Justine Larbalestier – Magische Töchter (Cansino-Trilogie 1)


„Smallville“ in Sydney und New York

Seit die 14-jährige Reason Cansino denken kann, ist sie mit ihrer Mutter Sarafina auf der Flucht vor den dunklen magischen Ritualen, die angeblich von ihrer Großmutter Esmeralda praktiziert werden. Als sie in Sydney vom Jugendamt ins Haus Esmeraldas gesteckt wird, traut sie sich nicht, irgendetwas zu essen oder zu lesen – es könnte ja magisch verseucht sein.

Als sie jedoch mit einem gestohlenen Schlüssel die magische Hintertür von Esmeraldas Haus öffnet, steht sie plötzlich in einer tief verschneiten Stadt statt im Hochsommer Sydneys. In dieser Stadt, die sich als New York City entpuppt, erfährt sie etwas Schicksalhaftes: Magie gibt es wirklich. Sie ist gefährlich und sie kann töten. Denn ein gewisser Jason Blake ist hinter ihr her, um ihre unverbrauchten Magiereserven anzuzapfen …

Die Autorin

Justine Larbalestier ist im australischen Sydney geboren, wo sie bis heute lebt. Mit ihren Eltern, zwei Anthropologen, zog sie mehrfach für einige Zeit in andere Gegenden Australiens, u. a. zu den Aborigines in den nördlichen Territorien (also bei der Stadt Darwin). Mit ihrem Mann, dem amerikanischen Sciencefiction-Autor Scott Westerfeld („Weltensturm“, „Midnighters“, „Uglies – Pretties – Specials – Extras“), reist sie gern und häufig nach New York City.

Die Cansino-Trilogie:

1) Magische Töchter (Magic or Madness, 2005; dt. Mai 2008)
2) Magische Spuren (Magic Lessons, 2006; dt. Juli 2008)
3) Magische Verwandlung (Magic’s Child, 2007; dt. September 2008)

Mehr Info: https://www.justinelarbalestier.com/ (geprüft)

Handlung

Die Region um die Großstadt Sydney ist Neuland für Reason Cansino. Die 14-Jährige ist im australischen Busch aufgewachsen, als die Tochter der Weißen Sarafina Casino und eines Aborigine. Nie lebten sie und ihre Mutter länger als ein paar Monate an einem Ort, dann ging es schon wieder weiter, angeblich um sich vor ihr Großmutter Esmeralda in Sicherheit zu bringen. Doch nun tritt der GAU ein: Ihre Mutter erleidet einen Nervenzusammenbruch und das Jugendamt steckt Reason in das Haus ihrer Großmutter.

Das Haus, das im Vorort Newtown steht, sieht zwar wunderschön aus und auch Reasons Gästezimmer wirkt einladend, doch das Mädchen hört lieber auf die Warnungen seiner Mutter statt auf die verlockenden Angebote der Großmutter. Sie isst und trinkt nichts, das man ihr offeriert. Die Frau sieht aus wie dreißig – wie könnte sie da ihre Oma sein, fragt sich Reason. Immer wenn sie in Panik oder Zorn zu geraten droht, so hat ihre Mutter sie gedrillt, nimmt Reason Zuflucht zur Mathematik.

Diese besteht aus logischen Mustern, denn eine Zahl ergibt sich aus der vorhergehenden, ganz besonders Fibonacci-Zahlen. Dabei ergeben die zwei vorhergehenden Zahlen jeweils die nächste, und die Additionen kann Reason bis zur 40. oder 50. Stelle auswendig bestimmen. Sie wundert sich nie über diese Fähigkeit, denn sie hat keine Vergleichsmöglichkeit gehabt. Fibonacci-Zahlen zeigen sich auch in den Spiralen des Ammoniten, der Reasons Glücksstein ist.

