen Feind zu tun: mit Smirre, dem Fuchs. Der Fuchs hat nämlich auch viele Freunde, so etwa den Otter, das Wiesel und den Marder. Sie alle bereiten Nils und seinen Gänsefreuden eine harte Zeit. Doch Nils lernt: Hilfst du mir, helf ich dir. Ein Höhepunkt seiner guten Taten besteht in der Verteidigung einer Burg, auf der friedliche Tiere von grauen Wanderratten angegriffen werden. Er tritt als Rattenfänger von Hameln auf und lockt die ungebetenen Gäste fort.
Nachdem er noch viele Male bewiesen hat, dass er das Herz auf dem rechten Fleck hat, muss er aber auch auf dem Hof seiner Eltern nach dem Rechten schauen. Er will jedoch nicht als Wichtel auftreten und um Hilfe flehen. Er muss ein paar Bedingungen erfüllen, bevor die göttliche Gnade ihn wieder zur richtigen Größen zurückkehren lässt – und er ist sogar größer als zuvor.
Die Rolle der Natur
Das Bemerkenswerte an dieser Geschichte, die sie zu einem Dauerbrenner unter den Kinderbüchern macht, ist die besondere Rolle der Natur. Sie spielt die Lehrmeisterin für den Sünder, nicht etwa irgendwelche Prediger aus der Stadt, auch nicht Angehörige einer Kirche. Die Natur ist die Kirche für den Sünder, und sie führt ihn auf den rechten Weg zurück.
Damit das klappen kann, muss Nils erst einmal so klein und so verletzlich werden wie eines der Tiere, die seine Freunde und Helfer werden sollen. Er kann genauso gut ein Opfer des Fuchses werden wie eine Gans. Er ist also Teil einer natürlichen Notgemeinschaft, er steht nicht darüber. Dafür muss er aber erst einmal beweisen, dass er keiner von den schießenden, fangenden und schlachtenden Menschen ist, die den Gänsen und ihren Freunden nachstellen.
Das lernt er auf die harte Tour, so etwa durch Smirre, den Fuchs, und Sirrle, das Eichhörnchen, das ihn erst ablehnt, ihm dann aber zu Dank verpflichtet ist. Schließlich hilft Nils den Tieren, wo er kann, so etwa Daunenfein, der Graugans, in die sein Freund Martin ganz verschossen ist: Er renkt ihr den Flügel wieder ein.
Tod und Not sind überall, und schließlich muss Nils mehrfach den Tieren zu ihrem Recht verhelfen. Das ist die wichtigste Lektion: dass Tiere überhaupt so etwas wie Rechte haben. Und so kann er es schließlich auch mit Smirre, seinem Todfeind, aufnehmen. Er ist auch innerlich gewachsen.
Der Sprecher/Die Inszenierung
Viele der Sprecher, das liegt nahe, müssen wie Tiere sprechen, doch das tun sie zum Glück mit viel Begeisterung und Engagement. So beeindruckte mich etwa die Hofkatze, die dem kleinen Nils am liebsten den Garaus machen würde, durch ihre hinterlistige Ausdrucksweise. Akka, die Gänseanführerin, wird von Dagmar von Kurmin, einer Veteranin der Hörspiele (vgl. die „Anne“-Serie), würdevoll und freundlich verkörpert. Akkas jüngere Kusinen sind da wesentlich flatterhafter.
Ermenrich, der Storch, erscheint als betagter Herr, der auf seine alten Tage so viel Aufregung durch die Wanderraten nicht verdient hat. Und schließlich Smirre, der Fuchs: Er ist ein Ausbund an Gier, Hinterlist und rachelüsterner Bosheit, hervorragend gesprochen vom vielseitigen Stimmwunder Stefan Kaminski.
Geräusche
Die Zahl der Geräusche ist sehr vielfältig, doch nie zufällig, denn stets passen sie zur jeweiligen Szene. Die Eingangsszene auf dem Bauernhof ist natürlich die komplexeste, was die Akustik angeht, doch es kommt kein Durcheinander auf. Der Zug der Gänse naturgemäß eher eine lineare Abfolge von akustischen Szenen, die aber durchaus auch aufregend werden können, wie der Kampf mit dem Fuchs belegt. Flintenschüsse, Gewitterdonner und mehr bilden entsprechende Kontrapunkte.
Die Musik
Die Musik wurde entliehen bei Edvard Grieg, Anton Dvorak, Sergej Prokofjew und anderen Komponisten. So bekommen wir verschiedene Sätze aus Griegs Peer Gynt Suite zu hören, aus Dvoraks 9. Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ und schließlich einige Leitmotive aus Prokofjews Musikmärchen „Peter und der Wolf“. Darüber hinaus erklingen dramatische, heitere oder romantische Stücke, die ich nicht zuzuordnen vermag. Stets unterstreicht die Musik eine bestimmte Stimmung für die jeweilige Szene. Bei heftigen Dialogen schweigt sie jedoch.
Das Booklet
Im Booklet sind alle Rollen und Sprecher aufgelistet. Zudem findet sich Werbung für die 20-teilige ANNE-Serie und andere Weihnachts-Hörspiele.
Unterm Strich
„Nils Holgersson“ ist nicht nur eine Abenteuergeschichte für Kinder, im Gewand eines Tiermärchens, sondern auch eine lehrreiche Erzählung von der Läuterung eines jungen Sünders zu wahrhaft christlichem Denken und Fühlen, nämlich Nächstenliebe. Dabei muss man gar nicht wie der Held 14 Jahre alt sein, sondern kann das Geschehen schon mit sechs Jahren verstehen (der Verlag gibt keine Altersempfehlung ab).
Bemerkenswert ist an Selma Lagerlöfs Roman aber, dass kein Prediger oder ein Märchen à la Dickens oder Andersen den Sünder bekehrt, sonder die Natur und ihre Vertreter. Sie stellt den Helden auf die gleiche Stufe wie die Tiere, und das ist ein wahrhaft ökologischer Grundsatz. Es wundert uns Heutige daher nicht, dass am Schluss der Wunsch der Tiere geäußert wird, dass die Menschen ihnen Lebensraum übriglassen – ein Plädoyer für Naturschutzgebiete, das nicht später hätte kommen dürfen. Etwa zur gleichen Zeit wurde in den USA mit dem Yellowstone Park das erste Naturschutzgebiet überhaupt eingerichtet. Insofern war Lagerlöf genau auf der Höhe ihrer Zeit.
Das Hörspiel
Die akustische Umsetzung mit orchestraler Musik, realistischen Geräuschen und zahlreichen SprecherInnen für die Tier- und Menschenrollen verrät Professionalität, Begeisterung und Sorgfalt im Detail. Die 80 Minuten Maximalkapazität einer CD werden voll ausgenützt. Nie wird der Dialog oder der Erzähler von Geräuschen oder Musik verdeckt. Zwar sind Kürzungen zu bemerken, doch sie betreffen nur Nebenschauplätze, nicht den Fortgang der inneren Entwicklung des jungen Helden. Jedes Kind ab sechs Jahren, der schon mal Tiere auf dem Bauernhof und im Wald gesehen hat, sollte die Handlung verstehen können.
So ist auch dieses Weihnachtsmärchen-Hörspiel eine rundum gelungene Sache. Allerdings muss es seine Position auf einem überfüllten, hart umkämpften Markt behaupten, auf dem man es leider leicht übersehen kann.
1 CD ca. 79 Minuten
Hörspiel von Marc Gruppe
Besprochene Auflage: 2011
ISBN 978-3-7857-4478-9
www.titania-medien.de