Laurie R. King – Das Moor von Baskerville [Mary Russell/Sherlock Holmes 4]

Unterstützt von Mary, seiner jungen Gattin, kehrt Meisterdetektiv i. R. Sherlock Holmes ins Dartmoor zurück, wo erneut ein Geisterhund sein Unwesen treibt … – Stimmungsvolle aber arg in die Länge gezogene und als Kriminalroman schlecht funktionierende Neuauflage der um Klassen besseren Originalgeschichte, der die Verfremdung der männlichen Hauptfigur erst recht nicht bekommt.

Das geschieht:

Dreieinhalb Jahrzehnte sind verstrichen, seit Meisterdetektiv Sherlock Holmes – damals noch unterstützt vom treuen Dr. Watson – das Rätsel um den Geisterhund der Baskervilles lüftete, der im tiefen Dartmoor sein unheimliches Dasein fristete. Recht irdische Bosheit war damals hinter dem Spuk zum Vorschein gekommen. Nun, im Jahre 1923, ist der Hund offenbar zurück; er hat sogar eine Gespenstergräfin mitgebracht.

So berichtet es jedenfalls der hochbetagte Reverend Sabine Baring-Gould seinem Patensohn (!) Sherlock Holmes. Seit Jahrzehnten kennt und liebt der ebenso gelehrte wie eigensinnige Mann das große Dartmoor. Er hat die alten Lieder und Sagen gesammelt und fühlt sich für Land und Leute verantwortlich. Schon ist ein harmloser Moorbewohner auf der Strecke geblieben, und Holmes wird aufgerufen, Schlimmeres zu verhindern.

Den selbst nicht mehr jungen Detektiv zieht es nicht zurück ins Moor. Weil er sich Baring-Gould verpflichtet fühlt, macht er sich dennoch auf die Reise. Alter und Krankheit fesseln Dr. Watson an den heimischen Herd, aber Holmes hat ja vor zweieinhalb Jahren die junge Mary Russell geehelicht. Sie assistierte ihm schon mehrfach bei seinen Fällen, die er auch als Pensionär hier und da übernimmt.

Im Dartmoor hat man „Snoop Sherlock“ nicht vergessen. Zu seinem Missfallen zeigt auch der neue Herr von Baskerville Hall brennendes Interesse an dem berühmten Gast. Holmes lässt sich darauf ein, weil ihn einige Dinge nachdenklich stimmen. Nachforschungen ergeben, dass die Lebensläufe des reichen Lebemanns Ketteridge und seines Sekretärs Scheiman einige blinde Stellen aufweisen. Das lässt in Holmes die Frage aufkeimen, ob denn der böse Baskerville-Bastard Stapleton einst tatsächlich im Moor versank …

Zu viel Moor, zu wenig Spannung

Es wird rasch deutlich: Mit der ohnehin nicht gerade raffinierten Idee, den Klassiker vom „Hund der Baskervilles“ in aktualisierter Form neu zu erzählen, hat sich der Ideenfluss der Autorin bereits erschöpft. Stimmungsvolle Schilderungen von Natur und Dartmoor-Folklore können nicht verbergen, dass sich dahinter eine recht dürftige (Kriminal-) Geschichte verbirgt. Sherlock Holmes und Mary Russell werden von einem alten Freund mit einem mysteriösen aber recht klar umrissenen Auftrag nach Dartmoor gerufen.

Während Arthur Conan Doyle in seiner Hunde-Mär zweihundert Seiten Tempo und Spannung präsentierte, tritt King auf der Stelle. Weit über die Hälfte des ohnehin recht ausladenden Romans verstreicht, ohne dass irgendetwas Relevantes geschieht. Es kündigt sich auch nichts an; mögliche, manchmal sogar viel versprechende Handlungsstränge verpuffen immer wieder im Nichts.

Natürlich ist es reizvoll, Baskerville Hall nach vielen Jahren wiederzusehen. Doch was nützt es, wenn King diese Kulisse nur stolz vorführt aber nicht nutzt? Stattdessen streift sie eifrig über das Moor und erzählt, was sie sich aus alten Reiseführern angelesen hat. „Das Moor von Baskerville“ soll allerdings ein Kriminalroman sein. Die Verfasserin muss dies ihre Heldin oft wiederholen lassen, sonst würde man es vergessen: kein gutes Zeichen! Allzu pflichtschuldig klappert schließlich das große Finale hinterher; so muss man es nennen, denn der Plot ächzt hier Mitleid erregend sein Restleben aus.

Sherlock Holmes für das weibliche Publikum

Wahrscheinlich ist es politisch unkorrekt sich darüber zu mokieren, dass Sherlock Holmes als verheirateter Mann fortgeschrittenen Alters kaum noch als der Meisterdetektiv zu erkennen ist, den Arthur Conan Doyle uns vorgestellt hat: ein rationaler, gefühlsarmer und – sprechen wir es offen aus – frauenfeindlicher Zeitgenosse.

Zwar versuchte sich King aus der Affäre zu ziehen, indem sie im ersten Band ihrer Holmes/Russell-Serie klar festlegte, dass sich der ‚reale‘ Meisterdetektiv im Ruhestand sehr von der Figur unterscheidet, die einst Dr. Watson schuf und verklärte. Es hilft wenig: Mit seinen Eigenheiten verliert Kings Sherlock Holmes seine Faszination. Nun wirkt er recht seltsam als zurückhaltend liebender Ehegatte, der nebenbei Verbrechen aufklärt. Aber auch als Detektiv kann er nicht mehr beeindrucken. Abgeklärt ist er geworden oder soll es nach dem Willen seiner neuen geistigen Mutter jedenfalls sein. Stattdessen wirkt er abwesend und fremd, zahm und zahnlos, und er wird in den Schatten gestellt von seiner jungen Gattin.

