Sterling E. Lanier – Hieros Reise

Viele Jahre nach der atomaren Apokalypse begibt sich ein Kriegermönch auf eine lange Reise, um nach den Geheimnissen der Vergangenheit zu forschen. Begleitet von einige Gefährten sowie verfolgt von finsteren Feinden, stößt er in eine radioaktiv veränderte Welt voller Wunder und grässlicher Gefahren vor … – An Tolkiens „Herr der Ringe“-Epos angelehntes aber eigenständiges SF/Fantasy-Abenteuer, das durch den unerhörten Einfallsreichtum des Verfassers und sympathische Hauptfiguren fesselt: ein Klassiker, den jeder Phantastik-Leser kennen sollte!

Das geschieht:

Anno 7476 sind seit dem „Heißen Tod“ – dem III. Weltkrieg – fünfeinhalb Jahrtausende verstrichen. Die Zahl der Menschen ist gering, kleine Siedlungsverbände verteilen sich über die riesige Landfläche Nordamerikas, die vor allem im Gebiet der ehemaligen USA noch immer von radioaktiven Wüsten und Großstadtruinen markiert wird, in denen durch Strahlung oder biologisch-chemische Waffen mutierte Ungeheuer hausen.

Das ehemalige Kanada blieb von den Bomben weitgehend verschont. Hier ist die katholische Kirche als Ordnungsmacht aktiv geworden. Ein Netz von Abteien sorgt für eine überregionale Verwaltung. Mönche bemühen sich um die Mehrung des Wissens und erforschen den Kontinent – eine gefährliche Tätigkeit, denn mächtige Feinde haben sich gegen die Kirche verschworen: Die Führer der „Schwarzen Bruderschaft“ setzen ihre magisch anmutenden Fähigkeiten sowie schreckliche Verbündeten ein – „Unreine“ und Lemuts, intelligente und zur Riesengröße herangewachsene Tiere, die den Menschen nur Hass entgegenbringen.

Um dem Klammergriff des Gegners zu entkommen, sucht der Abtei-Rat sein Heil in den Erkenntnissen der versunkenen Vergangenheit. Weit entfernt im Südosten soll es gewaltige Wissensspeicher geben, die man „Computer“ nannte. Kundige Waldläufer werden ausgesandt, um dieses Wissen zu bergen. Unter ihnen ist Per Hiero Desteen, der sich gut bewaffnet und mit seinem intelligenten Reittier, dem Riesenelch Klootz, auf die Mission begibt. Der abenteuerlustige Bär Gorm, die vor einer erzwungenen Ehe geflohene Königstochter Lucare und der Öko-Mönch Aldo schließen sich ihnen an. Gemeinsam begeben sie sich auf eine lange, gefährliche Reise. Immer wieder treffen sie auf seltsame Kreaturen, und auch die Schergen der Bruderschaft sind ihnen hart auf den Fersen …

Neue Welt mit alten Fehlern

„Post Doomsday“-Geschichten sind so zahlreich, dass sie innerhalb der Science Fiction ein eigenes Untergenre darstellen. Es entstand während des „Kalten Krieges“, der seinen Namen der Furcht vor „der Bombe“ verdankt, die ihn jederzeit „heiß“ werden lassen konnte: In den 1950er bis 1990er Jahren belauerten die bis an die Zähne mit Atom- und Wasserstoffbomben bewaffneten Supermächte USA und UdSSR sowie ihre Verbündeten und Trabantenstaaten sich ebenso aggressiv wie angstvoll. Auch wenn sich die Schreckensvision einer Eskalation nicht erfüllte, war die zeitgenössische Erwartung des Ausbruchs eines III. Weltkriegs, den man mit atomaren, biologischen und chemischen Waffen führen und der jeder menschlichen Zivilisation ein Ende setzen würde, keineswegs abwegig.

Literarisch ließ sich problemfrei durchspielen, was in der Realität ‚nur‘ drohte. Gern wurden drastische Apokalypsen als Warnungen formuliert, aber weniger engagierten Autoren bot der Atomkrieg die willkommene Gelegenheit, „tabula rasa“ zu machen und dann eine Erdwelt zu schaffen, in der sie das Sagen hatten.

„Hieros Reise“ ist ein bisschen von beidem. Sterling E. Lanier spart durchaus nicht mit Kommentaren zur Vergangenheit, aber er wertet kaum, sondern stellt vor allem fest. Fünfeinhalb Jahrtausende nach der Katastrophe gibt es durchaus Lichtblicke. Man hat dazugelernt: Hieros Welt ist dort, wo die Menschen leben, keine Wildnis mehr, wird aber nicht ausgeplündert und zerstört. Es gibt eine ordnende Verwaltung, und die Natur- und Geisteswissenschaften werden intensiv gepflegt. Wie im europäischen Mittelalter hat die Kirche die Rolle des Wissensvermittlers übernommen. Ein Netz von Abteien sorgt für die Präsenz einer „Universalkirche“, die sich längst nicht mehr nach Katholiken und Protestanten scheidet. Der Missionsgedanke ist dieser Kirche weiterhin wichtig, aber die Christianisierung wird nicht offensiv betrieben.

