le Carré, John – Marionetten

Mit dem 11.9.2001 hat sich durch den terroristischen Anschlag auf das symbolträchtige World Trade Center der USA das gesellschaftliche, politische und kulturelle Leben auf immer verändert. Diese Form des besonders radikalen und bis dahin ungeahnt gewaltbereiten Terrorismus hat den westlichen Staaten der Welt gezeigt, dass man sich selbst in behüteter und gut verteidigter Position nicht sicher wähnen kann. Die Frage, die sich nicht nur die Geheimdienste aller Regierungen stellen, ist: Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass 19 junge Islamisten im militärisch stärksten Land der Welt derart koordiniert vier Passagierflugzeuge kapern und auf das Pentagon und die Twin Towers steuern?

Welche enorme logistische Detailplanung dafür notwendig war – Ausbildung der Attentäter zu Piloten, finanzielle Mittel, Gesamtkoordination, aber auch die ideologische Schulung -, ist erschreckend. Erschreckend deswegen, weil trotz der Zusammenarbeit der Geheimdienste verschiedener Nationen einige Täter bekannt waren, aber nicht genug oder nur fahrlässig recherchiert, observiert und informiert wurde. Etwas mehr Kommunikation und Zusammenarbeit hätte vielleicht die Katastrophe verhindern können, bei der über 3000 Menschen den Tod fanden.

Warum war die CIA, der israelische Mossad, der britische MI6 und der deutsche Bundesnachrichtendienst derart machtlos und unvorbereitet? Gab es keine Anzeichen und keine Warnungen von Agenten, die in den al-Qaida- oder anderen Terrorzellen im Untergrund tätig waren?

Nach dem Terroranschlag wurde durch die Bush-Doktrin und dessen Politik ein Präventivkrieg ausgelöst, der auch heute, mehr als sieben Jahre später, in Afghanistan und dem Irak noch kein Ende gefunden hat und sich in weitere Staaten überträgt. Bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen dort, die einen Flächenbrand in Form eines weiteres Religionskrieges auslösen könnten, der schließlich auch Europa erreichen wird.

Viele terroristische Anschläge in den Jahren danach haben die Regierungen, ihre Geheimdienste und das Militär unter eine kalte Dusche gestellt, die wahrlich wachrüttelte. Das Rad der Zeit kann man zwar nicht mehr zurückdrehen, doch kann man die Gegenwart beeinflussen, damit in naher und ferner Zukunft so etwas nicht mehr passieren sollte. Inzwischen sind die Geheimdienste verschiedenster Nationen enger zusammengerückt, um der terroristischen Gefahr entgegenzuwirken, und ein neuer kalter Krieg zeichnet sich ab, in dem einfache Menschen aus dem zivilen Leben nur Marionetten dieser Geheimdienste sind, ebenso wie die Agenten, Spione, Analysten, Diplomaten und andere, aber wer zieht die Fäden in diesem Spiel? Wer lässt die Marionetten nach seinen Spielregeln auf der Bühne tanzen?

John le Carré gibt in seinem zuletzt veröffentlichten Roman „Marionetten“ einen interessanten Einblick in die Schattenwelten der Geheimdienste.

_Handlung_

Issa ist ein sonderbarer Flüchtling, ein Moslem, der nach Hamburg-Altona über verschiedene Stationen gereist ist. Langsam, vorsichtig, fast schon ängstlich folgt der junge Mann Big Melik, einem jungen und aufstrebenden türkischen Boxer, der einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hat. Issa erbittet auf einem Stück Papier, das er dem jungen Türken in die Hand drückt, Obdach. Doch Meliks Reaktion ist zunächst negativ, und er möchte den Jungen am liebsten davonjagen, doch seine Mutter Leyla sieht in dem streunenden Mann Gottes Willen und entspricht mitleidsvoll dessen Wunsch nach einer Bleibe.

Auch Melik bekommt Mitleid und schämt sich für seine barschen Worte, als er die Folternarben auf Issas Rücken erblickt. Issa kann sich kaum verständlich machen, er ist tschetschenischer Herkunft, aber seine Zukunft sieht er schon fest vor sich. Er will Deutsch lernen, möglichst schnell, er möchte Medizin studieren und ein großer Arzt werden, der das Leiden von Menschen mindert. Seine einzigen Habseligkeiten sind ein Päckchen mit 500 recht druckfrischen Dollars und ein auf kyrillisch verfasster Brief. Melik kann darauf nur eine sechsstellige Zahl identifizieren.