Tom

Tom ist der erste andere Mensch, der sich über Reasons Namen wundert. Reason, das bedeutet doch Vernunft. Wie kann jemand ein Mädchen so nennen? Reason könnte ihm erklären, dass es mit der Furcht ihrer Mutter vor der Magie ihrer Großmutter zu tun hat, aber dann müsste sie zugeben, dass es Magie gibt, und das wiederum verstieße gegen das, was Mutter ihr eingetrichtert hat. Also hält sie die Klappe. Aber mit Tom kann sie sich trotzdem anfreunden, denn er redet die ganze Zeit unbefangen mit ihr, außerdem zeigt der gleichaltrige Junge ihr seine Entwürfe für Modedesign. Leider hat Reason in diesem speziellen – und vielen anderen – Punkt null Ausbildung genossen. Sie staunt und schweigt. Deshalb erfährt sie auch nichts von seinem eigenen Geheimnis …

Am nächsten Tag zeigt er ihr den alten Friedhof von Newtown. Dort erhebt sich ein gruftartiges Denkmal, in dem alle Namen von Cansinos eingelassen sind, die hier je starben. Aufgrund ihrer Mathebeherrschung checkt Reason sofort, dass sich ein auffälliges Missverhältnis zwischen toten Frauen und Männern zeigt – die Frauen überwiegen ganz eindeutig. Und diese Frauen starben fast alle zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr. Was mag sie wohl so früh unter die Erde gebracht haben, fragt sich Reason.

Als sie ihre schwer sedierte Mutter in der Klinik besucht, verrät diese ihr auf schauerliche Weise ein Versteck im Keller von Esmeraldas Haus. Was sie dort findet, ist eine tote Katze – ohne Zweifel wurde dem armen Tier bei einem abscheulichen magischen Ritual die Kehle durchgeschnitten. Ohne zu zögern bereitet Reason ihren Ausbruch vor. Doch zuvor will sie noch den Schlüssel zur Hintertür probieren. Den hat sie in einer abgeschlossenen Schreibtischschublade gefunden und an sich genommen. Als sie durch die Hintertür tritt, zu welcher der Schlüssel exakt passt, ist sie so überrascht, dass sie kaum merkt, wie die Tür wieder hinter ihr zufällt.

Jenseits der Tür

Der Ort, an dem sie sich nun befindet, unterscheidet sich radikal vom Sydney des Hochsommers. Hier – wo auch immer dieses ‚Hier‘ sein mag – ist es Nacht, Schnee fällt (was sie zum ersten Mal sieht) und – bibber! – es ist saukalt! Benommen lässt sie sich einen Mantel geben und Stiefel an die unbekleideten Füße ziehen. Das Mädchen, das ihr so das Leben rettet, nennt sich Jay-Tee und nimmt sie bei sich in seiner schönen Wohnung auf. Reason ist viel zu benommen und ahnungslos, um misstrauisch darüber zu werden, wie sich ein junges Mädchen eine solche Wohnung leisten kann. Dass die Fenster alle vergittert sind, merkt sie erst später.

Als Jay-Tee beim Essen im Restaurant mit Geld bezahlt, das sie aus ihrer Handfläche hervorzaubert, merkt Reason, dass an diesem Ort namens „East Village“ Magie funktioniert. Au weia! Ist sie jetzt vom Regen in die Traufe geraten? Sofort bemüht Reason wieder die Fibonacci-Zahlen oder Fibs, wie sie diese abkürzt. Das beruhigt ihre Nerven und erlaubt ihr, ein paar Fragen zu stellen. Auf einem Hausdach kapiert sie auch, wo sie gelandet ist: in New York City, einer magischen Stadt.

Jason Blake

Während sich Tom, Esmeraldas Zauberlehrling, und die Hexe auf die Suche nach der verschwundenen Reason machen, lernt diese den Hausherrn Jay-Tees kennen. Jason Blake ist ganz in Schwarz gekleidet und sieht ziemlich vornehm aus. Aber dass er von Reason einen „kleinen Gefallen“ für das Obdach erwartet, das er ihr gewährt hat, macht Reason ein wenig misstrauisch. Sie hütet sich, jemals ja zu sagen, denn davor hat Mami sie gewarnt.