Überhaupt wird Toleranz großgeschrieben. Lanier zwingt dies seinen Lesern freilich nie nach Gutmenschenart auf. Hiero, die Hauptfigur, ist ein Nachkomme von Frankokanadiern und Indianern, Lucare eine schwarze Frau. Die Verhandlung wird der Attacke jederzeit vorgezogen. Nicht Waffengewalt, sondern Wissen gilt als Macht, wobei die Technik der Ahnen nicht verteufelt wird. Die Universalkirche differenziert und vermag die positiven Aspekte der versunkenen Zivilisation durchaus zu erkennen.

Die Zukunft ist bunt

Seine Mutanten und Monstren verdanken ihre Entstehung zwar dem „Heißen Tod“, doch wird ihre Schrecklichkeit primär behauptet: Lanier liebt seine Kreaturen eigentlich, die er mit der ihm eigenen Fabulierkunst in die Welt des 8. Jahrtausends setzt. Angst vor Übertreibung kennt er sichtlich nicht und kreiert levithanische Fisch- oder Frosch-Ungetüme, gigantische Pilz-Kolonien oder intelligent gewordenen Faulschlamm. Daran wird deutlich, dass Lanier keinen ‚realistischen‘ Blick auf eine mögliche postatomare Zukunft plant. Für ihn steht das Abenteuer im Vordergrund, das in „Hieros Reise“ durchaus märchenhafte Züge tragen kann bzw. eine breite Schnittmenge mit dem Genre Fantasy besitzt.

Schon das Cover der originalen US-Ausgabe von 1973 deckt die wichtigste Quelle auf, aus der Lanier dabei schöpft, ohne sie allzu intensiv zu imitieren: „As fantastic a chronicle as Tolkien’s The Lord of the Rings“. Das ist einerseits übertrieben und andererseits zutreffend. Natürlich kann „Hieros Reise“ nicht mit der komplexen „Ring“-Trilogie wetteifern. Der Vergleich zielt eher auf das Motiv der „großen Reise“ (Queste), die mindestens ebenso wichtig ist wie ihr Ziel, weil sie für den Reisenden einen Erkenntnis- und Reifeprozess beinhaltet.

Parallelen gibt es außerdem im Stimmungsbild. Lanier wie Tolkien sind an der Wirklichkeit in erster Linie als Rohstoff für ihre Geschichte/n interessiert. In Hieros Welt ist es möglich, dass die „Schwarze Bruderschaft“ Atomkraft, Laserkanonen oder Flugzeuge zum Einsatz bringt, während man sich gleichzeitig der Telepathie zur Verständigung mit intelligenten Elchen und Bären bedient. Viele aufregende Mutationen sind allein Laniers Fantasie entsprungen; die meisten der Riesenwesen, die der Autor entfesselt, würden unter dem eigenen Gewicht hilflos zusammenbrechen.

Was absolut unwichtig ist, denn sie WIRKEN ungemein real – so real wie Tolkiens Ringgeister, Orks oder seinen anderen mythischen Kreaturen, derer sich Lanier für „Hieros Reise“ als ‚Inspiration‘ bediente. Aber auch hier gilt, dass er sich nicht in der Kopie erschöpft. Lanier erschafft eine eigene Welt. Der Leser merkt’s und ist gefesselt. (Wer sich in der phantastischen Literaturgeschichte auskennt, erkennt sicherlich, dass der Verfasser außerdem H. P. Lovecrafts Krötengott Cthulhu und seinen froschgestaltigen Schergen einen Gastauftritt verschafft.)

Figuren zum Fiebern

Dass seit dem „Herrn der Ringe“ einige Jahrzehnte verstrichen waren, macht sich in der Figurenzeichnung bemerkbar. Tolkien fand in seiner Saga keine Rolle für eine weibliche Gestalt, die mehr als statuarisch die weise Herrscherin oder Schwertmaid gab. Sex blieb erst recht ausdrücklich ausgeklammert. Dem mochte Lanier in den 1970er Jahren nicht mehr folgen. Hiero und Lucare sind ein nicht nur im Kampf gegen diverse Monster sehr aktives Paar. Freilich vermag Lanier, immerhin Jahrgang 1927, sich nicht von sämtlichen (zeitgenössischen) Klischees zu lösen. Wieder einmal muss sich die Frau in einen Mann verlieben, der mehr als doppelt so alt ist wie sie, und mit „Typisch-Frau!“-Kalauern geht der Autor nicht sparsam um.

Hiero ist nicht Frodo, denn er ist für die Mission, auf die man ihn schickt, perfekt ausgebildet. Über die erste Jugend ist er hinaus und wirkt anfänglich sogar etwas träge, was seiner Kampfkraft keinen Abbruch tut. Ein wenig Hippie ist er auch bzw. bedient sich diverser „New Age“-‚Kenntnisse‘; u. a. wirft er Bildsymbole und liest daraus die Zukunft (was aber – hier ist Lanier erfrischend ehrlich – meist erst nachträglich klappt).