Doch Issa ist schon längst einer inoffiziellen Abteilung des Bundesnachrichtendienstes bekannt. Hamburg ist schließlich die Stadt, aus welcher der Attentäter Mohammed Atta zusammen mit einigen anderen aufbrach, um den Vereinigten Staaten zu zeigen, was Terror bedeutet, indem sie das WTC vernichteten und das Pentagon beschädigten. Damit wurde eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, welche die Eskalation nur noch weiter vorantreiben sollte.

Der erfolgreiche schottischer Investment-Banker Tommy Brue macht wenig später ebenfalls Bekanntschaft mit dem mysteriösen Flüchtling Issa. Als Vermittlerin fungiert die ebenso undurchsichtige Annabel Richter, eine Anwältin aus bester Familie. Die sechsstellige Zahl ist der Code für einen Schlüssel zu einem dubiosen Depot, das Brue von seinem ebenfalls im Finanzwesen tätigen Vater geerbt hat. Mit diesen Mitteln soll sich der naive Issa eine Zukunft aufbauen, doch zu welchem Zweck?

Der deutsche Geheimdienst und bald nicht nur dieser hat jetzt nicht nur Issa im Visier, sondern ebenso die türkische Familie, die Juristin Annabel Richter sowie den Investment-Banker Tommy Brue widmet. Alle werden zu Spielbällen der Geheimdienste, die ganz eigene Interessen verfolgen.

_Kritik_

John le Carré, selbst ein früherer Agent des britischen Geheimdienstes, kennt die Verbindungen und Methoden aus eigener Erfahrung und setzt sein spezielles Wissen natürlich gern in seinen Romanen ein. Er ist ein Altmeister der Geheim- und Spionagedienstthriller.

Auch „Marionetten“ weist eine sehr reale Handlung auf, die le Carré in der Gesamtschau spannend, wenn auch mit einigen Längen präsentiert. Seine detailreiche Beschreibung über die Methoden von Agenten, die observieren, recherchieren und analysieren, ist thematisch eindrucksvoll und realistisch beschrieben. Dass Dreh- und Angelpunkte der Terroristenszene wie der Hamburger Hauptbahnhof von Geheimdiensten observiert werden, sich Agenten unter die Passanten mischen und durch Drohung oder Bestechung Informationen erschleichen, wird glaubwürdig dargestellt, gerade wenn man daran denkt, dass Hamburg einige terroristischen Zellen beherbergt(e).

Dabei stellt sich unmittelbar die Frage: Wie viele solcher Aktivitäten und Keimzellen gibt es noch und in welchen Städten? Handelt es sich bei den noch in Deutschland aktiven Zellen um aktive Mitglieder terroristischer Gruppierungen, die Anschläge vorbereiten und ausführen, oder sind es lediglich Mittelsmänner und Informanten, vielleicht gar so genannte Schläfer, die irgendwann aktiv werden, aber bis dahin das biedere Leben durchschnittlicher Bürger innerhalb ihrer sozialen Stellung führen? Genau diese Fragen beschäftigen die Geheimdienste in „Marionetten“. Welchen Geistern jagt man nach, die sich später vielleicht als sehr real und allzu menschlich herausstellen?

John le Carré erzählt in „Marionetten“ sehr plastisch und schildert zynisch die Arbeit der Geheimdienste, die wiederum für Eingeweihte, die ihre Tiefen erforschen, noch viel geheimer und undurchschaubarer wirken können. Eine wahre Karikatur bürokratischer Arbeitsmethodik, der man als Leser gern verfolgen mag.

In der ganzen Handlung ist die Atmosphäre recht bedrückend. Nach wie vor herrscht die Angst vor terroristischen Anschlägen, ebenso bewirkt der Gedanke, dieses erneut nicht früh genug erkennen zu können, einen bitteren Beigeschmack, ebenso wie die Frage, ob diese Situation es wert ist, die Freiheitsrechte einzelner Menschen quasi außer Kraft zu setzen. Was wiegt das Schicksal einer einzelnen Person im Vergleich zum vermeintlichen Wohl eines Volkes in seiner Gesamtheit?