Beim Abendessen in einem vornehmen Restaurant direkt am Times Square enthüllt Jason Blake seine wahren Pläne. Die inzwischen vom Champagner beschwipste Reason merkt kaum, wie sich ihr die Gefahr nähert, die von Jason Blake ausgeht. Als er sagt, er wisse von Sarafina und Esmeralda Cansino, sperrt sie überrascht den Mund auf. Und wie Esmeralda und übrigens auch Reason verfüge er über gewisse magische Fähigkeiten. Nur müsse er seine magische Kraft ab und zu „auffrischen“. Ob Reason wohl so freundlich wäre, sich zu revanchieren und ihm etwas von ihrer magischen Kraft abzugeben? Schließlich sei er ja ihr Großvater …

Mein Eindruck

Die Erzählung ist geschickt angelegt, denn sie spielt mit dem Wissen und Nichtwissen der jeweiligen Figuren. Dadurch erfährt der Leser immer nur das für den Moment Notwendige, aber nie mehr, so dass stets die Erwartung von weiteren Enthüllungen aufrechterhalten wird. Die Spannung reicht fast bis zum Schluss. Die Hauptfigur Reason erlebt die Welten Sydney und New York City gleichermaßen unschuldig und ahnungslos, aber stets voreingenommen. Jay-Tees Erleben erfahren wir ebenso subjektiv wie das von Tom Yarbro, dem Modedesigner. Zusammen ergibt sich eine Wirklichkeit, die normalerweise eine Menge Ironie bereithalten würde, die auf Kosten Reasons ginge. Erstaunlicherweise wird dieses Potenzial nicht umgesetzt.

Stets werden die Sympathie und das Mitgefühl für Reason aufrechterhalten, selbst dann noch, als sich zeigt, wie Jay-Tee sie belogen hat, um Jason Blakes Auftrag zu erfüllen: Reason ihm zuzuführen, damit er deren Magie anzapfen kann. Auf den erwachsenen Leser mag dieses Missverhältnis zwischen Wahrheit und Erleben ein wenig verwunderlich und amüsant wirken, doch da dies eine Art Superman-junior-Welt à la „Smallville“ ist, schrammt die Handlung haarscharf an solcher Ironie vorbei. Vielmehr entwickelt sich Jay-Tee, die anfängliche Verräterin, zu Reasons Freundin und Verbündeter gegen Jason Blake. Und obwohl Tom ihr seine magischen Fähigkeiten verschwiegen hat, betrachtet Reason ihn immer noch als ihren Freund.

Die Kardinalfrage ist für den Leser jedoch, worin denn nun die magische Fähigkeit besteht, mit der Reason laut Angabe ihres Großvaters geboren wurde. Dass sie gut in Mathe ist und unglaublich schnell zählen kann, gilt ja nicht unbedingt als Magie, denn bestimmte Autisten können dies ebenfalls. Reason macht selbst gewisse Andeutungen: Sie habe einen Jungen auf dem Gewissen, der sie begrabschen wollte, als sie zehn Jahre alt war und im Busch lebte. Hat sie dabei eine verborgene Fähigkeit eingesetzt, fragt sie sich – und fürchtet sich gleichzeitig vor der Antwort.

Das letzte Viertel des Buches bringt die Krise und führt die Handlung zu einem Showdown zwischen Esmeralda und Jason Blake. Die Krise tritt zwischen ihrer Enkelin und Jason Blake ein. Als Reason ihre schreckliche magische Kraft mit voller Stärke enthüllt, kann nur das Eingreifen Jay-Tees verhindern, dass sich Reason sich selbst und Jason dabei umbringt. Würde sich Reason ganz verausgaben, so wäre dies ihr Ende – und vor diesem vorzeitigen Tod wollte ihre Mutter sie bewahren, die ja um das Schicksal der Cansino-Frauen weiß. Ich werde hier nicht verraten, worin denn nun Reasons Fähigkeit besteht, aber sie ist auf jeden Fall bewundernswert und furchteinflößend.