Der weiblichen Leserschaft dürften die folgenden Zeilen wenig behagen, doch das ändert nichts an der Tatsache: Mary Russell ist ein schlechter Ersatz für Dr. Watson. Der damit verbundene Perspektivenwechsel war ein Experiment, das als misslingen beurteilt werden muss. King wird sich der Tatsache wohl bewusst gewesen sein, dass Arthur Conan Doyle einst gute Gründe dafür hatte, Watson so zu gestalten, wie er es tat: als eindeutig zweiten Mann, der kommentiert, bewundert und fragt, um das Licht Sherlock Holmes= auf diese Weise um so heller strahlen zu lassen.

Allzu modern und allzu fremd

So geht das heute natürlich nicht mehr, zumal eine Frau die zweite Hauptrolle spielt. Mary Russell ist eine politisch korrekte Powerfrau, wie sie so ganz gewiss kaum in ihre Zeit passt. Leider lernen wir sie hier erst kennen, nachdem sie ihre schwere Kindheit und Jugend hinter sich gebracht hat, die besonders im ersten Band der Serie breiten Raum einnimmt und der Figur wesentlich mehr Tiefe verleiht.

Nun ist sie eine demonstrativ emanzipierte, sehr selbstbewusste Frau, erfolgreiche Wissenschaftlerin, Jüdin auch noch, aber (manches Klischee wird doch übersprungen) immerhin nicht schwarz; alles lobenswerte Eigenschaften, in deren Nachbarschaft jedoch – es muss wiederholt werden – ein Sherlock Holmes nicht recht gedeiht. Das mag viel bzw. wenig Schmeichelhaftes über ihn aussagen, ändert aber kaum etwas daran, dass die Paarung Holmes & Russell nur funktioniert, wenn man Holmes als Nebenfigur akzeptiert.

Zudem scheint „Das Moor von Baskerville“ über weite Strecken eine verkappte Biografie des Reverend Sabine Baring-Gould (1834-1924) zu sein. Zweifellos war dieser Mann eine faszinierende Persönlichkeit sowie eine der Hauptquellen, aus der Doyle 1901 am tiefsten geschöpft hatte, als er den ersten Hund der Baskervilles über das Moor streifen ließ. Dennoch hätte King ihre Aufmerksamkeit eher den Bösewichten in diesem Spiel widmen sollen. Über weite Strecken glänzen sie durch Abwesenheit; leider setzt sich dies sogar fort, wenn sie anwesend sind. Während Doyles Stapleton-Baskerville Holmes und Watson ein würdiger Gegner war, gehen Kings Ketteridge und Scheiman so plump und durchsichtig zu Werke, dass man sich fragen muss, wieso Holmes und Gattin denn so viel Zeit benötigen, ihnen auf die Schliche zu kommen.

Letztlich muss man sich vor Augen halten, dass Kings Russell-&-Holmes-Serie nicht primär als Historienkrimis, sondern als Historienkrimis für weibliche Leser konzipiert sind. Das macht durchaus einen Unterschied, weil das zwischenmenschliche Element – hier die Beziehung zwischen Holmes und Russell – für dieses Publikum mindestens ebenso wichtig ist wie das eigentliche kriminelle bzw. kriminalistische Geschehen. In dieser Hinsicht mag „Das Moor von Baskerville“ funktionieren, aber dies zu verstehen, überfordert zumindest diesen Rezensenten …

Autorin

Laurie R. King wurde 1952 im Großraum San Francisco geboren. Sie studierte Theologie an den Universitäten von Santa Cruz (Kalifornien) und Berkeley. Mit einem Magister Grad zog sie sich zunächst ins Familienleben und aufs Land zurück, wo sie die nächsten Jahren damit verbrachte, zwei Kinder großzuziehen und ein heillos verfallenes Farmhaus zu renovieren; das dabei erworbene handwerkliche Fachwissen floss in die Figur der Rae Newborn ein und trägt zur Authentizität von „Die Insel der flüsternden Stimmen“ entscheidend bei.

In ihrer Freizeit begann King zu schreiben. „The Beekeeper’s Apprentice“ (dt. „Die Gehilfin des Bienenzüchters“) entstand 1987, wurde aber erst 1994 veröffentlicht und bildete den Auftakt einer Serie historischer Krimis, die den legendären Meisterdetektiv Sherlock Holmes als verheirateten Mann zeigen, der seine Fälle nicht mehr mit Dr. Watson, sondern mit seiner Gattin Mary Russell löst. 1993 erschien „A Grave Talent“ (dt. „Ein Super Talent“/„Die Farbe des Todes“/„Was niemand sieht und niemand weiß“), der erste von insgesamt fünf Thrillern mit den Detectives Kate Martinelli und Alonzo Hawkin von der Mordkommission San Francisco; er trug King den „Edgar Award“ für den besten Romanerstling des Jahres ein, dem umgehend der „Creasey Dagger“ der „England‘s Crime Writer’s Association“ folgte.

Weitere Preise und Nominierungen säumen seitdem Kings Karriere. Zuverlässig erscheint mindestens einen neuer Thriller pro Jahr. Immer dabei sind Sherlock Holmes und Mary Russell, denn die Mischung aus Historienkrimi und Mann-Frau-Seifenoper hat ein breites weibliches Publikum gefunden und wird kontinuierlich fortgesetzt.

Website der Autorin

Taschenbuch: 389 Seiten
Originaltitel: The Moor (New York : St. Martin’s Press 1998)
Übersetzung: Marc Staudacher
http://www.rowohlt.de

eBook: 3487 KB
ISBN-13: 978-3-7325-3618-4
https://www.luebbe.de/bastei-entertainment

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