Die Protagonisten sind intensiv und detailreich dargestellt, auch wenn man für wirklich keinem von ihnen sonderliche Sympathie entwickelt. Einzelne Schicksale werden final nicht abgeschlossen und unseren Phantasien und Theorien überlassen – zu vage, wie ich finde. John le Carrés Motivation – und das hat er in diesem Roman auch erfolgreich umgesetzt – war es, den Protagonisten den Status einer Marionette zuzuweisen. Dass jeder Geheimdienst aufgrund der Ereignisse vor sieben Jahren seine eigenen Interessen stärkt und seine Ziel verfolgt, oftmals ohne Rücksicht auf Verluste und unter Inkaufnahme von Kollateralschäden, zeigt Carrés Roman eindrucksvoll und für den Laien absolut nachvollziehbar.

John le Carré rüttelt die Leser wach und nimmt die Rolle des kritisch Fragenden ein: Was ist aus unserer Gesellschaft geworden? Ein Opfer seiner selbst? Sind diese Ereignisse ein Produkt aus Ursache und Wirkung, und wir sind nur aus Versehen in den Unfall verwickelt? Aber zahlen wir dann auch bereitwillig den Preis, selbst wenn er uns zu hoch erscheint? Carrés Dramaturgie ist bestechend und die – im Wortsinne – untergründige Spannung bleibt konstant erhalten, allerdings gibt es keine klar definierten Höhepunkte und das Ende des Romans ist so offen wie der Großteil der Handlung mitsamt ihren Protagonisten.

_Fazit_

„Marionetten“ ist mit Einschränkungen zu empfehlen. Den Leser erwartet kein Roman, der unmittelbar nach 9/11 spielt, sondern eine Handlung in der Gegenwart, auch wenn immer wieder auf die Vergangenheit und ihre Auswirkungen Bezug genommen wird.

John le Carré ist seit vielen Jahren routinierter Autor verschiedener Agenten- und Spionage-Romane. Sein Stil ist dabei unverändert geblieben. Er verfasst komplexe Sätze, liebt die ausführliche Form der Darstellung, die Dialoge seiner Protagonisten sind manchmal verworren und man liest entsprechend die eine oder andere Passage noch einmal, was durchaus ermüdend wirken kann.

Die Spannung und das Interesse an der Handlung und den Personen sind anfangs recht hoch, später allerdings wird dem Leser zunehmend auch klar, dass alle Protagonisten, egal ob nun verdächtig oder nicht, ob nun Geheimdienstler der CIA oder des Bundesnachrichtendienstes, zu verwirrend für eine klare Linie konzipiert sind. Die Botschaft, die uns John le Carré vermitteln will, ist spiegelbildlich und sehr real gezeichnet und konfrontiert uns mit der recht aktuellen politischen und gesellschaftlichen Lage. Welche Macht räumt man den Geheimdiensten noch ein und wer bewegt sich in dieser Schattenwelt? Sind alle Abteilungen eigenverantwortlich oder existieren andere geheimdienstliche Zellen, denen fast jedes Mittel recht ist, um etwaige Verdächtige als Terroristen zu überführen oder eigene Ziele zu verfolgen? Viele Fragen werden aufgeworfen, die der Leser mit sich selbst oder auch mit anderen diskutieren sollte.

„Marionetten“ ist insgesamt ein authentischer Roman mit einer interessanten, durchaus auch spannenden Geschichte, die leider zu viele Längen beinhaltet und am Ende – wohl bewusst – für meinen Geschmack zu viele Fragezeichen hinterlässt.

_Der Autor:_

John le Carré, geboren 1931 in Poole, Dorset, studierte in Bern und Oxford Germanistik, bevor er in diplomatischen Diensten u. a. in Bonn und Hamburg und für den britischen Geheimdienst als Secret Service Agent tätig war. „Der Spion, der aus der Kälte kam“ begründete seinen Weltruhm als Bestsellerautor. Der Autor lebt mit seiner Frau in Cornwall und London.

|Originaltitel: A Most Wanted Man
Aus dem Englischen von Sabine Roth und Regina Rawlinson
366 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-550-08756-1|
http://www.ullstein.de
http://www.johnlecarre.com

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