Einen Gandalf gibt es allerdings: Bruder Aldo schlüpft ein wenig zu deckungsgleich in dessen Haut und mimt leutselig die mächtige und notorisch jedes klare Wort vermeidende Lichtgestalt einer prähistorischen Gemeinschaft, die man „ökologisch“ könnte. Mit den „Elfern“ spiegelt „Hieros Reise“ einmal mehr seine Entstehungszeit wider. Fast zeitgleich mit der Angst vor der Bombe erwachte auch in den USA ein Bewusstsein für die Notwendigkeit des Umweltschutzes. (Greenpeace wurde 1971 gegründet.)

Die „Schwarze Bruderschaft“ ist nicht nur die klassische Verkörperung des Bösen, sondern verkörpert die Fehler einer Vergangenheit, die den „Heißen Tod“ auslöste. Ihre Mitglieder nutzen die neu entdeckte Technik ausschließlich eigennützig, selektieren ihren Wissensdrang bzw. konzentrieren ihn auf die Entwicklung von Waffen. Was genau sie eigentlich wollen, kann oder will Lanier nie deutlich sagen. Sie scheinen vor allem unbelehrbar zu sein, was ihr Primärfehler ist: Im Zeitraffer steuern sie auf einen neuen „Heißen Tod“ zu.

Als Nebenfiguren lässt der Verfasser Klootz, den Elch, und Gorm, den Bären, auftreten. Menschenkluge Tiere sind stets beliebte Figuren; ihren Unterhaltungswert bestreiten sie u. a. aus den (von Lanier schlüssig konstruierten und humorvoll dargestellten) unterschiedlichen Auffassungen, mit der Mensch und Tier die scheinbaren Selbstverständlichkeiten einer miteinander geteilten aber differenziert definierten Welt erleben.

In seiner Mischung aus simplem aber solidem Plot und fesselnder Handlung sowie durch seinen getragenen, aber nie in die vordergründige Tümelei allzu ehrgeiziger Fantasy verfallenden Tonfall hat sich „Hieros Reise“ seinen Rang als zeitloser Klassiker der Phantastik verdient. Der Kultstatus dieses Romans wurde nicht durch die Werbung behauptet, sondern hat sich eigenständig entwickelt und deshalb Bestand bis auf den heutigen Tag. Damit gesellt sich dieses Werk hierzulande zu den vielen, vielen Büchern, die sich eindringlich für eine Neuausgabe empfehlen!

Autor

Sterling Edmund Lanier wurde am 18. Dezember 1927 in New York City geboren. In den späten 1940er Jahren studierte er in Harvard Englische Sprache und Literatur. Nach seinem Examen zog Lanier 1951 in den Koreakrieg. 1953 in die USA zurückgekehrt, nahm er an der University of Pennsylvania ein weiteres Studium der Fächer Anthropologie und Archäologie auf.

Seine lebenslange Liebe zur Phantastik pflegte Lanier ab 1961 als Redakteur im Dienst von „Chisholm Books“. Gegen große Widerstände glückte ihm hier eine verlegerische Großtat, als er sich 1965 leidenschaftlich für die Veröffentlichung von Frank Herberts Meisterwerk „Dune“ (dt. „Der Wüstenplanet“) einsetzte.

Selbst war Lanier 1962 mit der Kurzgeschichte „Join Our Gang“ als Schriftsteller tätig geworden. In den nächsten Jahren erschienen Kurzgeschichten in diversen Magazinen; sie spielten oft die Konfrontation der Realwelt mit dem Phantastischen durch und bilden einen lockeren Zyklus von Erlebnissen des abenteuerlustigen Brigadiers Donald Ffellowes.

Lanier war ein Bewunderer von J. R. R. Tolkien. Zur „Ring“-Trilogie schuf er in den 1950er Jahren verschiedene Skulpturen, die große Aufmerksamkeit erregten und auch Tolkiens Gefallen fanden. Das große Vorbild klingt auch in Laniers Hauptwerk immer wieder an: „Hiero’s Journey“ (1973; dt. „Hieros Reise“) ist eine Queste in Stil und Stimmung der „Ring“-Mission, bleibt dabei aber stets eigenständig und gilt als Klassiker der modernen Fantasy. (Auf den 1983 erschienenen Nachklapp „The Unforsaken Hiero“, dt. „Der unvergessene Hiero“, trifft dies leider überhaupt nicht zu.)

Sein schriftstellerisches Werk blieb schmal, und schon in den 1980er Jahren wurde Lanier, der im Alter nach Sarasota, Florida, umzog, als Autor nicht mehr aktiv. Am 28. Juni 2007 ist er 79-jährig gestorben.

Taschenbuch: 444 Seiten
Originaltitel: Hiero’s Journey (New York : Bantam Books 1973)
Übersetzung: Yoma Capp
Cover: C. A. M. Thole
http://www.randomhouse.de/heyne

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