Wie der Originaltitel bereits andeutet, steht Reason am Scheideweg zwischen „Magie“ und „Wahnsinn“. Die Magie war ihr bislang verboten, doch sie nicht einzusetzen, führt, wie bei ihrer Mutter, zum Wahnsinn. Der einzige Weg zu Reason = Vernunft führt über die Ausbildung durch die angebliche Hexe Esmeralda. Diese hat natürlich einiges zu erklären. Zum Beispiel, warum sie mit 48 Jahren noch so aussieht, als wäre sie erst dreißig. Und wie die tote Katze in ihren Weinkeller kommt …

Die Übersetzung

Weil die Autorin aus Australien kommt, setzt sie als bekannt voraus zu wissen, was der „Uluru“ ist. Den erwähnt sie zweimal. Die Übersetzerin hat (jedenfalls in meinem Leseexemplar) diesen Namen einfach stehengelassen. Früher war dieser Riesenstein als Ayer’s Rock bekannt, nur die Aborgines nennen ihn Uluru. Auch was „Ta“ bedeutet, erfahren wir nicht. Es ist der umgangssprachliche englische Ausdruck für „Danke“. Ist natürlich in Amerika völlig unbekannt und ungebräuchlich. Der Leser muss sich die Bedeutung selbst erschließen, denn eine Fußnote erklärt den Begriff nicht.

Die Übersetzerin hat sich bemüht, den Jugendjargon ins Deutsche zu übertragen. Zusätzlich musste sie die Unterschiede zwischen amerikanischem und australischem Englisch deutlich machen. Meistens ist ihr dies gut gelungen. Allerdings dürfte sich der deutsche Leser fragen, was denn der große Unterschied zwischen „Gehweg“ und „Gehsteig“ sein soll? In den Ursprungssprachen entsprechen dem die zwei völlig verschiedenen Wörter „pavement“ (GB) und „sidewalk“ (USA). Es ist vielleicht eine Bemerkung wert, dass sich keinerlei Druckfehler finden ließen.

Unterm Strich

Ich habe diesen unterhaltsamen Jugendroman in wenigen Stunden gelesen. Die Schrift ist groß, die Sätze sind einfach gehalten, die Handlung ist leicht verständlich und doch spannend. Neben den Szenen, die sich um die Magie drehen (siehe oben), schildert der Roman auch einen doppelten Culture Clash: den zwischen Eingeborenen und Weißen sowie den zwischen Australiern und Amerikanern, zwischen Sydney und New York City. Darin drückt sich die eigene Erfahrung der Autorin aus, die aus Australien stammt und New York mehrmals besucht hat, und sie weiß deshalb solche Szenen anschaulich und amüsant zu schildern.

Am Schluss des Romans bleiben einige Fragen offen, so etwa nach der Familienverbindung zu Jason Blake, zu der Verbindung nach New York (warum nur diese Stadt? Gibt es noch weitere Verbindungen?) und ob es Reason gelingen wird, den Wahnsinn zu vermeiden und ihre Magie zum Wohl ihrer selbst und ihrer Mitmenschen einzusetzen. Man darf also gespannt sein. Und Vierzehnjährige dürften die Abenteuer Reasons besonders interessieren, schlägt sie sich doch mit allen Problemen herum, die mit der Pubertät einhergehen.

Originaltitel: Magic or Madness; Razorbill 2005
320 Seiten
Aus dem australischen Englisch von Kattrin Stier

http://www.cbj-verlag.de,
http://www.justinelarbalestier.com

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